Der Dematerialist

Ein Gespräch mit Friedrich Schmidt-Bleek
Interview: Detlef Gürtler

Vor einem Vierteljahrhundert prägte der Chemiker Friedrich Schmidt-Bleek den Begriff der Dematerialisierung. Dass die von ihm geforderte "Ressourcenwende" immer noch in weiter Ferne liegt, liege unter anderem daran, dass mit Kohlendioxidkampagnen und Energiewenden für die falschen Ziele mobilisiert wurde.

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Prof. Friedrich Schmidt-Bleek ist Erfinder des Faktor-10-Konzeptes, des Begriffs "ökologischer Rucksack" und des MIPS-Ansatzes. Er ist Gründungsvizepräsident des Wuppertal Institutes, arbeitete als Abteilungsleiter in der OECD und im IIASA und ist außerdem Initiator des World Resources Forum Davos und des Factor-10-Institute. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Veröffentlichungen.
 

Herr Schmidt-Bleek, auf dem T-Shirt, das Sie bei diesem Interview tragen, steht: "Weniger Naturverbrauch - mehr Lebensqualität". Wie funktioniert das? 

Nicht so einfach. So, wie er da steht, ist der Spruch von Ernst Ulrich von Weizsäcker ...
 

... mit dem Sie viele Jahre im Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie zusammengearbeitet haben, Ihrer gemeinsamen Gründung aus dem Jahr 1990. 

Ich selbst habe das immer wieder etwas vorsichtiger gesagt: Wenn wir unsere Wirtschaft dematerialisieren, erleiden wir dadurch keinen Qualitätsverlust. Wir können Leistungen mit der gleichen Qualität anbieten, wie es heute der Fall ist - und das auch ohne Nettoverlust an Lebensqualität. Ich kann mir auch durchaus vorstellen, dass meine Urenkel - die es noch gar nicht gibt - eines Tages sagen werden: Das, was ihr damals für Lebensqualität gehalten hattet, das möchten wir gar nicht haben, uns geht’s doch heute besser. Das allerdings zu versprechen, wäre etwas merkwürdig.
 

Ganz ohne Verluste kann eine Dematerialisierung aber nicht stattfinden. Sie trifft geradezu zwangsläufig diejenigen, die noch von der Förderung von Rohstoffen leben. 

Na Gott sei Dank! Das will ich ja auch, da bin ich brutal. Wir haben ja auch die Pferdekutschen abgeschafft, und die Bronzeaxt wäre nicht eingeführt worden, wenn die Menschen damals Subventionen eingesetzt hätten, um die Steinbeile zu erhalten. Das ist ein ganz normaler Lauf der Wirtschaft; einige Unternehmen werden daran kaputtgehen.
 

Oder sie müssen sich umorientieren. Viele Bergbauunternehmen sind ohnehin schon auch in anderen Industriesparten aktiv. 

Wenn sie auch nur halbwegs ordentlich gewirtschaftet haben, müssten alle Rohstoffkonzerne locker genügend Geld übrig haben, um sich in andere Wirtschaftsbereiche begeben zu können. Da habe ich kein Mitleid. Natürlich kann man immer darüber reden, wie man für die betroffenen Unternehmen den Übergang, den Strukturwandel ermöglichen kann. Aber da sollten die Unternehmen sich auch selbst vorsorgend in diese Richtung bewegen. Unternehmen machen doch ohnehin ständig etwas anderes - oder wie viele Firmen stellen heute noch dasselbe her wie vor 60 Jahren?
 

Und was ist mit den Beschäftigten in diesen Rohstoffkonzernen? Die meisten arbeiten ja in Entwicklungs- und Schwellenländern. 

Das ist in der Tat schwieriger. Ich würde beispielsweise versuchen, die heutige Entwicklungshilfe vorwiegend dafür einzusetzen, den Rohstoff exportierenden Ländern zu helfen, ihren natürlichen Reichtum in Halb- und Fertigprodukte zu verwandeln. Junge Menschen von dort könnten bei uns in Europa hierfür ausgebildet werden.
 

Wenn wir keine Löcher in Lateinamerika mehr buddeln müssen und keine Schnittblumen aus Schwarzafrika mehr einfliegen und, und, und - dann bedeutet Dematerialisierung doch, dass wir weniger globale Stoffströme haben.  

Das will ich doch hoffen.
 

