Keime des Neuen
Lange galt: Innovation = technische Innovation. Diese Gleichung aber blendet aus, was alltäglich geschieht: Neuerungen wachsen aus dem gesellschaftlichen Miteinander heraus und begründen neue Praktiken und neue Formen der Organisation des Zusammenlebens - soziale Innovationen. Heute vollzieht sich ein grundlegender Wandel des Verständnisses, wie Neues in die Welt kommt: hin zu einem breit angelegten Innovationsparadigma, das technische und soziale Innovation gleichermaßen mit einschließt. Denn soziale Innovationen erweitern das Innovationspotenzial einer Gesellschaft. Und stärken ihre Innovationsfähigkeit. Sie sind Keime des Neuen.
Innovation = technische Innovation. Diese Gleichung bestimmte eine gefühlte Ewigkeit lang das Innovationsverständnis. Technische Innovationen sind demnach der Treiber ökonomischen Fortschritts und gesellschaftlicher Entwicklung. Und entsprechend sind öffentliche Innovationsprogramme und wirtschaftliche Innovationsinitiativen dann auch ausgerichtet. Sie zielen auf technischen Fortschritt. Aber ist da nicht noch etwas - Innovation, die nicht technischer Art ist? Der Kindergarten zum Beispiel. Oder die Sozialversicherung. Beides nicht-technische Neuerungen, die gleichwohl gesellschaftlichen Fortschritt bewirkt haben. Die Liste ließe sich fortsetzen: der Laden, der Kleingarten, das Altenheim, der Versandhandel, das Warenhaus. Innovationen ohne Zweifel. Offenbar aber hat die Fokussierung auf technisch-ökonomische Innovationen im Zuge der Ausbildung der Industriegesellschaft alles andere in den Hintergrund gedrängt. Doch hat dieses lange Zeit dominierende enge, technikfixierte Innovationsverständnis einen gewaltigen blinden Fleck.
Was es nicht in den Blick bekommt, hat unter dem Begriff soziale Innovation in den zurückliegenden Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Dieser Begriff bezeichnet Neuerungen in der Art und Weise, wie Menschen ihr Zusammenleben gestalten und Dinge organisieren. Wie sie es immer schon getan haben. Nur hat das technisch-ökonomisch geprägte Innovationsverständnis dies nicht wahr- oder ernstgenommen. Innovation wurde (wie gesagt) mit technisch-ökonomischer Innovation gleichgesetzt.
Dieses dominante Innovationsparadigma geriet erst dann in Zweifel, als ein mögliches Ende der Industriegesellschaft am Horizont aufschien und die Vorstellung einer postindustriellen Gesellschaft entstand, in der Wissen und Dienstleistungen eine tragende Rolle spielen würden. Nun begann sich auch der Innovationsbegriff zu öffnen. Und erweiterte sich. Soziale Innovation wurde zum Thema. Und soziale Innovationen rückten in den Blickpunkt wissenschaftlichen Interesses. Anfangs zögerlich, nach der Jahrtausendwende dann mit zunehmender Intensität und Tiefe. Neue Ideen traten auf den Plan, Mikrokredite und Mikroversicherungen etwa, Carsharing, Bügerenergiegenossenschaften, öffentliche Bücherschränke bis hin zu neuen Managementkonzepten und neuen Modellen der Zusammenarbeit in Organisationen. Das fand Resonanz auf der politischen Ebene, wo soziale Innovation zunehmend in öffentliche Innovationsprogramme aufgenommen wurde. Es wurde deutlich, dass der herrschende eingeschränkte Innovationsbegriff einen guten Teil des Innovationsgeschehens ausgeblendet hatte. Deutlich wurde auch: Soziale Innovationen erweitern das Innovationspotenzial einer Gesellschaft. Und stärken ihre Innovationsfähigkeit. Das ist der Kern eines neuen, breiter angelegten Innovationsparadigmas.
