Lernen neu gewendet
Definiere Erfolg (neu). Das ist das Ansinnen von Adam Grants aktuellem Buch. Entscheidend dabei ist der Gedanke, Erfolg nicht vom Ziel her zu begreifen, sondern über den Weg dorthin. Der Weg ist: besser werden. Deshalb ist dieses Buch zuvörderst ein Buch über das Lernen. Also: Definiere lernen (neu).
Erfolg und Glück gelten gemeinhin als wichtigste Lebensziele - doch warum steht Charakter nicht ganz oben auf der Liste?, fragt Adam Grant. "Was wäre, wenn wir alle so viel Energie in die Förderung unserer Charakterstärken investieren würden, wie wir sie für unsere Karriere aufbringen?" Charakter begreift Grant als "erlernte Fähigkeit, nach unseren Prinzipien zu leben" - respektive nach unseren Werten und unseren hohen persönlichen Standards, wie es an anderer Stelle heißt. Das ist offensichtlich ein anderes Verständnis von Erfolg als das übliche Erreichen von Zielen.
In seinem letzten Buch Think Again hat sich Adam Grant mit flexiblem Denken beschäftigt. Intelligenz nur als die Fähigkeit zu begreifen, zu denken und zu lernen, reiche heute nicht mehr aus. So seine These. Wichtiger wird die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen. Nach der Intelligenz knöpft sich Grant nun den Erfolgsbegriff vor. In seinem neuen Buch Hidden Potential geht es um die in uns schlummernden verborgenen Möglichkeiten. "In jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial", lautet Grants Ausgangsthese. Mit seinem Buch will er eine Anleitung geben, wie wir dieses Potenzial freisetzen können. Und er definiert auf diesem Weg Erfolg neu.
Definiere: Erfolg
Hier kommt nun der Charakter ins Spiel. In seinen Forschungsarbeiten hat sich der Professor an der Wharton Business School mit den Charakterstärken beschäftigt, die verborgenes Potenzial freisetzen können: Entschlossenheit, Disziplin und - ganz zentral - Proaktivität, also ein Geschehen selbst bestimmen zu können anstatt nur auf Geschehenes zu reagieren. Viel zu lange wurden solche Charakterstärken als sogenannte Soft Skills abgetan, kritisiert Grant. Und rückt sie ins Zentrum. Sein Buch handelt von diesen Charakterstärken und beschreibt Strukturen und Systeme, mit denen sie sich stärken lassen. Es enthält zahlreiche überzeugende praktische Ratschläge und beleuchtet etliche Sackgassen, in die sich die einschlägige Forschung verrannt hat. Das ist eine immer erfrischende wie erhellende Lektüre.
Und das wichtigste: Grant stellt die gängige Vorstellung, nach der Härte und Leistung über Erfolg entscheiden, radikal infrage. Und mit ihr das statische und monokausale Denken in Erfolgsfaktoren. Das ist vielleicht der entscheidende Punkt an diesem Buch: Adam Grant verabschiedet sich von statischem Denken in den Kategorien Start-Ziel-Erfolg. Dynamik und Flexibilität, die Elemente, die er in den Intelligenzbegriff einbrachte, bestimmen nun auch die Neufassung des Erfolgsbegriffs. Es geht nicht statisch um Ausgangsbedingungen und Ziele, sondern um den Weg, der zur Freisetzung verborgener Potenziale führt. Es geht um Entwicklung: Entscheidend sind nicht die Startbedingungen, entscheidend ist auch nicht, wie groß der Einsatz und wie perfekt das Ergebnis ist. Entscheidend ist der Weg, den man zurücklegt, die Entwicklung, die man vollzieht. Nicht auf Zielerreichung liegt der Fokus, sondern auf Wachstum. Und "Wachstum hat weniger damit zu tun, wie hart man arbeitet, als damit, wie gut man lernt." Lernen, seine Potenziale entwickeln, besser werden, das ist das zentrale Motiv, das Grant herausarbeitet. "Besser werden beim Besserwerden", ist die Maxime. Und es gebe keinen wichtigeren Wert, "als danach zu streben, morgen besser zu sein als heute". Das verlangt ein revidiertes Modell des Lernens. Die wichtigsten Bausteine dazu trägt Grant zusammen.
