Im Dschungel der Mittelmäßigkeit
Die Stunde der Stümper. Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören - das neue Buch von Andrew Keen.
Von Florian Michl
Es droht der Niedergang unserer Kultur. Schuld ist das Internet mit seinen nutzergenerierten Inhalten. Behauptet ein amerikanischer Online-Unternehmer und Journalist. Für ihn ist das Web ein digitaler Dschungel der Mittelmäßigkeit, in dem Dummheiten und Halbwahrheiten ungefiltert ihr Publikum finden. Seine Polemik ist jetzt in deutscher Sprache erschienen. / 08.10.08
Keen Cover"Antichrist des Silicon Valley" - so nannten Andrew Keen seine Kritiker: Blogger, Wikipedianer und Journalisten angesehener Zeitschriften. Schon die Wortwahl zeigt, dass es um mehr geht als um eine Kritik am Internet. Sondern um Weltanschauung. Auslöser für die beißende Kritik, die Andrew Keen erntete, war seine Schrift The Cult of the Amateur, die vergangenen Sommer in Amerika erschienen ist. Nun liegt dieses Buch in deutscher Sprache vor. Darin beschreibt der Online-Unternehmer und Journalist, wie das Internet unsere Kultur zerstört. Oder besser gesagt: was er für Kultur hält. Sein Buch ist Polemik pur und soll provozieren. Das gelingt Keen zweifellos. Ohne Bemühen um Differenzierung drischt er auf Blogosphäre, Wikipedianer und Web-2.0-Apologeten ein. Aber nicht nur deshalb hat sein Buch eine Menge Staub aufgewirbelt.
Keens Zorn richtet sich dabei nicht gegen die Technologie selbst, sondern gegen die Gründer und Förderer des Web 2.0. Im Kreuzfeuer seiner Kritik stehen Internetseiten, deren Inhalte ausschließlich von Nutzern erstellt werden wie YouTube, MySpace oder Wikipedia - keine Meisterwerke, sondern ein endloser digitaler Dschungel der Mittelmäßigkeit, wie Keen sagt: "politische Kommentare ohne Informationsgrundlage, ungehörige selbst gedrehte Videos, peinliche Amateurmusik oder unlesbare Gedichte, Rezensionen, Essays und Romane". Weniger Talent würden unsere äffischen Verwandten auch nicht an den Tag legen, ätzt der Autor. Schlimmer noch: "Die Affen übernehmen die Macht."

Herrschaft der Unwissenden.


Schuld an dieser Entwicklung sei der "edle Amateur", der immer öfter bloggt und damit die öffentliche Meinung "verdirbt und verwirrt". 53 Millionen solcher Blogs gebe es heute und ihre Zahl verdopple sich alle sechs Monate, schreibt Keen. "Die Blogs sind so schwindelerregend unendlich geworden, dass sie unseren Sinn für wahr und falsch, für wirklich und unwirklich untergraben." Und damit auch die Autorität der traditionellen Medien mit ihren Experten und kulturellen Türhütern: "Der Amateur ersetzt den Profi, der Laie den Lexikografen, der ungeschulte Pöbel die Harvard-Professoren." Was bleibe, sei eine "Kakofonie von Inhalten", die ungeprüft über die Masse der Internetnutzer hereinbreche.
Als Beispiel nennt Keen die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die sich immer größerer Beliebtheit erfreut - ganz im Gegensatz zu der traditionsreichen Encyclopædia Britannica mit ihren 100 hauptberuflichen Redakteuren und Experten - sie würde einfach ersetzt werden. Und womit? "Mit einem Zustand geistiger Schwäche und Erschöpfung, der von massiver Unwissenheit kaum zu unterscheiden ist", zitiert Keen den Schriftsteller Lewis Mumford. Für Keen steht der Experte über alles: Er sichtet, prüft, bewertet. Und was er sagt, das ist richtig. Immer und ausnahmslos.
Weil Keen den professionellen Experten über alles stellt, kann er auch der Demokratisierung der Kultur durch das Internet nichts Positives abgewinnen. Auch wenn das Internet für viele zum Ausdruck ihrer Kreativität geworden ist - der Autor sieht darin nur eine fundamentale Bedrohung für die Zukunft unserer kulturellen Institutionen und Errungenschaften: vom Buch und Film bis zum Musikalbum und der Zeitschrift. Doch nicht nur kulturell, auch finanziell droht Erosion. So raube das Internet der Musikindustrie mehrere Milliarden Dollar, weil es das illegale Kopieren von Liedern ermöglicht. Durch Raubkopien drohe Hollywood in eine ähnliche Krise zu schlittern wie die Musikindustrie. Und auch die großen Fernsehunternehmen würden in finanzielle Schwierigkeiten geraten, prophezeit der Autor. Die Folge: NBC Universal zum Beispiel zeige in Zukunft keine teuren Unterhaltungsserien mehr zwischen 20 und 21 Uhr. In der besten Sendezeit würden statt beliebter Serien nun billigere Spielshows oder noch mehr spottbillige Realityshows gezeigt, klagt Keen. Für ihn der Beginn des kulturellen Verfalls.

Web 3.0 mit Online-Polizei?


Einen Ausweg sieht der Autor einzig in der Rückkehr zur "Sachautorität": Profis, die den Webspace pflegen und die Ordnung aufrechterhalten, "indem sie Regelverletzer und Störer bestrafen". Der Autor wünscht sich "Polizisten", wie sie bereits von der Online-Enzyklopädie Citizendium eingesetzt werden. Keens Web 3.0 funktioniert mit Online-Polizei. Fazit: Keen bündelt die Kritik an Internet und Web 2.0 zu einer griffigen Polemik, die kaum einen Negativposten des weltweiten Netzes auslässt. Hauptsache laut und extrem war anscheinend sein Motto, Provokation sein Ziel. Das ist ihm sogar auf recht unterhaltsame Weise gelungen. Sein Buch ist zielsichere Polemik gegen das Internet. Gelitten hat darunter freilich die Vielfalt der Perspektiven.

Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Andrew Keen:
Die Stunde der Stümper.
Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören.

Carl Hanser Verlag, München 2008,
248 Seiten, 19.90 Euro.
ISBN 978-3-446-41566-9
www.hanser.de

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: Die Stunde der Stümper. . Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören. . Carl Hanser Verlag, München 1900, 248 Seiten, ISBN 978-3-446-41566-9

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Florian Michl
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Florian Michl schreibt als freier Autor für changeX.

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