Lieber liberal
Liberalismus ist nicht gleich Marktradikalismus. Sein Kern ist das Beharren auf der Freiheit des Menschen, ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Ein Autor sagt: Das ergibt die beste aller möglichen politischen Welten.
„Politische Vollkaskomentalität“, „Sozialstaatsbyzantismus“, „Gerechtigkeitsimperialismus“, „pubertär-moralische Sehnsucht nach ethischen Vollkommenheitsszenarien“: Wolfgang Kersting macht aus seinem Zorn keinen Hehl. Doch diese Leidenschaftlichkeit ist seiner großen Aufgabe geschuldet: der Verteidigung des Liberalismus. In seinem gleichnamigen Buch unternimmt Kersting nichts weniger als die Apologie der für ihn besten aller möglichen politischen Welten. Und nimmt seinerseits – Angriff ist die beste Verteidigung – die gegenwärtig mächtigste Bedrohung des Liberalismus aufs Korn: den ausufernden Wohlfahrtsstaat.
Dabei gießt Kersting ein festes philosophisches Fundament, auf dem er seine schweren Geschütze auffahren kann. So entwirft er zunächst ein Bild des modernen Menschen, dessen zentrales Recht in der Freiheit besteht, ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Aus dieser Anthropologie entwickelt Kersting dann sein Konzept des Liberalismus als der „politischen Philosophie des Individualismus“.
Absage an den Marktradikalismus
Dessen Grundgedanke ist die „Institutionalisierung des Menschenrechts“ in einer staatlichen Ordnung rund um den zur Verwirklichung der Freiheit notwendigen Markt. Einem Marktradikalismus allerdings erteilt Kersting eine doppelte Abfuhr. Zum einen brauche der Markt rechtsstaatliche Regeln, durch die „eine Wettbewerbskultur ermöglicht“ wird und „unfaire Vorteilsnahmen, Monopolbildungen und ökonomischer Machtmissbrauch verhindert“ werden. Unverzichtbar sei zum anderen auch eine sozialstaatliche Ordnung. Die bei Kersting freilich ein schlichtes Gerüst ist. Ihre einzige Maxime ist Chancengleichheit in einem engen Sinn. Diese zielt allein darauf, dass „gleich begabte und gleichermaßen Leistungswillige annähernd gleiche Chancen haben, die entsprechenden Positionen und Ämter zu erlangen“. In der Umsetzung heißt das: Diskriminierung verhindern sowie allen Bürgern eine adäquate Erziehung und Ausbildung ermöglichen.
Damit widersetzt sich der Liberalismus für Kersting der starken Tendenz zur staatlichen Kompensation jedweder Benachteiligung durch genetisches Erbe, soziale Herkunft und Erziehung. Dieser „kompensatorische Egalitarismus“ hätte, so Kersting, nicht nur in der Theorie letztlich absurde Folgen, sondern wirke sich auch in der Praxis verhängnisvoll aus: Er raube den Menschen ihre Selbständigkeit, verwandle sie in „fordernde, erwartende und empfangende Wesen“ und „verwüste“ somit letztlich Politik und Recht. Doch nicht zuletzt weil er unbequem ist, hat ein solcher Liberalismus derzeit einen schweren Stand, und so kann Kerstings Vehemenz durchaus als Ausdruck tiefer Sorge um die Zukunft des menschlichen Zusammenlebens verstanden werden.
Diese Vehemenz geht jedoch nie auf Kosten der Scharfsinnigkeit. Kerstings argumentatives Geflecht ist dicht, sein Denken gleichermaßen luzide und exakt, seine Sprache so verständlich wie sorgfältig. Nur selten verfällt er ins Lapidare, etwa bei der beiläufigen Verteidigung von Studiengebühren. Etwas zu nonchalant ist auch sein Umgang mit dem Einwand, das kapitalistische Modell der Erwerbsarbeit dürfe nicht einfach zur Norm der Selbstverwirklichung erhoben werden, den er mit einem „Hic Rhodus, hic salta!“ abbügelt.
Festung Liberalismus
Die vielleicht größte Angriffsfläche bietet Kerstings Eingeständnis, dass individualmoralische Erwägungen in seiner Wirtschaftsethik keine Rolle spielen; so sei das Anprangern von Gier in der Wirtschaft nicht nur fruchtlos, sondern im Gegenteil „der Entschluss zu privater moralischer Verantwortlichkeit kostenträchtig“ im Sinne einer Zustandsverschlechterung des Gesamtsystems. Droht da nicht in der Ferne, könnte man fragen, dem ganzen Ansatz eine reductio ad absurdum? Vielen dürfte vieles nicht gefallen an Kerstings Konstruktion einer staatlichen Ordnung. Aber jedem ernsthaft Andersdenkenden oder Anderswünschenden wird hier vor Augen geführt, was alles steht und fällt mit der Idee eines konsequenten Liberalismus. Kersting hat diesem eine starke Festung errichtet – eine Festung, die argumentativ auf keinen Fall en passant überwinden kann, wer ein anderes politisches Ideal ansteuert.
changeX 18.01.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Wolfgang Kersting: Verteidigung des Liberalismus. Murmann Verlag, Hamburg 2009, 240 Seiten, ISBN 978-3-86774-073-9
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Autor
Dominik FehrmannDominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.