Proaktivität, Entschlossenheit und Disziplin
Mit Charaktereigenschaften, die verborgenes Potenzial freisetzen können, hat sich Grant in seiner Forschung beschäftigt. Potenzial freizusetzen bedeutet für ihn, eine lange Wegstrecke zurückzulegen - es gehe dabei "nicht darum, wo man anfängt, sondern darum, wie weit man kommt. Wir müssen uns weniger auf die Ausgangspunkte und mehr auf den zurückgelegten Weg konzentrieren." Bei der Untersuchung der entscheidenden Charaktereigenschaften, die dazu befähigen, hat Grant bestimmte wichtige Formen von Proaktivität, Entschlossenheit und Disziplin identifiziert. Große Entfernungen zu überwinden erfordere erstens "den Mut, die richtige Dosis an Unangenehmem auszuhalten", zweitens "die Fähigkeit, die richtigen Informationen aufzunehmen", und drittens "den Willen, die richtigen Unvollkommenheiten zu akzeptieren".
Wie aber entdeckt und erschließt man seine verborgenen Potenziale? Genau deshalb ist Grants Buch ein Buch über das Lernen. Es hält eine Fülle von Erkenntnissen bereit, wie sich Lernen verbessern und - ja: auf eine neue Grundlage stellen lässt. Dazu muss Grant zuerst einmal aufräumen mit Mythen und Halbwahrheiten, die sich ums Lernen ranken. Jedoch präsentiert Grant keine neue Lerntheorie. Eher Bausteine dazu. Im Folgenden sind einige dieser Klarstellungen und Bausteine zusammengetragen.
Das beginnt mit der Frage, wie eigentlich der Mythos von Fleiß und Härte das Denken über Arbeit und Lernen so tiefgreifend prägen konnte. Denn neuere Forschungen zeigen, dass zentrale Begründungen eines Zusammenhangs zwischen Disziplin und Erfolg auf wackeligen Füßen stehen. Mehr noch: Sie beruhen auf Missverständnissen, unglücklichen Begriffsbildungen und falschen Schlüssen. Vier solche Klarstellungen finden sich im Buch. Sie seien hier kurz zusammengefasst.
Aufräumen: Mythen und Halbwahrheiten, die sich ums Lernen ranken
Da ist einmal die bereits angesprochene Unterscheidung von Hard Skills und Soft Skills - diese aber keineswegs auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, wie Grant darlegt. Sondern auf einer zufälligen Alltagsbeobachtung, verbunden mit einer ungeschickten Wortwahl. Eingeführt wurde die begriffliche Unterscheidung von Psychologen bei der US Army - kurioserweise mit dem Ziel, Führungs- und Teamfähigkeiten in der militärischen Ausbildung ein größeres Gewicht zu verleihen. Doch man "traf eine unglückliche Wahl". Als "Hard Skills" bezeichneten die Psychologen die Fähigkeiten in der Benutzung von Waffen und militärischem Gerät - "hard" ganz einfach wegen der Härte von Metall. Im Gegensatz dazu wurden die sozialen und emotionalen und Fähigkeiten als "Soft Skills" bezeichnet. "Man nannte sie lediglich weich, weil sie nichts mit Metall zu tun hatten", so Grant. Doch die Soldaten wollten hart sein und nicht mit weichen Fähigkeiten in Verbindung gebracht werden. Als die Psychologen daraufhin die Abschaffung des Begriffs empfahlen, war es zu spät. Die Unterscheidung war in der Welt. Erst später setzte sich dann - kaum weniger glücklich - die heutige Bedeutung durch, wonach unter Hard Skills messbare und nachweisbare Fähigkeiten und Qualifikationen verstanden werden, die eine Person durch Ausbildung, Training und Erfahrung erwirbt, während Soft Skills allgemeinere "überfachliche" persönliche psychosoziale Fähigkeiten und Eigenschaften umfassen. Festgesetzt hat sich mit dieser Unterscheidung auch die implizite Wertung, wonach die harten die Kernfähigkeiten sind, die weichen das Drumherum. Alles in allem: unglücklich. Aber folgenreich.
