Erfinder des radikalen Konstruktivismus

Ernst von Glasersfeld - ein Nachruf
Text: Fritz B. Simon

Am 12. November 2010 starb Ernst von Glasersfeld, der Erfinder und Begründer des radikalen Konstruktivismus im Alter von 93 Jahren. Er stellte nicht nur jeden Wahrheitsanspruch infrage, er hat seine Theorien auch personifiziert. Ein Nachruf von Fritz B. Simon.

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Am 12. November 2010 starb Ernst von Glasersfeld. 

Unter den Vordenkern des Konstruktivismus, wie er heute die Diskussion in "systemisch" und/oder "konstruktivistisch" bezeichneten Praxisfeldern - von der Therapie und Sozialarbeit über die Organisationsberatung bis hin zum Management - bestimmt, ist er wahrscheinlich der unbekannteste. Dies mag verwunderlich erscheinen, denn nicht nur der Begriff "Radikaler Konstruktivismus", sondern auch einige seiner Schlüsselkonzepte sind Ernst von Glasersfeld zu verdanken. Dass dies so ist, dürfte auch an den von ihm (mit)gestalteten Theorieentwürfen liegen, oder anders gesagt: Er hat seine Theorien, die jeden absoluten Wahrheitsanspruch infrage stellen, auch personifiziert. So hat er weder für seine Ansätze missioniert noch andere Modelle aggressiv bekämpft. Argumentationen und rationaler Auseinandersetzung hat er sich immer gern gestellt, aber er war nie ein Eiferer, der Jünger um sich schart und Fangemeinden pflegt, kein Schulengründer. Diese persönliche Bescheidenheit und Zurückhaltung hat ihn als "Erfinder" eines von ihm selbst als "radikal" bezeichneten Konstruktivismus nicht vor vielen Gegnern bewahrt, die diesen Konstruktivismus als "zu radikal" erlebten.


Wechsel der kulturellen Kontexte


Glasersfeld wuchs mehrsprachig auf und hatte, wie er selbst sagte, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen nicht nur eine Muttersprache, in der er beziehungsweise sein Weltbild verwurzelt gewesen wäre. Hier mag bereits in seiner Kindheit - in Meran/Südtirol - die Wurzel seiner späteren Forschungen gelegt worden sein. Unterschiedliche Sprachen vollziehen unterschiedliche Unterscheidungen und Abstraktionen, kreieren nicht miteinander übereinstimmende Einheiten, Objekte, Ganzheiten, Kategorien. Und daraus resultiert eine unterschiedliche Ordnung der Welt, eine widersprüchliche Logik von Prozessen, von Kausalitäten. Dies konnte Glasersfeld von Kind an beobachten. Was in einer globalisierten Welt nicht mehr so selten ist, ein Wechsel der kulturellen Kontexte, erfuhr Glasersfeld schon als Jugendlicher, der in München geboren, mit österreichischen Eltern und tschechischem Pass in Italien lebte und in der Schweiz in die Schule ging. Er begann in Zürich und dann in Wien zu studieren (Mathematik). Während eines Jobs als Skilehrer in Australien lernte er seine spätere Frau, eine Engländerin, die in Paris lebte, kennen. Den Zweiten Weltkrieg überstand er als Farmer in Irland. Danach kehrte er nach Meran zurück, wo er - mehr durch Zufall als durch Bemühung - eine Stelle als Leiter des Kulturressorts der örtlichen Zeitung Der Standpunkt bekam (seine erste Arbeit war übrigens ein Nachruf). Später wurde er dann Korrespondent der Zürcher Weltwoche und anderer ausländischer Zeitungen. Seine Themen waren Autorennen, Mode, etruskische Ausgrabungen sowie Film- und Theaterkritiken. 

Mitte der 50er-Jahre zog es ihn in die Arbeitsgruppe von Silvio Ceccato, einem der ersten Vertreter der Kybernetik in Italien und Begründer der Scuola Operativa Italiana. Dessen beruflicher Lebensweg war nicht weniger unkonventionell als der Glasersfelds. Er war promovierter Jurist, hatte Violoncello und Komposition studiert und widmete sich mit seiner Arbeitsgruppe der Untersuchung kognitiver Operationen, vor allem linguistischen und semantischen Problemen sowie der Möglichkeit der Übersetzung durch Maschinen. 

Mitte der 60er-Jahre ging Glasersfeld in die USA, da die Air Force ihm ein Forschungsprojekt zur Satzanalyse angeboten hatte. Von 1970 bis 1987 lehrte er kognitive Psychologie an der Universität von Athens, Georgia, und forschte in diesem Feld. Den linguistischen Faden spann er in einem primatologischen Projekt fort, in dem er eine Grammatik für die Kommunikation mit Schimpansen erfand. Später - nachdem er die Arbeiten Jean Piagets entdeckt hatte - beschäftigte er sich mit der Entwicklung des Zahlenbegriffs bei Kindern. Seine wissenschaftliche Tätigkeit setzte er nach seiner Emeritierung in Amherst, Massachusetts, im Bereich der pädagogischen Psychologie fort.


Radikalisierung der Konstruktionsidee


Befragt, was seine eigene Entwicklung beziehungsweise die seiner Konzepte geprägt hat, so sah er sich in einer langen Tradition. Konstruktivistisches Denken bestimmte schon die Arbeiten der Vorsokratiker. Giambatista Vico und Immanuel Kant können ebenfalls als Vordenker des Konstruktivismus gesehen werden, und Jean Piaget war derjenige, der die umfangreichsten empirischen Untersuchungen dazu vorgenommen hat.  