"So werden die Konturen eines neuen Innovationsverständnisses erkennbar, welches die Vielfalt von Innovationen in der Gesellschaft angemessen erfasst", fassen Jürgen Howaldt und Christoph Kaletka die Entwicklung zusammen. Die beiden Soziologen arbeiten und forschen an der Sozialforschungsstelle der Technischen Universität Dortmund, die sich zu einem Hotspot der Forschung zu sozialen Innovationen entwickelt hat: Prof. Jürgen Howaldt als deren Direktor, Dr. habil. Christoph Kaletka als stellvertretender Direktor. Das Team der Forschungseinrichtung begleitet die Entwicklung eines umfassenden Innovationsverständnisses seit mehr als zehn Jahren. Im Jahr 2010 schon hat Jürgen Howaldt (damals zusammen mit dem Sozialforscher Michael Schwarz) die heute noch maßgebliche Definition vorgelegt. Soziale Innovation versteht sich demnach als "eine von bestimmten Akteuren beziehungsweise Akteurskonstellationen ausgehende intentionale, zielgerichtete Neukombination beziehungsweise Neukonfiguration sozialer Praktiken". Diese geschehe in bestimmten Handlungsfeldern oder sozialen Kontexten und folge dem Ziel, so weiter, "Probleme oder Bedürfnisse besser zu lösen beziehungsweise zu befriedigen, als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist".
Im Interview mit changeX beschreiben Jürgen Howaldt und Christoph Kaletka diesen erweiterten Innovationsbegriff, beleuchten die Resonanz, die das Konzept auf politischer Ebene gefunden hat, setzen sich mit unterschiedlichen Ansätzen zum Verständnis sozialer Innovation auseinander und gehen der Frage nach, was dieser Ansatz beitragen kann, um sozialen Wandel und gesellschaftliche Transformation besser zu verstehen. Zum Interview.
"Soziale Innovationen und gemeinwohlorientierte Unternehmen sind im Mainstream der öffentlichen Debatte angekommen"- woran machen Sie diese Einschätzung fest?
Jürgen Howaldt: Angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen - vom Klimawandel über die alternde Gesellschaft bis zur Digitalisierung des Bildungssystems - wächst das Bewusstsein für die begrenzte Problemlösungskapazität allein wirtschaftlich-technischer Innovationen. Politik und Wissenschaft sind sich weitgehend einig, dass es ein umfassenderes Verständnis von Innovation braucht. Ein Verständnis, das soziale Innovationen systematisch mit einschließt, diese als eigenen Innovationstyp versteht und fördert und Wechselwirkungen in den Blick nimmt. Die Bundesregierung verfolgt das Thema bereits seit einigen Jahren und hat soziale Innovationen 2016 in ihre Hightech-Strategie aufgenommen. Seitdem sind weitere wichtige Schritte gefolgt.
Christoph Kaletka: Hinzu kommen Aktivitäten in Wirtschaft und Gesellschaft. Unternehmen, die soziale, ökologische oder gemeinwohlorientierte Ziele als Kern ihrer Geschäftstätigkeit begreifen, sind ein wichtiger Teil des Ökosystems sozialer Innovation. Wie der Deutsche Social Entrepreneurship Monitor zeigt, sind Sozialunternehmen in allen gesellschaftlichen Bereichen aktiv und auf Wachstumskurs. Die beiden Ausgaben des Atlas of Social Innovation verdeutlichen die Vielfalt der Initiativen und Praxisfelder sozialer Innovation.
Die öffentliche Anerkennung von sozialer Innovation ist das Ergebnis eines längeren Entwicklungsprozesses. Geben Sie uns einen kurzen Überblick über wichtige Meilensteine und Entwicklungsschritte?
Jürgen Howaldt: Die von Joseph A. Schumpeter ausgehende moderne Innovationsforschung ist knapp hundert Jahre alt. Obwohl der Begriff der sozialen Innovationen bereits im 18. Jahrhundert im gesellschaftlichen Diskurs vorzufinden ist, sind diese erst nach der Jahrtausendwende stärker ins Blickfeld wissenschaftlichen Interesses gerückt. Wichtige Treiber dieser Entwicklung waren zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die in nahezu allen Weltregionen mit neuen sozialen Praktiken experimentiert haben und deren Potenzial zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen aufgezeigt haben.
