Erfolg und anderes neu gewendet
In unserer Buchauslese geht es diesmal um: die verborgenen Potenziale, die in jedem Menschen schlummern; um ein neues, nicht nur individualistisches Verständnis von Mindset; um Kairos als Wegweiser zu einer komplexeren Zeitwahrnehmung; um Verletzlichkeit als Ankerpunkt einer sorgenden Ethik; um den Einfluss, den einfache Menschen auf die Geschichte nehmen können; und schließlich um Klimaversagen: Warum Gesellschaften nicht in der Lage sind, den Klimawandel aufzuhalten - und was man trotzdem tun kann.
Adam Grant sagt, "in jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial". In seinem Buch zeigt der Professor für Organisationspsychologie, wie wir es freisetzen können - und definiert auf diesem Weg Erfolg neu. Die Psychologieprofessorin Mary C. Murphy wendet sich gegen ein individualistisches Verständnis von Mindsets. Sie zeigt, dass auch soziale Gruppen, Organisationen und Kontexte ein Mindset haben können, eine Mindset-Kultur, die bestimmt, wie die Mitglieder denken, fühlen und auftreten. Die niederländische Philosophin Joke Hermsen entdeckt Kairos, den mythischen Gott der Zeit, neu und erkundet, was Kairos zu einem neuen, vielschichtigeren Zeitempfinden beitragen kann. Der Arzt, Medizinethiker und Philosoph Giovanni Maio begreift Verletzlichkeit als Grundmerkmal des Menschen. Er zeigt, dass Verletzlichkeit kein Gegenpol zur Autonomie ist und zugleich das ethische Gebot der Sorge für andere begründet. Der Autor Loel Zwecker rückt Menschen ohne Macht und Einfluss in den Blick, grundlegende Veränderungen angestoßen haben, und erzählt, welchen Einfluss einfache Leute auf die Geschichte nehmen können. Der Soziologe Jens Beckert schließlich zeigt, warum die Gesellschaften der kapitalistischen Moderne nicht in der Lage sind, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten. Und plädiert für klimapolitischen Druck von unten, aus der Zivilgesellschaft.
Definiere Erfolg
Erfolg und Glück gelten gemeinhin als wichtigste Lebensziele - doch warum steht Charakter nicht ganz oben auf der Liste?, fragt Adam Grant. "Was wäre, wenn wir alle so viel Energie in die Förderung unserer Charakterstärken investieren würden, wie wir sie für unsere Karriere aufbringen?" Charakter begreift Grant als "erlernte Fähigkeit, nach unseren Prinzipien zu leben" - respektive nach unseren Werten und unseren hohen persönlichen Standards, wie es an anderer Stelle heißt. Das ist offensichtlich ein anderes Verständnis von Erfolg als das übliche Erreichen von Zielen.
In seinem letzten Buch Think Again hat sich Adam Grant mit flexiblem Denken beschäftigt. Intelligenz nur als die Fähigkeit zu begreifen, zu denken und zu lernen, reiche heute nicht mehr aus. So seine These. Wichtiger wird die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen. Nach der Intelligenz knöpft sich Grant nun den Erfolgsbegriff vor. In seinem neuen Buch Hidden Potential geht es um die in uns schlummernden verborgenen Möglichkeiten. "In jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial", lautet Grants Ausgangsthese. Mit seinem Buch will er eine Anleitung geben, wie wir dieses Potenzial freisetzen können. Und er definiert auf diesem Weg Erfolg neu.
Hier kommt nun der Charakter ins Spiel. In seinen Forschungsarbeiten hat sich der Professor an der Wharton Business School mit den Charakterstärken beschäftigt, die verborgenes Potenzial freisetzen können: Entschlossenheit, Disziplin und - ganz zentral - Proaktivität, also ein Geschehen selbst bestimmen zu können anstatt nur auf Geschehenes zu reagieren. Viel zu lange wurden solche Charakterstärken als sogenannte Soft Skills abgetan, kritisiert Grant. Und rückt sie ins Zentrum. Sein Buch handelt von diesen Charakterstärken und beschreibt Strukturen und Systeme, mit denen sie sich stärken lassen. Es enthält zahlreiche überzeugende praktische Ratschläge und beleuchtet etliche Sackgassen, in die sich die einschlägige Forschung verrannt hat. Das ist eine immer erfrischende wie erhellende Lektüre. Entscheidend ist: Grant verabschiedet sich von statischem Denken in den Kategorien Start-Ziel-Erfolg.