Historisch weiter zurück reicht eine wohl noch folgenreichere Setzung: Die berühmte These Max Webers, wonach die protestantische Arbeitsethik - das Lob harter Arbeit also - den wirtschaftlichen Erfolg der Reformation begründete. Lange gehörte diese Theorie zu den grundlegenden Erklärungen für den industriellen Aufschwung. Doch neuere Forschungen ließen Zweifel wachsen. So zeigen die Wirtschaftswissenschaftler Sascha Becker und Ludger Wößmann in einer ausführlichen Studie, dass mit der Ausbreitung der Reformation das Wirtschaftswachstum stieg, dies aber nicht unbedingt daran lag, dass die Menschen härter gearbeitet hätten. Vielmehr gibt es eine positive Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Alphabetisierung. Deshalb liegt nahe, "dass der Katalysator der Reformation weniger die Arbeitsmoral als vielmehr die Alphabetisierung war", wie Grant zusammenfasst. Die Forderung Luthers, die Menschen sollten die Bibel selbst lesen, bedeutete zuallererst, dass sie lesen lernen mussten. Sobald sie dies beherrschten, ließ sich diese universelle Fähigkeit auf alles Geschriebene oder Gedruckte anwenden, nicht nur auf die heilige Schrift. So bekamen sie "Zugang zu einer ganzen Welt an Informationen." Lese- und Schreibkenntnisse ermöglichten es, so der Autor, Charaktereigenschaften effektiver zu nutzen, proaktiv zu sein und mehr und schneller zu lernen. Grundsätzlich: "Der Wohlstand wächst, wenn Menschen eher in der Lage sind, neue Ideen aufzunehmen und alte auszusortieren."
Auf die Macht der Disziplin schien auch der berühmte Marshmallow-Test hinzuweisen, ein klassisches Experiment zu Belohnungsaufschub und Impulskontrolle, das der Psychologe Walter Mischel 1968 bis 1974 durchgeführt hat. Der Studie zufolge sind Menschen, die im Kindesalter Disziplin unter Beweis stellen, im späteren Leben dann erfolgreicher. Die These: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Belohnungsaufschub und Erfolg im späteren Leben. Oder anders gesagt, spielt Selbstbeherrschung eine wichtige Rolle für den Lebenserfolg. Das Experiment kurz rekapituliert: Kinder wurden mit einem Marshmallow auf einem Teller in einem Raum alleingelassen. Das Versprechen: Wenn sie die Süßigkeit bis zur Rückkehr des Versuchsleiters nicht verputzten, sollten sie einen zweiten Marshmallow dazu bekommen. Diese "Belohnungsverzögerung" wertete die Studie als Zeichen von Disziplin und diese wiederum als wesentlichen Faktor für Erfolg im späteren Leben. Neueren Forschungen zufolge, so Grant, ist dieser Kausalschluss "Disziplin bewirkt Erfolg" aber nicht zwingend. Es gibt andere Erklärungen.
Zwar wurde der Marshmallow-Test wurde seither immer wieder überprüft, wobei die Ergebnisse im Wesentlichen bestätigt werden konnten, allerdings erwies sich der Faktor Disziplin als weniger wirksam als ursprünglich angenommen. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, die Wirkung dieses einen Faktors aus der anderer Einflussfaktoren herauszurechnen. Eine grundlegende Kritik zielt denn auch darauf, dass der Marshmallow-Test den - damals durchaus bekannten - Einfluss des sozialen Milieus vernachlässigt hat. Auf diese Kritik bezieht sich auch Adam Grant. Er hinterfragt die Annahme, "dass Belohnungsverzögerung ein Zeichen von Disziplin ist". Jüngere Forschungen deuteten darauf hin, "dass es vielmehr Anzeichen von sozialer Stabilität sein könnte, auf den zusätzlichen Marshmallow zu warten". So könnte der Schlüssel auch in der sozialen Herkunft liegen. Mit stabilen sozioökonomischen Verhältnissen geht eine hohe Erwartungssicherheit einher, dass Zusagen auch eingehalten werden. In unsicheren sozialen Verhältnissen fehlt dieses Vertrauen. Wer in Unsicherheit aufwächst, wird sich eher für den sicheren, schnellen Genuss entscheiden. Von wegen Disziplin = Erfolg.