Was sicher als Glasersfelds Verdienst angesehen werden kann, ist die Radikalisierung der Konstruktionsidee. Wo andere, ebenfalls konstruktivistisch argumentierende Autoren an der Vorstellung festhielten, die vom Beobachter konstruierten Bilder der Welt könnten sich ihrem Gegenstand annähern, und dem Ideal folgten, die Ähnlichkeit des Abbildes zum Abgebildeten immer mehr zu vervollkommnen, verwarf Glasersfeld die Annahme, Erkenntnis und Erkanntes müssten überhaupt irgendeine Übereinstimmung haben. Er sah das individuelle Weltbild immer nur als Mittel zum Zweck des Handelns. Deshalb kam es nie auf Repräsentation an, sondern auf "Viabilität" ("Gangbarkeit" wie in "es geht", "es funktioniert" oder "es könnte auch anders gehen"). Die Landkarte muss keine Ähnlichkeit mit der Landschaft haben, aber man muss sich mit ihrer Hilfe so orientieren können, dass man zu seinem Ziel kommt, ohne gegen irgendwelche Hindernisse zu stoßen.  

Bewusstsein ist für ihn deshalb nicht unbedingt an Sprache gebunden, denn die sensomotorischen Schemata, die bewusstes Handeln ermöglichen, werden schon vor dem Spracherwerb gebildet. Imitation ist hier eines der wichtigsten gestaltenden Momente. Schon als junger Skilehrer in den Alpen hatte er gesehen, dass man sagen konnte, wer der Skilehrer war, wenn man die Skischüler beobachtete ... 

Die Forschungsarbeiten Glasersfelds sind zum großen Teil nur Spezialisten bekannt, sodass seine Bekanntheit und Prominenz erklärungsbedürftig ist. Sie hat sicher mit der Zeit beziehungsweise dem Geist der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts zu tun. Denn auch Autoren wie Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Francisco Varela wurden damals zu so etwas wie intellektuellen Popstars. Sie alle hatten - das sei hier ausdrücklich betont - in ihren eigenen Fachdisziplinen eher randständige Positionen. Denn die Mainstream-Wissenschaften basierten auf Prämissen des Realismus. Jeder Ansatz, der den Beobachter in den Mittelpunkt stellte und davon ausging, dass es nicht nur ein einziges, absolutes, objektives und möglichst richtiges Bild der Welt geben sollte beziehungsweise gibt, verstieß damit gegen den Wahrheits- und Machtanspruch der Wissenschaften.


Theoretiker, adoptiert


Einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden die genannten, ihre Theorien auf den Beobachter respektive die Operation der Beobachtung gründenden Forscher und Forschungen von Praktikern mit einem hohen Theorie- und Reflexionsbedürfnis: An erster Stelle sind hier Psychotherapeuten, speziell Familientherapeuten zu nennen. Sie hatten sich zu der Zeit in ihren Methoden von den ausgetretenen Pfaden ihrer Profession gelöst. Denn die führten nicht unbedingt zum Ziel. Man konnte Psychotiker nicht auf die Couch legen, um ihre Träume zu analysieren. Ja, die identifizierten Patienten hatten oft nicht im Geringsten das Bedürfnis, sich in Therapie zu begeben. Der Leidensdruck, der Voraussetzung für eine Therapie ist, lag oft bei den Angehörigen. Konfrontiert mit den Kommunikationsmustern der Familie stellte sich die Frage nach der "Passung" der individuellen Bilder der Familie und der familiären Interaktionsformen. Eine Erkenntnistheorie, die nicht davon ausging, dass es eine richtige, einzig wahre Beschreibung der Familie und ihrer Spielregeln gibt, sondern von jeweils unterschiedlichem Erleben, unterschiedlichen Erfahrungen der Familienmitglieder, war hilfreich. Und diese Theorie lieferten die genannten Autoren. Sie wurden gewissermaßen adoptiert.  

In den 80er- und 90er-Jahren wurde Ernst von Glasersfeld weltweit auf Dutzende von Kongressen zu Themen der systemischen Therapie, aber auch der Organisationsberatung, des Managements und der Pädagogik eingeladen. Er nahm diese Einladungen an, berichtete freundlich von seinen Forschungen, schien immer etwas überrascht über das Interesse und wirkte dabei stets ein wenig distanziert und, ja, vielleicht sogar desinteressiert. Er nahm sich wie auch derartige Veranstaltungen offenbar nicht sehr wichtig. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich konkreten Menschen sehr aufmerksam zuzuwenden (zum Beispiel Kindern, wenn man ihn zu sich nach Hause einlud).  

Ernst von Glasersfeld wurde 93 Jahre alt.  


Foto: Peter Gasser-Steiner mit Dank an Josef Mitterer für die Vermittlung!


changeX 30.11.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zu den Büchern

: Wie wir uns erfinden. Eine Autobiografie des radikalen Konstruktivismus. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 1999, 250 Seiten, ISBN 978-3-89670-580-8

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: Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Carl-Auer Verlag, Heidelberg, 2. Auflage 1997, 263 Seiten, ISBN 978-3-89670-004-9

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Autor

Fritz B. Simon
Simon

Fritz B. Simon, Dr. med., ist Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Er ist systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut, Mitbegründer der Management Zentrum Witten GmbH und der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Er ist Autor beziehungsweise Herausgeber von circa 240 wissenschaftlichen Fachartikeln und 25 Büchern, die in 13 Sprachen übersetzt sind.

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