Christoph Kaletka: Dies führte auch zu weltweit wachsendem Interesse der Politik. Die Europäische Union unter Kommissionspräsident Manuel Barroso vollzog vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007-2008 eine Neuausrichtung ihrer Innovationspolitik, in der soziale Innovationen an Gewicht gewannen. Auch in einzelnen europäischen Ländern hat das Thema Fahrt aufgenommen. Soziale Innovationen wurden zunehmend in nationale Programme integriert. Dabei hat kein anderes Land soziale Innovationen so stark und systematisch gefördert wie Portugal.
In Deutschland hat das Thema verstärkt ab 2015 seinen Weg in die Innovationspolitik gefunden. Ein wichtiger Schritt war der Bundestagsbeschluss "Soziale Innovationen stärker fördern und Potenziale effizienter nutzen" im Jahr 2020. Auch in der Innovations- und Sozialpolitik der Bundesländer ist die Diskussion um soziale Innovationen inzwischen angekommen. Nicht zuletzt hat auch die Ampel-Koalition das Thema gestärkt. Unter anderem hat sie die "Plattform für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen", kurz SIGU, initiiert, die eine zentrale Anlaufstelle für alle mit dem Themenfeld verbundenen Interessengruppen bilden soll.
Die SIGU-Plattform war Teil der sogenannten "Nationalen Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen", die das Bundeskabinett im September 2023 beschlossen hat. Das war ein Durchbruch für die Anerkennung von sozialer Innovation in Deutschland?
Christoph Kaletka: Ja, das war es! Hier wurde nicht nur erstmals eine gemeinsame und umfassende, viele Politikbereiche einschließende Strategie auf nationaler Ebene entwickelt. Es wurden auch konkrete Umsetzungsvorschläge und -strategien ausgearbeitet. Heute sind bereits viele Maßnahmen eingeleitet. Die SIGU-Plattform bringt Sichtbarkeit und bietet eine Vernetzungsmöglichkeit für all diejenigen, die in Deutschland soziale Innovationen voranbringen wollen. Die neue Hightech-Strategie sowie der erwähnte Bundestagsbeschluss haben hier wichtige Vorarbeiten geleistet. Ebenso die zahlreichen einschlägigen Initiativen aus der Gesellschaft, die das Thema schon frühzeitig aufgegriffen und vorangetrieben haben. Hierbei spielt insbesondere das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND) eine wichtige Rolle.
Mit der "Nationalen Strategie" gehört Deutschland mit Ländern wie Portugal international inzwischen zu den Promotoren der Entwicklung sozialer Innovationen. Die auf den Weg gebrachten Initiativen sollen in den nächsten Jahren konsequent umgesetzt und weiterentwickelt werden. Wichtige Zukunftsherausforderungen sind die Anbindung sozialer Innovationen an Transformationen im Bereich Klima, Demografie und Digitalisierung, verlässlichere Finanzierungsmöglichkeiten und die dauerhafte Etablierung des Themas in der Öffentlichkeit.
Weil Sie Portugal erwähnten: Was hat Portugal mehr und was anders gemacht?
Christoph Kaletka: 2014 wurde "Portugal Inovação Social" von der portugiesischen Regierung gegründet, mit dem Ziel, soziale Innovationen zu fördern und einen Markt für soziale Investitionen zu entwickeln. Das Besondere: Dort hat man innovative Finanzierungsinstrumente ausprobiert, einen öffentlichen Investitionsfonds geschaffen und den Aufbau regionaler, sektorübergreifender Partnerschaften vorangetrieben, weil diese die Entwicklungsbedingungen vor Ort besser kennen als ein zentraler nationaler Akteur. Auch der lange Atem ist erwähnenswert, Portugal Inovação Social ist seit vielen Jahren kontinuierlich sehr aktiv.
Hinter diesen Initiativen steht ein breites Verständnis von Innovation, das sowohl wirtschaftliche und technologische als auch soziale Innovationen einschließt?