Schließlich der Mythos der 10.000 Übungsstunden, die es brauche, um es in einer bestimmten Disziplin zur Meisterschaft zu bringen. Eine These, die es zu erstaunlicher Popularität brachte, wohl auch der magischen Zahl 10.000 wegen. Wer sich allerdings schon einmal über die allzu runde und pauschale Zahlenangabe gewundert hat, lag richtig. "Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die tatsächliche Stundenzahl, die erforderlich ist, um exzellente Leistungen auf einem bestimmten Gebiet zu erbringen, von Mensch zu Mensch und von Tätigkeit zu Tätigkeit stark variiert." Hinzu kommt, so der Autor, dass die 10.000-Stunden-Theorie den Fokus auf das Üben legt, also eine auf das Wiederholen angelegte Lernmethode, die als Deliberate practice (zielgerichtetes Üben) Eingang in die Didaktik gefunden hat. Der Begriff bezeichnet das regelmäßige und konzentrierte Ausführen von anstrengenden Übungsaktivitäten mit dem Ziel der Leistungsverbesserung. Also eine sture, repetitive Lernmethode, die eher Disziplin verlangt und nicht Begeisterung. Und die, wie Grant vermerkt, besonders gut für vorhersehbare Aufgaben und geregelte Abläufe geeignet ist. Für das also, was in der Industriegesellschaft verlangt war. Aber heute nicht mehr recht weiterhilft.
Grant räumt also auf in der Bildungslandschaft. Er bricht mit tradierten Glaubenssätzen und statischen Modellvorstellungen. Dazu gehört auch die Theorie der Lernstile oder Lerntypen, die sich gegen das in der Nachkriegszeit übliche als fabrikmäßig kritisierte Lernen in Form standardisierter Lerneinheiten richtete. Diese Lernmethode zog zunehmend Kritik auf sich. Die Unterrichtsmethoden müssten die unterschiedlichen Lernstile der Lernenden berücksichtigen, lautete die Forderung einer in den 1970er-Jahren aufkommenden neuen Lehre, die es zu enormer Popularität brachte: die Theorie der Lerntypen oder Lernstile. Das Problem sei nur, so Grant: "An den Lerntypen ist nichts dran." Eine Sichtung der einschlägigen Forschungsarbeiten fand "erschreckend wenig, das diese Theorie stützte", schreibt er. Ein entscheidender Punkt kommt hinzu: Orientierung am eigenen Lernstil, das heißt für ihn: in dem Modus zu lernen, in dem man sich am wohlsten fühlt. Das sei aber gerade nicht die Art, wie man am besten lernt.
Schließlich das Streben nach Perfektion - auch hier haben neue Forschungsarbeiten ergeben, dass Perfektionismus nichts mit Höchstleistungen zu tun hat. Im Gegenteil. "Perfektionismus hält uns in einer Spirale aus Tunnelblick und Fehlervermeidung gefangen: Er hindert uns daran, größere Probleme zu erkennen und beschränkt uns darauf, sehr begrenzte Fähigkeiten immer weiter zu verbessern." Das Gegenteil von Perfektionismus sei richtig: Unbehagen anzunehmen und Fehler zuzulassen, ja sie zu provozieren.
Lerngerüste und zwei Formen von Mut
Das sind die zentralen Erkenntnisse, die Grant in seinem Buch vorstellt. Zwei Formen von Mut sind demnach gefragt. Erstens gelingt Lernen dann am besten, wenn man sich unwohl fühlt. "Das ist die erste Form von Mut: sich zu trauen, Unannehmlichkeiten auszuhalten und den eigenen Lernstil über den Haufen zu werfen." Es gelte, den eigenen unabhängigen Lernansatz zu finden und die Möglichkeit und Motivation zum Lernen zu entwickeln.
Viele Fehler zu machen - je mehr, desto besser - ist die zweite Lektion: "Den Lernprozess zu beschleunigen erfordert eine zweite Form von Mut: sich zu trauen, das Wissen zu nutzen, noch während man es erwirbt." Und damit sind Fehler unausweichlich. Den Lernprozess beschleunigen bedeutet, relevantes Wissen zu erkennen und so viel wie möglich davon aufzunehmen. Wie ein menschlicher Schwamm zu sein, ist die Maxime. Wissen nutzen, noch während man es erwirbt, das bedeutet, Erlerntes anwenden, noch bevor man es perfekt beherrscht. "Nur durch die Praxis können wir lernen", so der Autor. Gefordert ist der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser. Grant spricht in diesem Zusammenhang auch von der Komfortzone, die es zu verlassen gelte - allerdings nicht im Sinne des beliebten Vorwurfs, Mitarbeiter würden es sich in dieser bequem machen, statt Leistung zu erbringen. Grant zielt auf Selbststeuerung. Und meint, wie gesagt: Unwohlsein akzeptieren.
