Wissen: Letzter Stand

Wissensmanagement. Strategien, Methoden, Fallbeispiele - eine digitale Fachbibliothek von Matthias Bellmann, Helmut A. O. Krcmar und Tom Sommerlatte.

Von Winfried Kretschmer

Wissensmanagement wird in vielen Unternehmen auf der technischen Ebene betrachtet. Als Software unter vielen! Sie ist aber Teil eines tief greifenden Wandels der Unternehmenskultur. Wissen teilen, anderen vertrauen und mit ihnen kooperieren ist die unabdingbare Voraussetzung, um das Wissen in einer Organisation in vollem Umfang zu erschließen. Doch die industriegesellschaftlichen Bollwerke stemmen sich dagegen. Misstrauen verhindert das Fließen von Wissen. Eine CD-ROM versucht eine allgemeine Bestandsaufnahme, tappt aber selbst in diese Falle.

Die Bedeutung der herkömmlichen Produktionsfaktoren wie Rohstoffe und Arbeit sinkt, die Bedeutung des Wissens steigt. Je weiter diese Dematerialisierung voranschreitet, desto wichtiger wird es, die gesammelten Erfahrungen und Kenntnisse in einer Organisation so verfügbar zu machen, dass sie im Sinne des Organisationszwecks optimal genutzt werden können. "Ganz klar" sei Wissensmanagement eines der "Führungsthemen der Zukunft", sagte Hans-Jörg Bullinger, der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO), bereits vor zwei Jahren in einem Interview. Und er konstatierte erheblichen Handlungsbedarf: Zwar betrachteten über 96 Prozent der Führungskräfte Wissensmanagement als sehr wichtig, aber nur 14 Prozent waren mit der betrieblichen Umsetzung zufrieden, wie eine Studie des Instituts ergeben hatte. Eine deutliche Kluft.
Seither ist das Interesse an dem Thema weiter gewachsen, schließlich pfeifen es bereits die Spatzen von den Dächern, dass wir in einer Transformation zur Wissensgesellschaft stecken. An Bullingers Zahlen dürfte sich indes nur wenig geändert haben; ebenso wenig an seiner Analyse, dass in den Unternehmen Wissensmanagement in erster Linie als eine Frage der Softwarelösung begriffen und zudem ohne ausreichende Unterstützung der obersten Führungsebene betrieben werde.

Powerpaket zum Thema Wissensmanagement.


Umso verdienstvoller ist es, dass der Symposion Verlag sich dem Thema mit einer inhaltsreichen "Digitalen Fachbibliothek" angenommen hat. Die CD-ROM bietet 51 Textbeiträge, 80 PowerPoint-Präsentationen und verschiedene Arbeitshilfen auf Excel-Basis. Zusammengenommen sind das mehr als 800 Seiten Information - ein Powerpaket, das die Unternehmen bei der Einführung und Umsetzung von Wissensmanagement unterstützen soll.
Überdies bietet die Publikation eine Online-Anbindung an das Internet-Portal des Verlages, wo Ergänzungen und Aktualisierungen zum Download bereitgestellt werden. Herausgegeben wird das Werk von Matthias Bellmann (Siemens Information and Communication Networks), Helmut Krcmar (Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der TU München) und Tom Sommerlatte (Vice President Arthur D. Little), die schon vor zwei Jahren das ebenfalls bei Symposion erschienene "Praxishandbuch Wissensmanagement" herausgegeben haben.
Neben einigen grundlegenden Beiträgen zum Thema bietet die Publikation in erster Linie Orientierung für die praktische Umsetzung von Wissensmanagement in den Unternehmen. Es gliedert sich in sieben "Themenfelder". Diese beschäftigen sich mit Fragen des Wissensmanagements, behandeln die Consulting-Konzepte der führenden Wirtschaftsberatungsunternehmen, die Werkzeuge und Methoden für die unterschiedlichen Unternehmensbereiche, die Informationssysteme sowie die Messung und Bewertung der Ergebnisse von Wissensmanagement.
Breiten Raum nehmen schließlich Praxiserfahrungen ein. 16 Fallstudien beleuchten die Einführung von Wissensmanagementsystemen und deren Bedeutung für die Unternehmen. Das sind wertvolle und sicher auch hilfreiche Informationen - doch leider wird die Nutzung des mächtigen Informationspakets durch eine sehr rudimentäre Benutzerführung erschwert.

Rudimentäre Benutzerführung.