Jürgen Howaldt: Ja, ein solches breit angelegtes Innovationsverständnis bildet sich zunehmend heraus. Für viele Jahrzehnte hat sich die Innovationspolitik - Schumpeter folgend - auf ein enges wirtschaftlich-technologisches Verständnis von Innovationen fokussiert. Mit dem Konzept der sozialen Innovationen rückt nun zunehmend die Bedeutung von Innovationen zur Gestaltung der Gesellschaft in den Blickpunkt. Soziale und gemeinwohlorientierte Unternehmen übernehmen hier eine wichtige Brückenfunktion, in dem sie versuchen, soziale Ziele mit wirtschaftlichen Mitteln zu erreichen. Aber auch viele traditionelle Unternehmen sind sich zunehmend ihrer Bedeutung bei der Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen bewusst. So gewinnen Managementkonzepte wie Corporate Social Responsibility, Shared Value oder Corporate Social Innovation in der Praxis an Gewicht.
Christoph Kaletka: In einem veränderten Innovationsverständnis spielt zudem auch die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle. Es geht eben nicht nur und zuerst um die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, sondern um Lösungen, die uns helfen, besser mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen. Dies kann vielfältige Formen annehmen - von der Bürgerbeteiligung bei der Bewältigung des Klimawandels über Projekte zur Integration bildungsferner Schichten bis hin zum nachbarschaftlichen Engagement im demografischen Wandel.
Worauf stützt sich die Erwartung, dass soziale Innovationen bessere Lösungen hervorbringen?
Christoph Kaletka: Soziale Innovationen bringen nicht grundsätzlich "bessere" Lösungen hervor. Solch eine starke normative Bewertung wäre auch kaum zu begründen. Indem aber neben klassischen technologischen Innovationen auch sozialen Innovationen Bedeutung beigemessen und Aufmerksamkeit zuteilwird, erweitert sich die Innovationskapazität der Gesellschaft insgesamt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil soziale Innovationen häufig in sektorübergreifenden Kooperationen entstehen, die partizipativ angelegt sind und aus der Zivilgesellschaft heraus wachsen - wobei insbesondere die Zivilgesellschaft in den klassischen Konzepten der Innovationspolitik kaum vorkommt. Mit diesem breiteren Innovationsansatz kommen mehr Lösungsoptionen auf den Tisch: in Form von Technologien und sozialen Praktiken, die sich wiederum gegenseitig anschieben können.
Sie haben eingangs von einem "Ökosystem sozialer Innovation" gesprochen. Was genau ist damit gemeint?
Christoph Kaletka: Die Innovationsforschung befasst sich seit langem mit der Frage, welche Faktoren eigentlich die Entstehung und Verbreitung von Innovationen beeinflussen. Der Begriff des Systems, wie ihn unter anderen der Wirtschaftswissenschaftler Christopher Freeman geprägt hat, bezieht sich auf alle Elemente, die hier Einfluss nehmen, und ihre Beziehungen zueinander - sei es in Form förderlicher oder hinderlicher Rahmenbedingungen. Solch ein systemischer Ansatz ist auch für das Feld sozialer Innovation hochinteressant. Wir betrachten in unserem ökosystemischen Zwiebelmodell sozialer Innovation neben den Akteuren auch weitere Faktoren wie politische, kulturelle und rechtliche Rahmenbedingungen sowie technologische und innovationsfördernde Infrastrukturen.
Zwiebelmodell? "Zwiebel" wegen der Form wie bei der "Bolte-Zwiebel" des Soziologen Karl Martin Bolte zur Veranschaulichung der Struktur sozialer Ungleichheit? Oder wegen des schalenförmigen Aufbaus?
Christoph Kaletka: Ja, der Name des Modells leitet sich aus dem vierschaligen Aufbau ab. Ökosysteme sozialer Innovation sind komplexe Gebilde. Eine angemessene Heuristik zur Beschreibung und Analyse der Vielzahl von hemmenden und fördernden Faktoren in solch einem Setting muss jenseits der Akteursebene auch weitere Faktoren mit einbeziehen. Das Zwiebelmodell umfasst die folgenden vier "Schalen": einen normativen Kontext mit Gesetzen, ethischen Standards oder Traditionen, die für die Entwicklung oder das Scheitern sozialer Innovationen relevant sein können; zweitens einen strukturellen Kontext mit ökonomischen, politischen oder technologischen Rahmenbedingungen; drittens eine funktionale Ebene, auf der zum Beispiel Governance-Ansätze und Partizipationsformen verortet werden; sowie viertens einen Rollenkontext, der beteiligte Akteure und Netzwerke, ihre Einstellungen, Motivationen und Kompetenzen umfasst.