Diese Erkenntnisse hat Grant bei der Beschäftigung mit dem Lernen von Fremdsprachen entwickelt. "Die Idee, vom ersten Tag an zu sprechen, hat mein Denken über das Lernen verändert", schreibt er. Die Regel, die er daraus ableitet, klingt kurios: "Legen Sie eine Fehlerquote fest." Freilich nicht im Sinne von Perfektionismus. Sondern als Mindestanzahl an Fehlern, die man pro Tag oder Woche machen will. Um besser zu werden.
Diese Charakterstärken zu entwickeln, ist das Thema des ersten Teils im Buch. Im zweiten Teil geht es dann um Scaffolding (engl.: Gerüstbau). Dieser Begriff bezeichnet Stützstrukturen, die helfen, Hindernisse zu überwinden. Solche Unterstützungsstrukturen sind spezifisch auf das Hindernis zugeschnitten, sie kommen nur temporär zum Einsatz und sie werden meist von einem Lehrer oder Coach bereitgestellt. Es sind Gerüste, schreibt Grant, wiederum die Metapher des Wegs verwendend, "die es uns ermöglichen, Anhöhen zu erklimmen, die wir alleine nicht erreichen könnten". Spielerisch lernen (Deliberate Play), Neues und Abwechslung einbauen sowie Phasen für Ruhe und Erholung vorsehen, sind solche strukturierenden Elemente im Lernprozess. Umkehren, wenn man nicht weiterkommt, ist eine weitere Regel. Um Rat fragen, statt um Feedback zu bitten, auf mehrere Unterstützer bauen und schnell dazu übergehen, zu lehren, was man lernen will, sind weitere Ratschläge. Der dritte Buchteil widmet sich dann sozialen Formen des Lernens; es geht um "Chancensysteme" - um kollektive Intelligenz in Schulen, Teams und Hochschulen.
Fazit: Mit seinem Buch legt der Autor Bausteine einer Lerntheorie vor, die nicht nur neuere Erkenntnisse aus Hirnforschung und Pädagogik einbezieht, sondern auch an das Wissen aus Entrepreneurship und Startupkultur andockt. Früh und oft Fehler zu machen zum Beispiel. Entscheidend dabei: Es gilt, seinen eigenen Lernstil zu entwickeln, dabei auf Rat und Unterstützung anderer zu bauen und wiederum anderen Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Grant denkt Lernen nicht als nicht bloß individuellen, sondern als kollaborativen Vorgang.
Allerdings - und das ist wohl dem erzählenden Stil des Buchs geschuldet - wird der Begriff des Scaffolding nicht wirklich deutlich. Jedenfalls nicht im Sinne einer Definition. Ein kleines Beispiel im Buch illustriert indes sehr schön, was gemeint ist - und es unterstreicht, dass der Marshmallow-Test auch anders gesehen und interpretiert werden kann. Grant reflektiert dabei seine Erwartungshaltung: Als er zum ersten Mal Videoaufnahmen von Kindern bei dem Test anschaute, hatte er erwartet, "ein paar Vorschülern mit eiserner Willenskraft zu begegnen", schreibt er. "Stattdessen sah ich Kids, die sich Gerüste bauten, um ihre Willenskraft gar nicht erst auf die Probe stellen zu müssen. Einige hielten sich die Augen zu oder legten die Hand auf das Marshmallow. Andere setzten sich auf ihre Hände. Einer knautschte das Marshmallow zu einem Ball zusammen und benutzte es als Spielzeug. Diese Kinder hatten ihre eigene Form des Deliberate Play improvisiert." Ad-hoc-Strategien also, die helfen, in einer bestimmten Situation weiterzukommen. Tricks, Hacks, Routinen.
Dieses Beispiel verändert zugleich den Blick auf dieses vielleicht berühmteste psychologische Experiment: Hätten die Forscher vielleicht besser auf Kreativität schauen sollen, statt auf Disziplin? Von den Fragen hängt es ab, welche Ergebnisse erzielt werden. Doch welche Fragen gestellt werden, ist wiederum abhängig von den Wertepräferenzen, die in einer bestimmten Zeit im Vordergrund stehen. Disziplin damals, Kreativität heute. Was aber auch schon wieder zu pauschal ist.