Dynamik und Flexibilität, die Elemente, die er in den Intelligenzbegriff einbrachte, bestimmen nun auch die Neufassung des Erfolgsbegriffs. Es geht nicht statisch um Ausgangsbedingungen und Ziele, sondern um den Weg, der zur Freisetzung verborgener Potenziale führt. Es geht um Entwicklung: Entscheidend sind nicht die Startbedingungen, entscheidend ist auch nicht, wie groß der Einsatz und wie perfekt das Ergebnis ist. Entscheidend ist der Weg, den man zurücklegt, die Entwicklung, die man vollzieht. Nicht auf Zielerreichung liegt der Fokus, sondern auf Wachstum. Und "Wachstum hat weniger damit zu tun, wie hart man arbeitet, als damit, wie gut man lernt." Lernen, seine Potenziale entwickeln, besser werden, das ist das zentrale Motiv, das Grant herausarbeitet. "Besser werden beim Besserwerden", ist die Maxime. Und es gebe keinen wichtigeren Wert, "als danach zu streben, morgen besser zu sein als heute".
Zum Schluss der Kerngedanke des Buchs in zwei Zitaten: "Definieren Sie Erfolg neu. Die bedeutendste Form von Leistung ist Fortschritt", schreibt Adam Grant. Und variiert seine Kernaussage: "Was zählt, ist nicht, wie hart man arbeitet, sondern in welchem Maß man sich entwickelt."
Wie ein Fisch im Mindset
Carol Dweck, Psychologieprofessorin in Stanford und Autorin des einflussreichen Buches Mindset (deutscher Titel: Selbstbild) bekam in ihrer Sprechstunde eines Tages Besuch von einer hochgelobten Doktorandin, Mary C. Murphy. Die würdigte brav Dwecks grundlegende Forschungsarbeit, nach der Menschen einer bestimmten Denkweise, einer bestimmten Grundeinstellung zuneigen, brachte dann aber gleich ihren grundlegenden Einwand vor: Nicht nur einzelne Menschen, "auch die Umwelt, der soziale Kontext, die Organisation, in der sich ein Mensch bewegt, können eine Grundeinstellung - ein Mindset - besitzen", wie sich Dweck erinnert. Für sie gab es kein Zurück mehr. Heute arbeiten die beiden zusammen, und Dweck hat das Vorwort zu Murphys Buch Wachstumskultur geschrieben, in dem die Wissenschaftlerin, inzwischen Professorin für Psychologie und Neurowissenschaften an der Indiana University, ihre Forschungen zusammenfasst.
Ihren zentralen Gedanken umschreibt sie so: "Denken Sie einmal an einen Fisch, der in einem See herumschwimmt. Zu behaupten, dass Mindsets rein individuelle Eigenschaften sind, hieße, zu behaupten, dass das Verhalten dieses Fisches nur von ihm allein abhängt. Eine solche Sichtweise ignoriert vollständig, was im Wasser geschieht (etwa die Bewegungen der anderen Fische). Übertragen bedeutet dies, dass die Mindset-Kultur, in der wir Menschen ‚schwimmen‘, unsere Gedanken, unsere Motivation und unser Verhalten tiefgehend beeinflusst." Mindset-Kulturen entstehen außerhalb von Individuen in einem aktiven, gemeinschaftlichen Prozess. "Diese Grundüberzeugungen bestimmen, wie die Mitglieder einer Gruppe denken, fühlen und auftreten."