Das führt dann fast zwangsläufig zu einem Rückgang von globalen Verflechtungen, die Welt würde also materiell deglobalisiert. 

Jedenfalls teilweise - und das halte ich für gesund. Ich war einige Jahre Abteilungsleiter bei der OECD, und was damals im Namen der Globalisierung von den Mitgliedsländern gefordert wurde, das war abenteuerlich. Als ob das ein Naturgesetz wäre, dem alle folgen müssen! Ich glaube, die Schäden, die von der Globalisierung hervorgerufen wurden, waren leicht sichtbar, vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen. Das ein wenig zurückzudrehen, finde ich gar nicht so schlimm, im Gegenteil.
 

Ist das nicht ein bisschen sehr erhobener Zeigefinger?  

Ihre Kollegen haben auch schon mal "großkotzig" gesagt. Aber lassen Sie uns das gerne grundsätzlich angehen. Was sind denn die systemischen Vorteile der Globalisierung? Zeitgewinn? Lustgewinn? Gesundheitsgewinn? Was ist denn wirklich besser geworden?
 

Es gab einen Bewusstseinsgewinn. Angefangen mit dem berühmten Foto des Blauen Planeten aus der frühen Raumfahrtzeit hat sich gezeigt, dass es so etwas gibt wie ein Wir, das alle sieben Milliarden Menschen umfassen kann. Dazu hat die Globalisierung von Waren- und Kapitalströmen, haben Reisen und Migration stark beigetragen. 

Das Verständnis für andere Menschen und Kulturen wurde sicherlich durch Globalisierung gefördert. Aber musste sie in dieser brutalen Weise von der Industrie ausgenutzt werden? Da produziert man überall, und Standorte spielen überhaupt keine Rolle mehr, und ich kann in Sekundenbruchteilen weltweit investieren, kostenfrei und steuerfrei, sonst geht angeblich die Wirtschaft kaputt. Das ist eine Spiegelfechterei sondergleichen, die davon ausgeht, dass immerwährendes Wachstum für alle Menschen gut und möglich ist und mit der Stabilität der Umwelt nichts zu tun hat. Diese Art von Globalisierung lässt aber die internationalen Massenströme weiter anschwellen und untergräbt die globalen Lebensgrundlagen.
 

Ihr Begriff für das, was wir stattdessen brauchen, heißt "Ressourcenwende".  

Es ist nicht einfach nur ein Begriff. Ich habe die Ressourcenwende mit meinen Mitarbeitern am Wuppertal Institut als Konzept für einen wirksamen Umweltschutz erarbeitet, der globale Wohlfahrt möglich macht. Sie beruht auf zwei Säulen: erstens einer ehrlichen Umweltbilanz, die ein möglichst vollständiges, realistisches Bild der Ressourcenintensität unserer Lebensweise abbildet, und zweitens eine technisch realisierbare Dematerialisierung der Wirtschaft, also eine Verringerung des umweltgefährlichen Materialverbrauchs.
 

Läuft diese Ressourcenwende denn nicht auf etwa das Gleiche hinaus wie die derzeit mehr oder weniger praktizierte Energiewende?  

Nein, überhaupt nicht. Zunächst will ich festhalten, dass der Klimawandel ein Riesenproblem ist, das so gut und bald wie möglich gelöst werden muss. Die Energiewende als Bremse für den Klimawandel ist jedoch in mehrfacher Hinsicht eine ökologische Dummheit. Das fängt damit an, dass so gut wie niemand mehr in Spitzenpositionen die anderen gefährlichen Umweltprobleme vor Augen hat und alle so tun, als ob mit der Energiewende alles wieder in Ordnung käme. Es ist unglaublich, dass man sich im gesamten Umweltschutzbereich, bei den nationalen und internationalen Institutionen, bei der Industrie, bei den Verbrauchern so darauf eingeschossen hat: Was wollen Sie denn? Die Energiewende ist doch eine tolle Sache, sie kostet zwar viel Geld, aber das ist doch gut angelegt.
 

Ist es nicht? 

