Wir sind unterschiedlich

Unterschiede und Die Schönheit der Differenz - zu den Büchern von Wolf Lotter und Hadija Haruna-Oelker
Doppelrezension: Winfried Kretschmer

Ein wörtliches Zitat aus zwei aktuellen Büchern. "Wir sind unterschiedlich", schreibt Hadija Haruna-Oelker. "Wir sind unterschiedlich", schreibt Wolf Lotter. Wortgleich. Anlass genug, die beiden - höchst unterschiedlichen - Bücher zusammen vorzustellen. Es geht darin um Unterschiede und um Differenz. Und darum, was diese Begriffe mit Identität zu tun haben. Und was nicht.

Die Konzepte Identität und Differenz scheinen auf den ersten Blick nah beieinanderzuliegen. Denn jede Gruppe, die ihre Identität betont, tut dies in Differenz zu anderen: indem sie deutlich macht, was sie von diesen unterscheidet. Tatsächlich liegt ein tiefer Graben zwischen den Begriffen, sie trennt eine grundsätzlich andere Perspektive: Identität blickt auf das Gemeinsame, Differenz auf die Unterschiede. Während Identität auf Eigentümlichkeit beharrt, macht Differenz Unterschiede bearbeitbar. Die beiden aktuellen Bücher Unterschiede und Die Schönheit der Differenz nähern sich dem Thema.


Kursänderung in der Einstellung zum Unterschied


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Wolf Lotter, Mitgründer und langjähriger Leitessayist des Wirtschaftsmagazins Brand eins, hat die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft zu seinem zentralen Thema gemacht, und er kann diesen Wandel erklären wie wohl kein Zweiter. Diese gesellschaftliche Transformation bildet auch die Rahmenerzählung für das Thema Vielfalt und Diversität. Sein neues Buch dazu ist der dritte Titel einer Trilogie, in der Lotter diesen Wandel erklärt: Innovation, Zusammenhänge und jetzt Unterschiede. Auf Unterschiede komme es zunehmend an - die Unterscheidung ist für den Autor die wichtigste Kraft der Wissensgesellschaft. "Das Neue ist, was den Unterschied macht. Die Innovation, die Überraschung, die Unterbrechung." Der positive Unterschied sei gleichbedeutend mit der Freiheit und dem Recht auf Andersartigkeit, er bilde einen "Kernwert der Demokratie und der Zivilgesellschaft". 

In der Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft erlangen Unterschiede eine zentrale Rolle, so die zentrale These des Buches. Der Übergang führt, in kürzester Form zitiert, vom "Zeitalter der Einheit, Norm und kollektiven Nivellierung" ins "Zeitalter der Diversität und des anerkannten Unterschieds". Es ist eine Zeitenwende, eine grundlegende sich vollziehende gesellschaftliche Transformation. In der Einheitsgesellschaft erscheint der Unterschied als Bedrohung, so Lotter, in der Wissensgesellschaft wird er "gelebter Alltag". Das verlangt eine "Kursänderung in der Einstellung zum Unterschied", einen Wechsel der Denkrichtung: von einer negativen zu einer positiven, von einer exklusiven zu einer inklusiven Bestimmung. Es geht somit um die Richtung der Unterscheidung: Unterscheiden wir, um etwas auszuschließen, zu trennen oder abzugrenzen, etwa das Bekannte vom Unbekannten oder die eigene kulturelle und soziale Identität von der anderer, fragt Lotter. "Oder aber unterscheiden wir, um zu erkennen, zu lernen und damit Möglichkeiten und Varianten zu respektieren?" Dann nämlich wächst die Zahl der Möglichkeiten. Verstehen von Vielfalt bedeute zu "erkennen, dass unterschiedliche Fähigkeiten die Anzahl an Lösungen erhöhen".


Jede(r) macht den Unterschied


Weil Fähigkeiten immer an Menschen gebunden sind, steht im Zentrum der Transformation der Einzelne: "Jeder macht den Unterschied." Die neue Stellung des Individuums wurzelt in einem grundlegenden Wandel der Arbeit hin zur Wissensarbeit. Lotter erinnert hier an den österreichisch-amerikanischen Philosophen Peter Drucker, der den Wissensarbeiter - unnachahmlich - als jemanden definiert hat, der mehr von seiner Arbeit versteht als jeder andere in der Organisation. Das stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Nicht mehr die Hierarchie der Macht ist entscheidend, sondern die Verteilung des Wissens. In seinem Buch arbeitet Lotter heraus, was dieser Wandel für unterschiedliche Themenbereiche der Gesellschaft bedeutet, für das Verständnis von Gerechtigkeit, für Kritik und Wettbewerb, für die Gestaltung von Organisationen, für Unternehmensführung sowie für Bildung und die Organisation von Wissensarbeit. Lotter schreibt an gegen eine Kultur der Vereinheitlichung, die die Industriegesellschaft bis in die Tiefenstruktur hinein durchzieht und prägt. Die Industriekultur ist unterschiedsblind und unterscheidungsfeindlich, sagt Lotter. 