Entsprechend hat jedes Land, jede Stadt ein eigenes, spezifisches Ökosystem sozialer Innovation. Die Weiterentwicklung und bewusste Gestaltung solcher Systeme ist eine bisher vernachlässigte Aufgabe der Innovationspolitik. Forschung kann hierzu wichtige Beiträge leisten, müsste aber verstärkt vergleichende Studien zu lokalen und nationalen Ökosystemen sozialer Innovation durchführen.
Was bedeutet das Scheitern der Ampel-Koalition für die Förderung sozialer Innovationen? Oder anders gefragt: War die "Nationale Strategie" ein Projekt der rot-grün-gelben Bundesregierung oder gab es hier weitergehende politische Gemeinsamkeiten?
Jürgen Howaldt: Die Bedeutung sozialer Innovationen wurde in den letzten Jahren parteiübergreifend anerkannt: Der Bundestagsbeschluss 2020 ist von der Großen Koalition initiiert und angenommen worden - bei Enthaltung der Grünen, der FDP und der Linken, die aber zum Teil eigene Resolutionen zum Thema eingebracht haben. Es ging dabei weniger darum, ob soziale Innovationen zukünftig stärker gefördert werden, sondern welches hierbei der richtige Weg ist.
Christoph Kaletka: Die "Ampel" hat das Thema nochmals stark forciert. Bei allen Unterschieden im Detail ist soziale Innovation programmatisch breit anschlussfähig und letztlich unverzichtbar, wenn man Herausforderungen wie den demografischen Wandel, die Transformation der Industrie, klimafreundlichere Mobilität und viele weitere in den Griff bekommen will. Deshalb ist die Förderung sozialer Innovationen auf europäischer Ebene und darüber hinaus zu einem zentralen Bestandteil staatlicher Innovationspolitik geworden. Welche konkreten Politikmodelle und -ansätze hier am besten geeignet sind, welche quantifizierbaren Impact-Kriterien bedeutsam sind, welche Rolle Städten und Regionen zukommt, welche Themen priorisiert werden sollten und inwieweit Hochschulen eine stärkere Rolle spielen können, ist Gegenstand der aktuellen Diskussion.
Welche Rolle spielen Hochschulen und Wissenschaften dabei? Wie lässt sich das Thema soziale Innovation in Forschung und Lehre stärken?
Christoph Kaletka: Die zentrale Aufgabe der TU Dortmund als wissenschaftlicher Partner im Konsortium der SIGU-Plattform ist der Aufbau und die Konsolidierung eines wissenschaftlichen Netzwerks zur Verankerung von sozialen Innovationen in Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland. Dazu haben wir im September 2024 eine Konferenz ausgerichtet, die viele Beteiligte zusammengebracht hat. Und zwar nicht nur dezidierte Expertinnen und Experten aus dem Forschungsfeld, sondern auch aus Hochschulleitungen und Transferzentren. Dabei hat sich ein Grundkonsens zur Rolle sozialer Innovationen abgezeichnet: Hochschulen brauchen soziale Innovation als wichtigen neuen Baustein ihres Innovations- und Transferkonzepts und bei der Stärkung ihrer Rolle in der Gesellschaft. Für eine solche strategische Neuausrichtung braucht es aber wiederum verlässliche politische Rahmenbedingungen. Deutlich geworden ist auch der allgemeine Wandel in der Wahrnehmung sozialer Innovation. Um es pointiert auszudrücken: Heute fragt niemand mehr, "Soziale Innovation - was ist das eigentlich?" Sondern eher: "Wie machen wir es konkret? Wohin entwickelt sich die Forschung? Was gibt es für gute Beispiele und was können wir daraus lernen?"
Soziale Innovation ist ursprünglich im Feld der Innovationstheorie angesiedelt. Gibt es Berührungspunkte zu anderen Theoriefeldern?