Nein. Das ist politischer, ökonomischer und naturwissenschaftlicher Unfug. Wenn man doch ganz genau weiß, dass der Klimawandel keine Krankheit ist, sondern ein Symptom. Ein Symptom nämlich als Folge des riesigen Ressourcenverbrauchs unserer Wirtschaft. Wenn man da bei den Kohlendioxidemissionen stehen bleibt, ist das bestenfalls naiv. Sicher, die entstehen, weil wir fossile Brennstoffe einsetzen. Aber Kohlendioxid entsteht doch auch nicht nur dadurch. Und der Klimawandel entsteht doch auch nicht nur durch Kohlendioxid. Er wird mitverursacht durch eine Menge Faktoren, die mit den fossilen Brennstoffen überhaupt nichts zu tun haben, wie zum Beispiel die Viehhaltung, die grüne Revolution, die Verwendung von Kunstdünger.
 

Stimmt denn wenigstens die Richtung, in die man sich durch Kohlendioxideinsparung bewegt? 

Wenns nur so wäre! Aber wenn man an der Stelle Reduktionstechniken einsetzt, wo die Kohlendioxidemissionen stattfinden, entsteht zusätzlicher Bedarf an Ressourcen.
 

Haben Sie ein Beispiel für uns? 

Natürlich - die bei vielen Menschen so trendigen Hybridfahrzeuge. Da wird reichen Industrieunternehmen wie BMW, Mercedes und Audi die Umstellung auf Hybridantrieb subventioniert, dabei wissen doch alle, dass mit dieser zweiten Antriebsmaschine im Auto erheblich mehr Ressourcen in der Produktion verbraucht werden. Der Materialrucksack des Autos verdoppelt sich dadurch, und dafür spart man dann sagenhafte zehn bis 15 Prozent Benzin ein. Das ist eine schlichte Milchmädchenrechnung - aber es wird allen als ökologisch vorbildlich verkauft, und niemand fragt mehr, ob die Maßnahme überhaupt sinnvoll ist.
 

Mit den Themen Kohlendioxid und Klimawandel ist es erstmals gelungen, eine Globalisierung des Umweltbewusstseins zu erreichen. War das alles verkehrt?  

Darüber haben wir uns schon vor 25 Jahren gestritten, als die ersten Sustainability-Indizes konzipiert wurden. Ich war dagegen, dem Kohlendioxid dabei eine bedeutende Rolle zuzumessen.
 

Sie haben ja auch einen eigenen Indikator am Start - MIPS, die Materialintensität pro Service-Einheit ... 

… oder auch "materieller Fußabdruck". Ich weiß, dass auch dieser Indikator seine Nachteile hat, aber da geht es ja nicht um wissenschaftliche Perfektion, sondern um Richtungssicherheit. Und er ist deutlich richtungssicherer als das Kohlendioxid. Aber damals hieß es: "Ja, aber man muss doch mit irgendwas anfangen" - und die Kohlendioxidmessung war nun mal einfacher. Und jetzt haben wir die Quittung dafür, und jede Mausefalle wird mit Kohlendioxidabgaben belegt.
 

Sie plädieren stattdessen für eine Ressourcensteuer. 

Das Allererste, was wir brauchen, ist ein Preissignal. Da sind sich die Ökonomen tatsächlich einig. Also müssten doch eigentlich die ganzen Ressourcenströme, die in unsere Produkte einfließen, in irgendeiner Form auch in die betriebswirtschaftliche Kalkulation der Unternehmen einfließen. Wenn das so wäre, dann würden "die Preise die ökologische Wahrheit sagen", wie von Weizsäcker das nennt. Leider sind wir aber weit davon entfernt.
 

Ihre Ressourcensteuer setzt darauf, immer dann eine Steuerpflicht auszulösen, wenn jemand etwas aus dem Erdboden extrahiert ... 

... oder aus dem Wasser oder aus der Luft.
 

Aber wie wollen Sie das global durchsetzen? 

Staaten haben viele Besteuerungsoptionen, die den Verbrauch von natürlichen Ressourcen beeinflussen können - zum Beispiel die Mehrwertsteuer. Die Verteuerung von natürlichen Ressourcen muss ja nicht global einheitlich sein.
 

Aber ein Staat wie die Schweiz alleine ginge ja wohl kaum ...  

Sie haben recht. Ein einzelner Staat kann kaum seine Produkte beliebig verteuern, ohne erhebliche Nachteile heraufzubeschwören. Aber zwischen einem einzelnen Staat und der ganzen Welt gibt es noch eine ganze Reihe anderer Varianten. Deutschland als ein ja doch etwas größerer Staat als die Schweiz könnte zwar allein einiges unternehmen, um den Anfang zu machen. Aber Deutschland allein kann das Ressourcenproblem nicht richten.
 