Aus der Perspektive einer Beschäftigung mit sozialen Systemen ist das ein geradezu banaler Gedanke. Er illustriert aber, wie schwer es für eine wissenschaftliche Disziplin ist, die Begrenzungen der eigenen Perspektive, der des eigenen Paradigmas zu überwinden. Das Erscheinen der jungen Doktorandin bei der etablierten Wissenschaftlerin und ihr Mut, die etablierte Sichtweise zu hinterfragen, illustrieren anekdotisch, wie eine eingeschliffene Perspektive aufgebrochen werden kann. Das dürfte vermutlich eher die Ausnahme sein, hier aber ist es offenbar gelungen. Die Forschungsarbeit von Carol Dweck zu Mindsets wird als grundlegend gewürdigt. Mary C. Murphy hat sie nun vom Individuellen auf das Soziale erweitert.
Und in noch einem Punkt hat Murphy das Konzept angepasst: Mindsets sind nicht so statisch und unveränderlich wie angenommen. Niemand habe ausschließlich ein starres oder ein dynamisches Mindset; dieses bewege sich viel mehr entlang eines Kontinuums, situativ beeinflusst von der aktuellen Situation des betreffenden Menschen und seinem Umfeld. Entsprechend der Forschung von Carol Dweck unterscheidet Murphy ein statisches und ein dynamisches, auf Wachstum ausgerichtetes Mindset. Sie bezeichnet diese beiden Typen als Geniekultur und Wachstumskultur. Menschen in einer Geniekultur glauben, dass menschliche Fähigkeiten unveränderlich, also statisch sind. Menschen in einer Wachstumskultur hingegen glauben, dass Begabungen und Fähigkeiten entwicklungsfähig sind. In ihrem Buch beschreibt die Autorin, warum organisationale Mindsets so wirkmächtig sind: "weil sie die Art und Weise prägen, wie wir unsere Umwelt interpretieren und begreifen". Murphy sagt: Mindset-Kulturen lassen sich formen. "Es ist … möglich, eine Mindset-Kultur zu verändern." Und sie lässt keinen Zweifel daran, in welche Richtung dies geschehen sollte: hin zu einer Wachstumskultur. "Ein nützlicher Leitfaden für den Aufbau einer lernenden Organisation und die Freisetzung des Potenzials der Mitarbeiter", meint Adam Grant, der ein Geleitwort zum Buch beigesteuert hat.
Die Zeit, auf die es ankommt
Via Serendipity zu Kairos - mitunter hat auch der Zufall seine Hand im Spiel, wenn man auf gute Bücher stößt. In diesem Fall war es so: Vor ein paar Wochen berichteten die Feuilletons, dass Jenny Erpenbeck für höhere Literaturpreise im Gespräch sei - in guter Voraussicht, denn zwischenzeitlich hat sie ja den renommierten Booker Prize erhalten. Neugierig geworden, startete ich daraufhin eine Buchsuche nach Erpenbecks neuem Roman Kairos - aber es war der zweite Treffer, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog: das gleichnamige Buch der niederländischen Philosophin Joke Hermsen über ein neues Zeitempfinden - ein Zufallsfund, ein Fall von Serendipity. Im Mittelpunkt von Hermsens Buch steht jene seltsame Figur aus der griechischen Götterwelt, die sich durch ihren "merkwürdigen Punk-Haarschnitt" auszeichne. Sie trägt eine mächtige, ins Gesicht fallende Locke, während der Hinterkopf kahl geschoren ist. Die Locke steht für die Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt, bevor die Hand am kahlen Hinterkopf abrutscht und das Momentum wieder verflogen ist. Kairos, Sohn des Zeus, ist eine der zwei Gottheiten, die in der griechischen Mythologie für die Zeit zuständig sind. Sie stehen für zwei unterschiedliche Zeitbegriffe und Zeitwahrnehmungen: Chronos für die linear verstreichende Zeit und Kairos eben für den richtigen Augenblick, die günstige Gelegenheit. Heute steht die chronologische Zeit im Vordergrund, sie bestimmt unsere Zeitwahrnehmung, Kairos hingegen war lange Zeit vergessen und weitgehend aus der Wahrnehmung verschwunden. Anders als in der Antike bis in die frühe Neuzeit. "Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts beflügelte dieser mythische Gott der Zeit die Fantasie mancher Philosophen, Theologen, Ärzte oder Dichter, denn Kairos war die Zeit, auf die es ankam, die Zeit, die Chancen bot oder für einen Durchbruch zu sorgen wusste. Er stand sinnbildlich für all die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und der Entschlossenheit, die das Leben so besonders machen."