Jürgen Howaldt: Das Thema soziale Innovation hat eine lange Tradition und hat in unterschiedlichen Forschungsfeldern Eingang gefunden: in der Management- und Organisationsforschung - insbesondere im Kontext von Untersuchungen zum Zusammenhang von Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen - ebenso wie in der Kreativitätsforschung und in der Regionalforschung mit Blick auf lokale und regionale Entwicklungsprozesse und die Rolle der "Social Economy". In den letzten Jahren wurde soziale Innovation zunehmend auch zum Gegenstand der Dienstleistungs- und Entrepreneurship-Forschung. Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Thema aber auch in der Forschung zur nachhaltigen Entwicklung und darauf bezogenen gesellschaftlichen Transformationsprozessen.
Hat sich mittlerweile so etwas wie ein einheitliches Verständnis sozialer Innovation herauskristallisiert? Oder stehen weiterhin unterschiedliche Definitionen im Raum?
Jürgen Howaldt: Mit der wachsenden politischen und gesellschaftlichen Bedeutung sozialer Innovation hat sich auch eine internationale Forschungsgemeinschaft herausgebildet. In diesem Rahmen werden die unterschiedlichen Ansätze und Konzepte intensiv diskutiert. Dabei lassen sich ausgehend von der doppelten Bedeutung des Wortes "sozial" im Wesentlichen zwei Konzeptionen voneinander unterscheiden. Zum einen normative Ansätze, die soziale Innovationen als am Gemeinwohl orientierte Innovationen verstehen. Zum anderen analytische Konzeptionen, die soziale Innovationen - auch in Abgrenzung zu technologischen Innovationen - als die bewusste Neugestaltung von Formen des Zusammenlebens der Menschen in der Gesellschaft begreifen - beispielsweise soziale Praktiken, Organisationsformen, Institutionen et cetera.
In Deutschland werden soziale Innovationen in Anlehnung an unsere konzeptionellen Überlegungen im Wesentlichen als neue soziale Praktiken und Organisationsmodelle verstanden, die darauf abzielen, für die Herausforderungen unserer Gesellschaft tragfähige und nachhaltige Lösungen zu finden.
Das scheint mir ein wichtiger Punkt! Es gibt also zwei unterschiedliche Denkschulen: Die eine begreift soziale Innovationen eher instrumentell als Mittel zum Erreichen eines gesellschaftlich wünschenswerten Zwecks; sie ist eher marktorientiert, stammt aus dem Umfeld der Managementtheorie und ist mit Social Entrepreneurship assoziiert. Die zweite begreift soziale Innovation in einer soziologischen Perspektive als gesellschaftliches Geschehen, als eine Form sozialen Wandels, der aus der Gesellschaft heraus entsteht - als (in Ihren Worten) "bewusste Neugestaltung von Formen des Zusammenlebens der Menschen". Lässt sich dieser Gegensatz überbrücken, ja vielleicht sogar für das Verständnis und die Erforschung sozialer Innovation fruchtbar machen?
Jürgen Howaldt: Es gibt inzwischen zahlreiche Communitys und Denkschulen, die sich aus unterschiedlicher thematischer und disziplinärer Perspektive mit sozialen Innovationen beschäftigen. Die hier verwendeten Definitionen sind zahlreich und vor dem Hintergrund der jeweiligen Forschungstradition entstanden. Es lassen sich dabei aber die von Ihnen beschriebenen Grundausrichtungen ausmachen. Diese Idealtypen lassen sich aus den beiden grundlegenden Bedeutungen des Wortes "sozial" ableiten: zum einen "sozial" als ein normatives Verständnis, eine am Gemeinwohl ausgerichtete, der Allgemeinheit dienende Kategorie; zum anderen "sozial" als eine Kategorie im Sinne einer analytischen Gegenstandsbeschreibung, die das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft betrifft.
In den letzten Jahren hat sich eine die einzelnen Forschungsfelder übergreifende Forschungsgemeinschaft gebildet, in der ein fruchtbarer Diskurs der unterschiedlichen Konzeptionen stattfindet. Gemeinsam ist den beiden Ausrichtungen ein kritischer Blick auf das verengte technologisch-ökonomische Innovationsverständnis. Und beide beschäftigen sich mit der Frage, wie soziale Innovationen zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen hin zu einer nachhaltigen und lebenswerten Gesellschaft beitragen können.
Soziale Innovation rührt an die grundlegende Frage, wie sich Gesellschaften verändern. Hilft der Ansatz sozialer Innovationen, sozialen und gesellschaftlichen Wandel besser zu verstehen?