Denken Sie eher an eine Staatengruppe wie die EU? 

Oder die OECD - für die ich lange gearbeitet habe. Oder irgendeine andere Gruppe von Staaten. Aber wenn man von Anfang an sagt, dass etwas global funktionieren muss, kann man es gleich lassen. Das passiert schrittweise, oder es passiert gar nicht.
 

Was ist denn eine untere Größe für einen ersten Schritt? 

Ich denke an eine Größenordnung von 250 Millionen Menschen. Das ist gemessen an sieben Milliarden Menschen nicht sehr viel - aber wenn man Staaten mit dieser Gesamtbevölkerung zusammennimmt, müsste ein Markt in einer Größenordnung herauskommen, die einen Anfang erlaubt. Und das kriegen Sie in Europa in den verschiedensten Konstellationen zusammen; das muss nicht die Eurozone sein, es kann sich auch um eine andere Konstellation handeln, zum Beispiel die deutschsprachigen Staaten plus Benelux plus Skandinavien, vielleicht Frankreich und Polen. Als kritische Masse für die Einführung einer Ressourcenwende mit Ressourcensteuer könnte das vielleicht schon ausreichen.
 

Gegen wen richtete sich das? Gegen die USA? Gegen China? 

Ich glaube nicht, dass ein solcher Anfang als Gegnerschaft verstanden würde. China und Indien könnten sich einer solchen Idee schnell und aus eigenen Gründen anschließen. Wenn es um die Erhaltung von wesentlichen Werten der Menschheit geht, halte ich sie für wesentlich konservativer und den Europäern ähnlicher als die Amerikaner. Bei denen sind die Wirtschaftsinteressen deutlich ausgeprägter im Sinne des persönlichen Rechts, Masse zu verbrauchen, wenn man erfolgreich und gottgefällig ist. Aber bei einer erfolgreichen Kooperation einiger Länder Europas wären möglicherweise auch andere Länder einmal daran interessiert, mitzumachen.
 

Wenn Ressourcen höher besteuert werden, werden die Produkte teurer, die daraus hergestellt werden. 

Wir haben es hier mit gütergesättigten Märkten zu tun, die ohnehin mit allem voll sind, von Kaffeemaschinen bis Mausefallen. Was spricht dagegen, diese Märkte so zu gestalten, dass Wachstum nicht mehr mit Masse verbunden ist?
 

Dafür sind viele verschiedene Wege möglich. Wie hätten Sie’s denn gerne? Sollen wir in Zukunft mit weniger Waschmaschinen waschen? Oder mit leichteren Waschmaschinen? Mit weniger Waschmittel? Oder sollen wir einfach weniger Wäsche waschen?  

Da haben Sie vier verschiedene Wege aufgeführt - aber ich plädiere für einen fünften. Denn eigentlich sollte die Frage ja nicht so sehr sein, wie man das Waschen effizienter macht - sondern wie man saubere Wäsche bekommt, ohne waschen zu müssen.
 

Auch keine schlechte Idee. Und wie soll das funktionieren? 

Ach, da wird es eine ganze Reihe von Zwischenlösungen und irgendwann auch technische Endlösungen geben. Denken Sie an das Waschen mit Ultraschall oder an Textilien mit Lotos-Oberflächen. Das ist Werkstoffforschung und nun wirklich nicht das Kerngeschäft von Waschmittelproduzenten - aber dennoch müssten sich die jetzigen Waschmittelhersteller rechtzeitig für einen Markt ohne Waschmittel positionieren. Es geht um Visionen für die Zukunft. Die sind immer mit Risiko verbunden. Aber die Richtung ist klar: Weniger Ressourcen verbrauchen für denselben Zweck, für denselben Nutzen.
 

Wenn das Produkt, das man bislang herstellt, schlicht nicht mehr gebraucht wird, müsste das ja wohl eine ziemlich umfangreiche und tief greifende Neupositionierung sein. 

Stimmt. Aber wenn sie das nicht tun, wenn sie sich an diese gravierende Umpositionierung nicht herantrauen, dann werden sie eben in ein paar Jahren verschwunden sein.
 

Ehrlich gesagt klingt das nicht so, als würden Sie den Unternehmen zutrauen, zu Impulsgebern für die Dematerialisierung zu werden.  