Erst im 20. Jahrhundert und verstärkt in der heutigen Zeit erlebte Kairos eine Renaissance. Hermsen widmet sich in ihrem Buch der Rezeptionsgeschichte und Bedeutung von Kairos und stützt sich dabei auf zahlreiche Quellen. Wie sie schreibt, lässt sich Kairos als Strategie sehen, um sich von Chronos zu befreien, einen Zwischenraum in die Zeit zu schlagen. "Während Chronos Kontinuität bedeutet, steht Kairos gerade für eine zeitweilige Unterbrechung dieser Kontinuität." So spiegeln sich in Kairos ganz unterschiedliche Motive und Querverbindungen. Das rechte Maß, symbolisiert durch die Waage, die der junge Gott auf manchen Abbildungen trägt, spielt herein ebenso wie Kontingenz und Unvorhersehbarkeit, der Heureka-Moment des Archimedes und auch Serendipität - das Glück oder die Gabe, unerwartet Gutes zu entdecken. Auch können Krisen durch Kairos zu einem Wendepunkt und Neuanfang werden. Nicht zuletzt besteht auch eine Verbindungslinie zur fernöstlichen Philosophie: eine Verwandtschaft zwischen Kairos und der chinesisch-taoistischen Lehre des Wu wei, der Kunst des Handelns durch Nichthandeln oder anders gesagt des Handelns ohne zu handeln. Gemeint ist, anders gesagt, ein Tun in Gelassenheit und Akzeptanz, das empfänglich macht für Momente von Kairos und Serendipität.
Hermsen nennt drei spezifisch menschliche Fähigkeiten, "die bei näherer Betrachtung viel mit Kairos zu tun haben": die schöpferische Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen, die Fähigkeit des Enthusiasmus, der Beseeltheit oder der schöpferischen Leidenschaft und schließlich unser ethisches Bewusstsein, das uns in die Lage versetzt, das rechte moralische Maß für unser Handeln zu finden. Es ist inspirierend wie lehrreich, mit Joke Hermsen diese vielfältigen Bezüge und Querverbindungen auszuloten. Ihr Buch zeigt die Aktualität des Nachdenkens über Zeit: Eine neue, differenziertere Zeitwahrnehmung beginnt sich breitzumachen und kann dabei an die Vielgestaltigkeit von Kairos anknüpfen.
Autonomie und Sorge
Im Menschenbild des autonomen Individuums gilt Schwäche als Makel. Als etwas zu vermeidendes. Stärke zeigen ist die Maxime. Der Mensch als Urheber seiner selbst. In diesem Leitbild werde "Autonomie mit Unabhängigkeit gleichgesetzt und jedwede Abhängigkeit von der Hilfe anderer als Bedrohung der Selbstbestimmung wahrgenommen", schreibt der Arzt, Medizinethiker und Philosoph Giovanni Maio. Im Gegensatz dazu begreift er die Verletzlichkeit als Grundmerkmal des Menschen, ja des Lebens schlechthin: "Der Mensch ist von Grund auf verletzlich - und nicht nur der Mensch: Mit ihm ist es auch das Tier, alles Lebendige, die gesamte Natur." In einer Zeit, da Klimawandel, Artensterben und die fortschreitende Zerstörung der Natur die Verletzlichkeit der Erde offenbar werden lassen, ist dies ein brennend aktueller Gedanke. Erkennt der Mensch seine eigene Verletzlichkeit in dem historischen Augenblick, da die Verletzlichkeit des Planeten offenbar wird? Der Eingangsgedanke des Buchs legt das nahe. Er stellt die "Hinwendung zur Verletzlichkeit" in einen größeren Kontext, vertieft wird dieser Zusammenhang jedoch nicht weiter. Dem Autor geht es vielmehr um die philosophische Begründung einer Ethik der Verletzlichkeit, so der Titel des Buches. Er will zeigen, "dass Verletzlichkeit kein Gegenpol zu Autonomie ist (…), sondern ihr eigentliches Zentrum". Ihre Voraussetzung. Eine überraschende These, die der Autor überzeugend begründet. Autonomie sei nicht "lediglich das Resultat innerer Prozesse des Individuums" und nichts, was von vornherein gegeben und garantiert sei. Autonomie sei vielmehr das Ergebnis "von Beziehungen, die mit dem heranreifenden Menschen eingegangen werden". Weil der Mensch von Anfang an in einem Gefüge von Beziehungen zu anderen steht, "lässt sich menschliche Autonomie adäquat nur eingebettet in ein Grundverhältnis der Angewiesenheit und Verletzlichkeit erfassen". Die Verletzlichkeit des Menschen verlangt es, Autonomie zu ermöglichen, und sie begründet zugleich das ethische Gebot der Sorge für andere. Sorge ist der Kern einer Ethik der Verletzlichkeit und kann sich, so der Autor, "nicht einfach auf das Anbieten von Dienstleistungen beschränken".