Deutlich macht er das exemplarisch an der Wirtschaft. Märkte sind zwar Ausdruck der Vielfalt und beruhen geradezu auf ihr - wo keine Auswahl, da kein Markt. Zugleich und durchaus paradox tendiert die Industriewirtschaft aber zur Anpassung, Vereinheitlichung und Nivellierung. So strebt die Managementmethode des Benchmarkings eben nicht danach, eigene Stärken zu identifizieren, Unterschiede also. Ziel ist es vielmehr, den Stand der Optimierungsbemühungen der Mitbewerber festzustellen - und zum Maßstab zu machen. Ergebnis ist dann die Best Practice als Übernahme von Regeln, Routinen und optimierten Prozessen. "Das Beste ist hier also der Durchschnitt, das Mittelmaß", schreibt Lotter. Ganz ähnlich und durchaus vergleichbar zielt das Gerechtigkeitsverständnis in der Industriegesellschaft auf Gleichheit und ignoriert die Unterschiede in Person, Talent und Herkunft. Die Wissensgesellschaft hingegen beruht auf dem Unterschied und macht Unterschiede produktiv - ökonomisch und für den Einzelnen, der in die Lage versetzt wird, Freiräume konstruktiv zu nutzen. 

"Unterschiede sind Ideen sind Wissen sind Kreativität", lautet das Credo des Autors, der immer wieder auf die gewachsene Rolle des Einzelnen, des Individuums hinweist. Worauf es somit ankommt, das ist der "Mut zu sich selbst". Die wechselseitige Anerkennung des Persönlichen bildet wiederum die Grundlage eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses in einer Gesellschaft, die Unterschiede anerkennt. Das bedeutet: Einzelgerechtigkeit statt Gleichheit.


Plädoyer für radikale Diversität


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"Ich bin eine Schwarze, nicht behinderte, normschlanke, cis-hetero Frau mit der Erfahrung, chronisch krank zu sein." Schreibt Hadija Haruna-Oelker gleich auf den ersten Seiten ihres Buches. Zugleich ist sie Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester, Feministin, Menschenrechtlerin, mehrfach ausgezeichnete Journalistin und geriet als Co-Übersetzerin von Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb" in einen veritablen Shitstorm. 

Bedeutsam ist diese Vorstellung ihrer Person in mehrerlei Hinsicht. Zum einen zeigt sie, wie differenziert die Facetten einer Person heute ausgedrückt, wahrgenommen und codiert werden - "cis" zum Beispiel, was bedeutet, dass das Geschlecht einer Person wie es in der Geburtsurkunde eingetragen ist mit deren Geschlechtsidentität übereinstimmt - im Gegensatz zu "trans". Zweitens kennzeichnet die Einführung der Autorin die Erzählperspektive ihres Buches: Es ist in der Ichform und radikal aus der Sicht der Autorin geschrieben. Sie erzählt darin, wie sie "unsere Gesellschaft und ihre Menschen in ihrer Differenz" sieht. Es sind ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, die zu einem Bild unserer Gesellschaft verdichtet werden - einer Gesellschaft, die zunehmend mit Identitätsfragen zu tun hat. Nicht zuletzt steckt in dem Eingangszitat eine gewichtige inhaltliche Aussage: Unsere Persönlichkeit setzt sich aus vielen Ichs zusammen, Menschen tragen viele Identitäten in sich - die Vorstellung einer in sich geschlossenen Identität ist somit eine Illusion. 

Und das ist exakt das Thema, über das Haruna-Oelker schreibt. Sie will "Vorstellungen starrer Kategorien und Konstruktionen aufbrechen, in die wir Menschen als Gruppen gepresst werden". Sie will die Blicke weiten, Möglichkeiten aufzeigen und Handlungsräume eröffnen, "um ein anderes Miteinander zu denken" - ein "Miteinander füreinander". Ihr Buch wendet sich "gegen polarisierendes Denken, Vereinfachungen oder die Vorstellung festgezurrter Gruppenidentitäten". Es ist ein Plädoyer für radikale Diversität als "die Utopie einer Gesellschaft, in der alle Menschen in ihrer Differenz leben können". Unsere gesellschaftliche Aufgabe in Zukunft sei, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet (Identität), sondern auch mit dem, was uns unterscheidet (Differenz) - eine "Generationenaufgabe".


Weil kein Mensch eindeutig ist


"Wir sind unterschiedlich", lautet eine zentrale Aussage des Buchs, und unterschiedlich sind auch die Themen, die dieses anspricht. In einer breiten Perspektive umreißt die Autorin die unterschiedlichen Kategorien, in die Menschen in unterschiedlicher Hinsicht eingeteilt werden. Sie beschreibt, wie diese zustande kommen - und wie sie verschwimmen, "weil kein Mensch eindeutig ist". Eine auch nur kurz gehaltene Inhaltsangabe würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Wichtiger erscheint indes eine theoretische Einordnung dieser Sicht auf den Menschen. 