Stimmt, ich kann mir nicht vorstellen, dass der Impuls von denen kommt. Die Unternehmen können zwar sehr gut auf externe Einflüsse und Regelungszwang reagieren und werden das auch tun. Aber sie werden nicht von sich aus aktiv werden, um die ökologisch notwendigen Ziele zu verfolgen.
 

Welche gesellschaftliche Kraft könnte denn sonst die Ressourcenwende einleiten? Die Konsumenten? 

Sicherlich hat auch der Verbraucher Einfluss. Allerdings hat er entgegen aller Wirtschaftstheorie nie all die Informationen zur Verfügung, die er bräuchte, um vernünftige Entscheidungen zu treffen.
 

Die Politik? 

Auch nicht einfach. Wenn wir einmal nur Deutschland betrachten: Natürlich erwarte ich mir so etwas nicht von einer Großen Koalition - deren Ball ist im Spiel und läuft ganz gut aus wirtschaftlich-konservativer Sicht. Bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland hat allerdings in keinem der Wahlprogramme die Ressourcenfrage auch nur die geringste Rolle gespielt.
 

Auch nicht bei den Grünen?  

Da tauchte das Thema Ressourcen auf drei von 300 Seiten Wahlversprechungen auf. Und was dort gesagt wurde, war so dämlich - und offensichtlich von Leuten geschrieben, die gar nicht wussten, warum Ressourcenverbrauch ökologisch relevant ist. Nein, Umwelt ist in der Politik heute kein Thema. Aber es kann ja noch werden. Ich empfange zumindest Signale in dieser Richtung. Das Umweltbundesamt in Berlin ist dabei, so wird gemunkelt, die Inhalte der "Energiewende" mit denen meiner "Ressourcenwende" zusammenzuführen.
 

Tja. Wer sonst fällt Ihnen ein? 

Die Gewerkschaften kämen theoretisch noch infrage, sind aber anderweitig beschäftigt. Ich erwarte mir am meisten von einzelnen herausragenden Persönlichkeiten, die frei sind, sich zu äußern. Jemand wie der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck oder wie Papst Franziskus, sofern ihm jemand berichtet hat, dass die Schöpfung Gottes physisch in Gefahr ist. Ich glaube allerdings nicht, dass er über das Problem der Übernutzung von natürlichen Ressourcen etwas weiß.
 

Für so etwas haben auch Päpste ihre Berater.  

Ich würde mir in der Tat wünschen, dass sich die Kirchen hier stärker engagieren. Ich halte es geradezu für verheerend, dass die zwei christlichen Kirchen es nicht für nötig befinden, etwas zur Erhaltung der Schöpfung Gottes beizutragen. Die wissen doch, dass alles Mögliche kaputtgeht. Aber sie machen es nicht zu ihrem Thema.
 

Zur Dematerialisierung beitragen könnten ja auch Kartelle wie die OPEC, die den Preis eines Rohstoffs künstlich hoch halten. Ökonomisch würde das wirken wie eine Ressourcensteuer, die aber nicht in unseren Steuerkassen landet, sondern dort ankommt, wo die Rohstoffe aus dem Boden geholt werden.  

Nein, profitgesteuerte internationale Organisationen und globale Unternehmen sind sicherlich nicht an einer Ressourcenwende interessiert.
 

Aber besser wär’s schon, wenn man bei der Verteuerung der Ressourcen an der Quelle ansetzen würde? 

Natürlich. Damit würden reale Preise die ganze Wirtschaft per Marktmechanismen durchdringen. Für eine weltweit vereinbarte Ressourcensteuer reicht meine Fantasie aber nicht aus.
 

Also gibt es auf die Frage, wer die Ressourcenwende einleiten kann, derzeit keine Antwort? 

Ich würde es etwas anders ausdrücken: Nur Regierungen können das schaffen. Damit es aber passiert, müssen sich willige und fähige Länder zusammentun. Die Industrie will es nicht, der Konsument kann es nicht, die Kirche macht es nicht, die Gewerkschaften ebenso wenig, also bleibt niemand außer der Regierung. Aber die trauen sich nicht, weil der Zwang, der Druck von den Wählern nicht da ist.
 

So gesagt, scheint das auf eine Krise hinauszulaufen, die gar nichts anderes mehr zulässt, als mit der Dematerialisierung anzufangen. 