Maios Begründung ist schlüssig, differenziert und hervorragend belegt. Überraschend ist allerdings, dass der Autor ausschließlich auf einer sachlich-rationalen Ebene argumentiert. Von Gefühlen ist bei ihm nicht die Rede. Obwohl doch gerade Empathie, das Miterleben der Situation eines anderen, die emotionale und kognitive Voraussetzung dafür schaffen, sich um andere zu sorgen. Ein blinder Fleck in Maios Argumentation, der überrascht. Dennoch ist die Ethik der Verletzlichkeit ein anregender Entwurf und ein gelungener Anstoß, sich mit unserem Selbstbild als Mensch auseinanderzusetzen. Kurzum, eine aktuelle Antwort auf die alte Frage "Was ist der Mensch?" Und zugleich ein Gegenentwurf zum egozentrierten Menschenbild der neoliberalen Ära - bis hin zu den Übermensch-Fantasien des Transhumanismus.
Die engagierten Machtlosen
Geschichte wird immer noch vorwiegend aus der Sicht der Herrschenden erzählt. Bertolt Brecht hat diese Sichtweise infrage gestellt. Mit Blick auf den römischen Imperator Caesar und dessen Sieg über die Gallier fragte er: "Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?" Der Autor und freie Redakteur Loel Zwecker wendet nun die Perspektive von Grund auf und rückt Menschen ohne Macht und Einfluss in den Blickpunkt, die grundlegende Veränderungen angestoßen haben. In die Macht der Machtlosen erzählt er, welchen Einfluss einfache Leute auf die Geschichte nehmen können. Seine These: "Die meisten, ja fast alle positiven gesellschaftlichen Entwicklungen von übergreifender Bedeutung wurden nicht von Leuten mit Amtsgewalt oder Wirtschaftskraft wie Fürsten, Präsidenten, Militärs, Magnaten oder CEOs angeschoben; und es waren auch nicht Revolutionsführer oder ‚große Denker‘ - sondern scheinbar Machtlose, ‚die da unten‘, einfache Leute." Er nennt sie die "engagierten Machtlosen".
Von den Bauernrebellen des Mittelalters über den Abolitionismus, die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, oder die britischen Diggers, die Mitte des 17. Jahrhundert brachliegendes Land von Großgrundbesitzern besetzten, um es selbst zu bewirtschaften, bis hin zur Frauen- und Arbeiterbewegung reicht die Bandbreite der portätierten Menschen, Initiativen und Bewegungen. In der Tradition der "Geschichte von unten" entwickelt Zwecker in 20 Kapiteln "eine andere Perspektive auf Entwicklungen, Muster und Akteure der Geschichte". Es sind Beispiele, die heute noch als Vorbild oder Anregung dienen können, so der Autor. "All das ist bis heute relevant und teils direkt umsetzbar oder kann als Anregung für frische, weiterführende Ansätze dienen." Nicht zuletzt helfe der "Blick zurück auf die einfachen Leute" dabei, "Muster zu erkennen und die Aufmerksamkeit für Menschen und Probleme zu erhöhen, die viel zu oft übergangen werden". Das stimmt sicher. Zu bedenken ist freilich auch, dass nicht nur die Probleme komplexer geworden sind, sondern auch die Gesellschaften - siehe das Buch von Jens Beckert in dieser Umschau. Dieser Hinweis gilt in doppelter Hinsicht: Beckert warnt vor einfachen Lösungen - und plädiert für einen Klimaschutz von unten. Also: Anregung ja, aber Vorsicht bei simpler Übertragung. Auf jeden Fall aber ein spannendes und lehrreiches Buch.