Jürgen Howaldt: Ja. Das hängt auch damit zusammen, dass die Diskussion um soziale Innovation schon in ihren Anfängen im späten 18. Jahrhundert eng mit der Frage nach sozialem Wandel und gesellschaftlichen Transformationsprozessen verbunden war. Der kanadische Politikwissenschaftler und Soziologe Benoît Godin hat diesen Zusammenhang in seinen historischen Studien zum Innovationsbegriff im Allgemeinen und zum Begriff der sozialen Innovation sehr detailliert nachgezeichnet. Man könnte sagen, dass die vielen kleinen (und großen) sozialen Innovationen die Bausteine und Treiber des sozialen Wandels sind. Wie in Schumpeters Wirtschaftstheorie die von den Unternehmern auf dem Markt durchgesetzten Innovationen die Grundlage für die Dynamik der Wirtschaft sind, so sind soziale Innovationen der Motor unserer Gesellschaften. Sie entstehen in der Regel in einem Zusammenspiel von unterschiedlichen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und zunehmend auch der Wissenschaft und treiben die gesellschaftlichen Entwicklungen und Transformationen voran.
Was im Rückblick als große Transformation erscheinen mag, ist letztlich immer das Ergebnis des Zusammenspiels von zahlreichen kleinen Veränderungen: partikulare Wandlungen, Keime des Neuen. Solche experimentellen Such- und Lernprozesse lassen sich nicht politisch oder administrativ planen. Sie reifen als Potenziale einer möglichen anderen Entwicklung in dieser Gesellschaft heran. Transformation bedeutet, diese Potenziale freizusetzen, auszureizen, miteinander zu verbinden, weiterzuentwickeln und schließlich gegen vielfältige Blockaden und Widerstände institutionell abzusichern. Sozialer Wandel und gesellschaftliche Transformation sind in diesem Sinne ein mehrdimensionaler, komplexer und kontingenter Prozess, in dem sich das Vergehen des Alten und das Entstehen des Neuen nicht nacheinander, sondern parallel verlaufend vollziehen.
In diesem Sinne gibt es weder eherne Gesetze, die unseren Weg vorbestimmen, noch ein Ende der Geschichte. Insofern ist der Begriff der sozialen Innovation eng mit dem Glauben an die Gestaltbarkeit unserer sozialen Institutionen und Praktiken verbunden - ein Prozess, an dem eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sind.
Das Interview haben wir in einem schriftlichen Austausch von Fragen und Antworten per E-Mail geführt. Die endgültige Fassung wurde von den beiden Interviewpartnern gegengelesen.
Die Interviewpartner
Prof. Dr. Jürgen Howaldt ist Professor an der Fakultät Sozialwissenschaften der Technischen Universität Dortmund und Direktor der Sozialforschungsstelle (sfs). Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind die sozialwissenschaftliche Innovationsforschung mit Schwerpunkt auf sozialen Innovationen sowie die arbeits- und organisationsbezogene Forschung.
Dr. habil. Christoph Kaletka ist stellvertretender Direktor der Sozialforschungsstelle (sfs) der Technischen Universität Dortmund. Dort koordiniert er die internationale Forschung und leitet nationale wie internationale Forschungsprojekte, darunter ein europäisches Verbundprojekt zu sozialen Innovationen. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind soziale Innovation und digitale Teilhabe.