Wahrscheinlich kommt die schmerzhafte Umweltkrise vor dem Sieg strategischer Vernunft. Wir wissen nur nicht, wann und wie und wo; sie kann überraschend kommen und verheerende Folgen haben, oder in einer Form, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Sie kommt mit Sicherheit, das kann man heute klar vorhersagen; und wenn das so ist, ist man dumm, wenn man sich nicht bestmöglich darauf vorbereitet.
 

Lassen Sie uns trotzdem noch einmal über die unkrisenhaften Pfade reden. Dematerialisierung könnte auch cool werden - derzeit zeigt sich beispielsweise im Sharing-Trend ein solcher Ansatz. 

Das sagen Sie. Das sagt auch eines meiner fünf Kinder. Die anderen vier sagen das nicht. Da sind wir noch weit von der kritischen Masse entfernt. Aber man könnte es auch anders angehen. Es kommt in der Zukunft auf Dienstleistungen an - wenn die Wirtschaft wachsen muss. Ich weiß zwar nicht, warum die unbedingt wachsen muss, aber das scheint ja ein Naturgesetz zu sein. Aber ich weiß ganz genau, dass dieses Wachstum kein materielles Wachstum sein kann. Aber mit Dienstleistungen geht das schon.
 

Also noch einmal mehr Dienstleistungsgesellschaft? 

Das ist ja wohl die einzige Art, wie Sie eine dematerialisierte Wirtschaft hinbekommen können. Aber dazu müsste man erst einmal eine richtige Dienstleistungsgesellschaft haben. Das ist ja zum Teil noch nicht einmal richtig definiert, was darunter zu verstehen ist. Ich fände das schon schön, wenn sich das GDI damit mal beschäftigen könnte: Was ist Wachstum heute? Was ist Wachstum morgen?
 

Das machen wir ja schon. 2011 hat David Bosshart das Buch The Age of Less veröffentlicht, in dem er einen Weg aufzeigt über das "Zahlenwachstum" hinaus, so sein Begriff. 

Aber welchem Wirtschaftspolitiker wollen Sie denn den Begriff "Age of Less" verkaufen? Das nimmt Ihnen doch keiner von denen ab, die von Kopf bis Fuß auf Wachstum eingestellt sind. Wem wollen Sie das denn schmackhaft machen?
 

Was man schmackhaft machen kann, ist: einen Übergang von Quantität von Gütern zu einer Qualität. Gerade in der Schweiz wird dieser Ansatz, für Qualität auch entsprechend zu zahlen, akzeptiert ... 

Das nehme ich Ihnen sofort ab - aber an der Schweizer Grenze ist Schluss damit, das garantiere ich Ihnen. Meine Großmutter sagte mir: Wenn du gut einkaufen willst, musst du erst mal reich sein. Das gilt auch heute noch. Ihr Argument mit der Qualität und dem Preis widerspricht doch allem, was wir derzeit haben. Wir müssen also eine ganz konkrete Antwort auf eine ganz konkrete Frage finden: Wie verkaufe ich Ihr "Age of Less" oder meine Ressourcenwende unseren Kindern? Oder unseren Kunden? Wie gestalten wir eine Wirtschaft, die auch mit radikal weniger Ressourcen profitabel arbeiten kann, Spaß macht und zukunftsfähige Wohlfahrt erzeugt? Wo sind die Bilder mit der Aussicht auf Lebensqualität, Sicherheit und Gesundheit trotz radikal geringerer Ausbeutung des Planeten Erde? In meinem Buch versuche ich, einige Antworten zu geben. Aber es braucht eine größere Masse an Gehirn, um der Komplexität dieser Aufgabe gerecht zu werden.
 


changeX 17.10.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Weitere Informationen

Zum Buch

: Grüne Lügen. Nichts für die Umwelt, alles fürs Geschäft - wie Politik und Wirtschaft die Welt zugrunde richten. Ludwig Verlag, München 2014, 304 Seiten, 19.99 Euro, ISBN 978-3-453-28057-1

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Autor

Detlef Gürtler
Gürtler

Detlef Gürtler, Jahrgang 1964, ist Senior Researcher am Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut und war bis 2016 Chefredakteur des Zukunftsmagazins GDI Impuls. Gürtler ist Autor erfolgreicher Wirtschaftssachbücher (Die Dagoberts, Die Tagesschau erklärt die Wirtschaft), Kolumnist ("Gürtlers gesammelte Grütze" in der Welt Kompakt) und Blogger (tazblog Wortistik).

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