Klimaschutz von unten
Offensichtlich ist der Klimaschutz in der Krise. Die Emissionen aber steigen, steigen weiter. "Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten?" Das ist die Leitfrage des Buchs von Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln. Seine Antwort: "Der Kampf gegen den Klimawandel scheitert an den Macht- und Anreizstrukturen des auf Gewinnerwirtschaftung, Konsum und unbegrenztes Wachstum geeichten Gesellschaftssystems - trotz des Wissens um die Gefahren zukünftiger Klimaveränderung." Dieses Versagen hängt gleichermaßen mit der Struktur der Gesellschaften in der kapitalistischen Moderne wie mit der des Klimaproblems zusammen. Denn beide sind charakterisiert durch komplexe Interdependenzen und Dilemmata auf zahlreichen Ebenen. Für den Klimawandel heißt das: Es handelt sich um ein tückisches Problem, ein wicked problem - ein Problem also, bei dem aufgrund seiner Komplexität ein hohes Maß an Ungewissheit besteht und für das es keine einfache Lösung gibt. Für die Gesellschaften heißt es, dass sie - ebenso komplexitätsbedingt - strukturell nicht in der Lage sind, mit solchen Problemen umzugehen.
Beckert kommt daher zu einem pessimistischen Schluss: "Es bedürfte einer Vollbremsung", schreibt er, doch "die Maßnahmen, die erforderlich sind, werden nicht getroffen." Es reicht nicht. Das bedeutet jedoch keine Kapitulation, keine Resignation. Beckert plädiert vielmehr für einen "nachdenklichen Realismus", der sich am einzig angemessen Umgang mit tückischen Problemen orientiert: nämlich schrittweise nach pragmatischen Lösungen zu suchen. Die Eckpunkte dabei sind: erstens verstärkter Klimaschutz, vor allem durch die Umgestaltung von unternehmerischen Anreizstrukturen; zweitens eine kompensierende Sozial- und Strukturpolitik, um die finanziellen Folgen von Klimaschutzmaßnahmen abzufedern; drittens die Ausweitung politischer Unterstützung für den Klimaschutz; und nicht zuletzt viertens eine Stärkung gemeinwohlorientierten Handelns in der Gesellschaft, um die Handlungsbereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen und gesellschaftliche Resilienz zu stärken. Klar dabei ist, dass verstärkte Anstrengungen in allen Handlungsfeldern nötig sind. Die beiden wahrscheinlich größten Pflöcke, die Beckert einschlägt, sind die folgenden beiden Ansätze: erstens Klimaanpassung zur Kernaufgabe staatlicher Infrastrukturpolitik zu machen, was eine völlige Umkehr staatlicher Ausgabenpolitik erfordern würde, und zweitens die Stärkung der Zivilgesellschaft, ohne die nichts gehen wird. "Wenn überhaupt, ist die Bereitschaft zur Unterstützung von Maßnahmen gegen die Übernutzung natürlicher Ressourcen nur unter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erreichen, also ‚von unten‘ und nicht ‚von oben‘." Ein wichtiges Buch in der Klimadebatte. Denn zu verstehen, warum der Klimaschutz weit hinter dem Erforderlichen zurückbleibt, ist wichtig, um Resignation zu vermeiden.