Die größte Leistung: unser verborgenes Potenzial freisetzen
Zum Schluss der Kerngedanke des Buchs in zwei Zitaten: "Definieren Sie Erfolg neu. Die bedeutendste Form von Leistung ist Fortschritt", schreibt Adam Grant. Und variiert seine Kernaussage: "Was zählt, ist nicht, wie hart man arbeitet, sondern in welchem Maß man sich entwickelt."
Der Schlussabsatz des Buchs sei hier im vollen Wortlaut wiedergegeben: "Erfolg ist mehr, als nur unsere Ziele zu erreichen - es geht darum, unsere Werte zu leben. Und es gibt keinen wichtigeren Wert, als danach zu streben, morgen besser zu sein als heute. Die größte aller Leistungen ist es, unser verborgenes Potenzial freizusetzen."
Zitate
"Was wäre, wenn wir alle so viel Energie in die Förderung unserer Charakterstärken investieren würden, wie wir sie für unsere Karriere aufbringen?" Adam Grant: Hidden Potential
"In jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial." Adam Grant: Hidden Potential
"Wachstum hat weniger damit zu tun, wie hart man arbeitet, als damit, wie gut man lernt." Adam Grant: Hidden Potential
"Die bedeutendste Form von Leistung ist Fortschritt." Adam Grant: Hidden Potential
"Der Wohlstand wächst, wenn Menschen eher in der Lage sind, neue Ideen aufzunehmen und alte auszusortieren." Adam Grant: Hidden Potential
"Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die tatsächliche Stundenzahl, die erforderlich ist, um exzellente Leistungen auf einem bestimmten Gebiet zu erbringen, von Mensch zu Mensch und von Tätigkeit zu Tätigkeit stark variiert." Adam Grant: Hidden Potential
"An den Lerntypen ist nichts dran." Adam Grant: Hidden Potential
"Perfektionismus hält uns in einer Spirale aus Tunnelblick und Fehlervermeidung gefangen: Er hindert uns daran, größere Probleme zu erkennen und beschränkt uns darauf, sehr begrenzte Fähigkeiten immer weiter zu verbessern." Adam Grant: Hidden Potential
"Nur durch die Praxis können wir lernen." Adam Grant: Hidden Potential
"Das ist die erste Form von Mut: sich zu trauen, Unannehmlichkeiten auszuhalten und den eigenen Lernstil über den Haufen zu werfen. (…) Den Lernprozess zu beschleunigen erfordert eine zweite Form von Mut: sich zu trauen, das Wissen zu nutzen, noch während man es erwirbt." Adam Grant: Hidden Potential
"Was zählt, ist nicht, wie hart man arbeitet, sondern in welchem Maß man sich entwickelt." Adam Grant: Hidden Potential
"Erfolg ist mehr, als nur unsere Ziele zu erreichen - es geht darum, unsere Werte zu leben. Und es gibt keinen wichtigeren Wert, als danach zu streben, morgen besser zu sein als heute. Die größte aller Leistungen ist es, unser verborgenes Potenzial freizusetzen." Adam Grant: Hidden Potential
changeX 04.10.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zu Buch und Rezension: Adam Grants Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein erzählendes Sachbuch. Im Vordergrund stehen Geschichten, in denen es meist um Personen und persönliche Begegnungen geht. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse sind eingeflochten. Sie finden sich verteilt über das Buch, sind selbstverständlich aber in Fußnoten und Quellenangaben genau belegt. In diesem Text sind einige zentrale Erkenntnisse zusammengestellt. Hier die Themen mit den Fundstellen im Buch: Hard Skills und Soft Skills: 34; protestantische Arbeitsethik: 63-67; Marshmallow-Test: 129; 10.000-Stunden-Theorie: 118f.; Lerntypen, Lernstile: 42; Perfektionismus: 83-107. Die Zitate im Text finden sich im Buch auf den Seiten 15, 23, 34, 35, 42, 43, 50, 58, 64, 67, 91, 109, 110, 118, 129, 293 und 294.
Zum Buch
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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