Drei große Theorieblöcke sind es, auf die Haruna-Oelker ihren Differenzbegriff bezieht: Postkoloniale Studien, Gender Studies und Niklas Luhmanns Systemtheorie, die die funktionale Ausdifferenzierung als gesellschaftliches Strukturprinzip begreift. Diese Theorien bilden die Reflexionsfolie für Haruna-Oelkers Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft in ihrem Transformationsprozess hin zu wachsender Differenz. Zwei Konzepte insbesondere sind dabei von Bedeutung. Zum einen die Idee der Hybridität, die auf den postkolonialen Denker Homi K. Bhabha zurückgeht. Demzufolge leben Identitäten davon, so die Autorin, "sich dynamisch zu verändern, an verschiedenen Orten gleichzeitig und auch in Widersprüchen zu existieren". Zum anderen der von Kimberlé Crenshaw entwickelte und von Emilia Roig weiterentwickelte Ansatz der Intersektionalität, der die Überlagerung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien beschreibt. "Es gibt also unterschiedliche Verwundbarkeiten, sie sind mehrdimensional und können sich in einem Menschen vereinen", erläutert die Autorin. 

Ein weiterer Bezugspunkt, weniger eine Theorie als vielmehr eine Praxis, ist die indigene Philosophie des Ubuntu, die dem Denken der Ureinwohner an der Südspitze Afrikas entstammt, unter dem Regime von Kolonialismus und Apartheid unterdrückt wurde und in der Anti-Apartheid-Bewegung und bei der Begründung des südafrikanischen Staates dann eine wichtige Rolle spielte. Prinzip des Ubuntu ist das Streben nach Übereinstimmung mit dem Ziel, einen Weg für alle zu eröffnen. Es geht nicht darum, Probleme oder Unterschiede zu überwinden, sondern darum, sie zu akzeptieren, ohne die zugrunde liegenden Gegensätze aufzuheben. Entscheidend ist dabei, mit dem Gegenüber zusammenzuarbeiten und Lösungen zu finden. Jeder Mensch bekommt in diesem Prozess die gleiche Chance zu sprechen, bis eine Einigung und ein Gruppenzusammenhalt erreicht sind - ein Verhandlungsraum, der für Hadija Haruna-Oelker ein Vorbild sein könnte, wie unsere Gesellschaft und öffentliche Räume gestaltet werden können. 

Das verlangt ein "intersektionales Denken", das sich vor allem durch Empathie auszeichnet: "Wir müssen immer wieder versuchen, Menschen aus ihrer Position heraus zu verstehen und die Stimmen derjenigen zu erkennen und hörbar zu machen, die am verletzlichsten sind." Es bedeutet zu lernen, "miteinander füreinander zu fühlen".


Kraft des Unterschieds


Um die beiden Bücher am Ende nochmals aufeinander zu beziehen, hier wiederum zwei Zitate. Hadija Haruna-Oelker schreibt: "Unsere zukünftige gesellschaftliche Aufgabe wird es sein, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet, sondern auch mit dem, was uns unterscheidet." Und Wolf Lotter: "Die große Herausforderung für die künftigen Jahre ist genau dieses Erkennen der Kraft des Unterschieds." 


Zitate


"Wir sind unterschiedlich. Gleichmacherei ist nicht gerecht. Was die Zivilgesellschaft ausmacht, ist ein Wir der Vielfalt." Wolf Lotter: Unterschiede

"Das Neue ist, was den Unterschied macht. Die Innovation, die Überraschung, die Unterbrechung." Wolf Lotter: Unterschiede

"Jeder macht den Unterschied." Wolf Lotter: Unterschiede

"Unsere Kultur ist unterscheidungsfeindlich." Wolf Lotter: Unterschiede

"Die Wissensgesellschaft ist ein großartiges Angebot an die Menschheit, nämlich ihre Werkzeuge endlich so einzusetzen, dass immer mehr Menschen in der Lage sind, Freiräume konstruktiv zu nutzen." Wolf Lotter: Unterschiede

"Die Fähigkeit, Unterschiede und Alternativen zu denken, ist die Schlüsselqualifikation des 21. Jahrhunderts." Wolf Lotter: Unterschiede

"Die große Herausforderung für die künftigen Jahre ist genau dieses Erkennen der Kraft des Unterschieds." Wolf Lotter: Unterschiede

"Unsere zukünftige gesellschaftliche Aufgabe wird es sein, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet, sondern auch mit dem, was uns unterscheidet." Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz

"Tatsache ist: Wir sind nicht alle gleich und werden nie gleich von etwas betroffen sein." Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz

"Es gibt unterschiedliche Verwundbarkeiten, sie sind mehrdimensional und können sich in einem Menschen vereinen." Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz

"Die Zukunft braucht weniger Integration, sondern ‚radikale Diversität‘ ist die Utopie einer Gesellschaft, in der alle Menschen ihre Differenz leben können." Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz

"Wir müssen immer wieder versuchen, Menschen aus ihrer Position heraus zu verstehen und die Stimmen derjenigen zu erkennen und hörbar zu machen, die am verletzlichsten sind." Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz

 

changeX 12.10.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Edition Körber, Hamburg 2022, 328 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-89684-293-0

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: Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denken. btb Verlag, München 2022, 560 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-442-75946-0

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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