Zitate
"Was wäre, wenn wir alle so viel Energie in die Förderung unserer Charakterstärken investieren würden, wie wir sie für unsere Karriere aufbringen?" Adam Grant: Hidden Potential
"In jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial." Adam Grant: Hidden Potential
"Wachstum hat weniger damit zu tun, wie hart man arbeitet, als damit, wie gut man lernt." Adam Grant: Hidden Potential
"Die bedeutendste Form von Leistung ist Fortschritt." Adam Grant: Hidden Potential
"Was zählt, ist nicht, wie hart man arbeitet, sondern in welchem Maß man sich entwickelt." Adam Grant: Hidden Potential
"Auch die Umwelt, der soziale Kontext, die Organisation, in der sich ein Mensch bewegt, können eine Grundeinstellung - ein Mindset - besitzen." Carol Dweck im Vorwort zum Buch Wachstumskultur von Mary C. Murphy
"Zum Glück lässt sich das Mindset einer Organisation bewusst formen." Mary C. Murphy: Wachstumskultur
"Organisationale Mindsets sind so wirkmächtig, weil sie die Art und Weise prägen, wie wir unsere Umwelt interpretieren und begreifen." Mary C. Murphy: Wachstumskultur
"Es ist … möglich, eine Mindset-Kultur zu verändern." Mary C. Murphy: Wachstumskultur
"Während Chronos Kontinuität bedeutet, steht Kairos gerade für eine zeitweilige Unterbrechung dieser Kontinuität." Joke J Hermsen: Kairos
"Der Mensch ist von Grund auf verletzlich - und nicht nur der Mensch: Mit ihm ist es auch das Tier, alles Lebendige, die gesamte Natur." Giovanni Maio: Ethik der Verletzlichkeit
"Die meisten, ja fast alle positiven gesellschaftlichen Entwicklungen von übergreifender Bedeutung wurden nicht von Leuten mit Amtsgewalt oder Wirtschaftskraft wie Fürsten, Präsidenten, Militärs, Magnaten oder CEOs angeschoben; und es waren auch nicht Revolutionsführer oder ‚große Denker‘ - sondern scheinbar Machtlose, ‚die da unten‘, einfache Leute." Loel Zwecker: Die Macht der Machtlosen
"Der Kampf gegen den Klimawandel scheitert an den Macht- und Anreizstrukturen des auf Gewinnerwirtschaftung, Konsum und unbegrenztes Wachstum geeichten Gesellschaftssystems - trotz des Wissens um die Gefahren zukünftiger Klimaveränderung." Jens Beckert: Verkaufte Zukunft
"Wenn überhaupt, ist die Bereitschaft zur Unterstützung von Maßnahmen gegen die Übernutzung natürlicher Ressourcen nur unter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erreichen, also ‚von unten‘ und nicht ‚von oben‘." Jens Beckert: Verkaufte Zukunft
changeX 07.06.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Quellenangaben
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© Coverabbildungen: Verlage Verlag Piper, Campus, HarperCollins, Herder, Klett-Cotta, Suhrkamp Wissenschaft
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Fundstellen der Zitate: Hidden Potential: 13, 21, 31, 35, 62, 292, 301; Wachstumskultur: 10, 17, 21, 34, 331; Kairos: 12, 13, 34; Ethik der Verletzlichkeit: 10, 11, 13, 16, 102, 112, 113; Die Macht der Machtlosen: 13, 20, 332, 335, 336, 339; Verkaufte Zukunft: 15, 17, 178, 197
Zu den Büchern
Adam Grant: Hidden Potential. Die Wissenschaft des Erfolgs. Wie man über sich hinauswächst, übersetzt von Marlene Fleißig und Violeta Topalova. Piper Verlag, München 2024, 352 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-492-07291-5
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Mary C. Murphy: Wachstumskultur. Wie die neue Mindset-Theorie Menschen, Teams und Organisationen verändern kann. Mit einem Vorwort von Carol Dweck. Aus dem Englischen von Jan W. Haas. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2024, 376 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-593-51854-1
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Joke J Hermsen: Kairos. Vom Leben im richtigen Augenblick. Für ein neues Zeitempfinden, übersetzt von Bärbel Jänicke. Verlag HarperCollins, Hamburg 2023 2023, 368 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-365004609
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Giovanni Maio: Ethik der Verletzlichkeit. Verletzlichkeit und Angewiesenheit als wesentliche Elemente menschlicher Existenz. Verlag Herder, Freiburg 2024, 160 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-451-60132-3
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Loel Zwecker: Die Macht der Machtlosen. Eine Geschichte von unten. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2024, 416 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-608-50193-3
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Jens Beckert: Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht. Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2024, 238 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-518-58809-3
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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