Zitate
"Politik und Wissenschaft sind sich weitgehend einig, dass es ein umfassenderes Verständnis von Innovation braucht." Jürgen Howaldt: Keime des Neuen
"Sozialunternehmen sind in allen gesellschaftlichen Bereichen aktiv und auf Wachstumskurs." Christoph Kaletka: Keime des Neuen
"Mit dem Konzept der sozialen Innovationen rückt zunehmend die Bedeutung von Innovationen zur Gestaltung der Gesellschaft in den Blickpunkt." Jürgen Howaldt: Keime des Neuen
"Indem neben klassischen technologischen Innovationen auch sozialen Innovationen Bedeutung beigemessen wird, erweitert sich die Innovationskapazität der Gesellschaft insgesamt." Christoph Kaletka: Keime des Neuen
"Die Förderung sozialer Innovationen ist auf europäischer Ebene und darüber hinaus zu einem zentralen Bestandteil staatlicher Innovationspolitik geworden." Christoph Kaletka: Keime des Neuen
"Hochschulen brauchen soziale Innovation als wichtigen neuen Baustein ihres Innovations- und Transferkonzepts und bei der Stärkung ihrer Rolle in der Gesellschaft." Christoph Kaletka: Keime des Neuen
"Man könnte sagen, dass die vielen kleinen (und großen) sozialen Innovationen die Bausteine und Treiber des sozialen Wandels sind." Jürgen Howaldt: Keime des Neuen
"Was im Rückblick als große Transformation erscheinen mag, ist letztlich immer das Ergebnis des Zusammenspiels von zahlreichen kleinen Veränderungen." Jürgen Howaldt: Keime des Neuen
"Solche experimentellen Such- und Lernprozesse lassen sich nicht politisch oder administrativ planen. Sie reifen als Potenziale einer möglichen anderen Entwicklung in dieser Gesellschaft heran." Jürgen Howaldt: Keime des Neuen
changeX 12.04.2025. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zur Definition sozialer Innovation: Jürgen Howaldt, Christoph Kaletka: Soziale Innovation - internationale Trends und Herausforderungen, in: Jürgen Howaldt, Miriam Kreibich, Jürgen Streicher, Carolin Thiem (Hg.): Zukunft gestalten mit Sozialen Innovationen. Neue Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2022, Seite 23-37, die Definition findet sich zitiert auf Seite 27. Das Buch ist über gesis via Open Access als kostenloser Download erhältlichZukunft gestalten mit Sozialen Innovationen
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Die Plattform für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen (SIGU) ist ein Verbundprojekt der Social Impact gGmbH, dem Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND) e.V. und der Technischen Universität Dortmund als wissenschaftlicher Partner. SIGU versteht sich als zentrale Anlaufstelle zum Thema soziale Innovationen. Sie bietet Informationen, praktische Tipps, Unterstützungsangebote und Vernetzungsmöglichkeiten für Sozialinnovator:innen, Förder- und Finanzpartner:innen sowie für Hochschulen, Forschung und Transferprojekte von der Wissenschaft in die Praxis.sigu-plattform.de
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Der in zwei Bänden vorliegende Atlas of Social Innovation bietet einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Erscheinungsformen und Praktiken sozialer Innovation in einer globalen Perspektive. Beide Bände sind via Open Access als kostenloser Download erhältlichsocialinnovationatlas.net
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Der Deutsche Social Entrepreneurship Monitor informiert seit 2018 über die vielfältigen Aktivitäten im Bereich Social Entrepreneurship. Der anfangs jährlich und seit 2022 alle zwei Jahre erscheinende Monitor möchte eine Entscheidungsgrundlage für die Unterstützung von Sozialunternehmen geben. Er wird herausgegeben vom Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND). SEND ist ein gemeinnütziger eingetragener Verein mit Sitz in Berlin und fungiert als Interessenverband der deutschen Sozialunternehmer-Branche. Übersicht und DownloadSocial Entrepreneurship Monitor
Zu den Büchern
Jürgen Howaldt, Christoph Kaletka unter Mitarbeit von Marthe Zirngiebl, Daniel Krüger und Karina Maldonado-Mariscal (Hg.): Encyclopedia of Social Innovation. Elgar Encyclopedias in Business and Management series. Edward Elgar Publishing Ltd, Cheltenham, UK 2023 2023, 467 Seiten, ca. 307 Euro (D), ISBN 978-1800373341
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Jürgen Howaldt, Christoph Kaletka, Antonius Schröder, Marthe Zirngiebl (Hg.): Atlas of Social Innovation. 2nd Volume: A World of New Practices. oekom Verlag, München 20195, 208 Seiten, Open Access, ISBN 978-3-96238-157-8
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Jürgen Howaldt, Christoph Kaletka, Antonius Schröder, Marthe Zirngiebl (Hg.): Atlas of Social Innovation. New Practices for a Better Future. Sozialforschungsstelle TU Dortmund, Dortmund 2018, 243 Seiten, Open Access, ISBN 978-3-921823-96-5
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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