Zwar gibt es eine Suchfunktion, die eine Volltextrecherche über alle Beiträge hinweg bietet, davon abgesehen wurden leider die Möglichkeiten einer digitalen Publikation nur ansatzweise genutzt. Das betrifft vor allem die Navigation zwischen verschiedenen Beiträgen, das Surfen auf der CD-ROM gewissermaßen. Da fühlt sich der Leser wie ein Surfanfänger, der alle naslang ins Wasser fällt und sich erst mühsam wieder sein auf Surfbrett winden muss. Zu weit hergeholt ist dieser Vergleich nicht, denn jedes PDF-Dokument, das man anklickt, erweist sich als eine Sackgasse, denn einen Link zurück zur nächsthöheren Ebene, dem Inhaltsverzeichnis zum Beispiel, gibt es nicht, geschweige denn eine Verlinkung zu themenverwandten Artikeln.
Von einem Wissensmanagement-Produkt hätte man sich eine vernetztere Struktur erwartet, zumindest aber eine klare Benutzerführung auch auf der Ebene des einzelnen Dokuments. So ist die CD-ROM nur eine Sammlung von Einzeldateien mit zwei, drei darüber gestülpten Verzeichnissen und bietet dem Leser einen geringeren Nutzen als ein Buch. Denn darin kann man wenigstens zurückblättern. Dass CD-ROMs nur als Datei-Parkplatz genutzt werden, scheint aber ein Problem vieler digitaler Publikationen zu sein, nicht nur ein Handicap der vorliegenden.
Aber es ist nicht die einzige Schwäche. Auch die abgelegten PowerPoint-Präsentationen - mehr als 80 an der Zahl - erweisen sich als schwer handhabbar. Das PowerPoint-Fenster, das sich beim Anklicken öffnet, bietet nur die Möglichkeit, die Präsentation am Bildschirm anzuschauen. Ausdrucken, kopieren oder gar bearbeiten kann man die Folien oder einzelnen Inhalte nicht. Warum publiziert der Verlag nicht die originalen PowerPoint-Dateien, die der Nutzer dann für eigene Präsentationen verwenden könnte? Doch solches Teilen und Weitergeben von Wissen scheint nicht erwünscht zu sein. Damit sind wir beim Thema.

"Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß."


Je wichtiger Wissen in den Produktionsprozessen wird, desto bedeutender wird die optimale Organisation der Wissensbestände für die Wertschöpfung eines Unternehmens. "Wissensmanagement eröffnet Unternehmen faszinierende neue Chancen, ihre betriebswirtschaftlichen Ergebnisse zu verbessern, also Wert zu schaffen", unterstreicht Matthias Bellmann in seinem Vorwort die Bedeutung des Sujets. Es herrsche "Goldgräberstimmung im Umgang mit Wissen", sekundiert Koherausgeber Tom Sommerlatte.
In dieser Situation will die Publikation Orientierung verschaffen, und das gelingt auch. Vor allem die Beiträge, die seltsamerweise unter der Überschrift "Übersicht" zusammengefasst sind, bieten eine fundierte Einführung in die Wissensökonomie. Charles Goldfinger beschreibt in seinem Beitrag die "Logik der Entmaterialisierung", die im Begriff ist, die Wirtschaft von Grund auf umzukrempeln. Widersprüchliche Kräfte seien am Werk, Unternehmensstrategien müssten "zwangsläufig komplexer und offener sein", schreibt der Autor und liefert damit gewissermaßen die Steilvorlage für Tom Sommerlatte, der sich mit der Bedeutung von Wissensmanagement für die strategische Führung beschäftigt. Auch hier gewinnt der "schnelle Zugriff auf eine gezielt ... entwickelte Wissensbasis" rasant an Bedeutung. Denn die Unternehmen müssten sich auf "mehrere Zukünfte" vorbereiten, lineare Planung ist eine Schimäre von gestern.
Gerade dieser Exkurs in die strategische Planung zeigt, dass Wissen mehr meint als nur die Mobilisierung von Produktinnovationen. Wissen ist der Kitt, der alles zusammenhält. "Glücklicherweise steckt dieses Wissen weitestgehend schon im Unternehmen", meint Sommerlatte, "es muss nur zugänglich gemacht werden." Wissensmanagement will dieses verborgene Wissen erschließen. Ziel ist es, wenn man so will, "den Übergang von der individuellen zur kollektiven Intelligenz zu vollziehen". Genau das meint das Bonmot: "Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß ..."

Vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis.


Die Frage ist nur: Wie schafft man dieses kollektive Gedächtnis, von dem die Wissensmanagement-Propheten träumen? Und weil es für beinahe alle Fragen eine Softwarelösung gibt, gilt in den Unternehmen ein technisch-instrumenteller Ansatz für das Management des Wissens oftmals als der Weisheit letzter Schluss. "Wissensmanagement ist Software - diese Vorstellung ist weit verbreitet, und trotzdem falsch", schreiben Tilo Böhmann und Mitherausgeber Helmut Krcmar in ihrem Beitrag "Wissensmanagement und Informationssysteme", der zugleich einen Überblick über die versammelten Fachbeiträge über Werkzeuge für das Wissensmanagement bietet. Weil diese Werkzeuge Wissensmanagement oft erst möglich machen, werde ihre Bedeutung überschätzt, meinen die Autoren.
Die technische Infrastruktur, mittels derer Wissen kommuniziert, weitergegeben, gespeichert, organisiert und erarbeitet werden kann, ist nur eine Bedingung für erfolgreiches Wissensmanagement. Die zweite ist ein Wandel der Unternehmenskultur. "Ohne eine Atmosphäre des Vertrauens, des Teilens und der Kooperation kann auch durch noch so ausgeklügelte Wissensmanagement-Techniken keine Organisation entstehen, die sich ihr Wissen in vollem Umfang erschließen kann", schreibt der kanadische Physikprofessor Robert K. Logan und benennt damit zugleich den wirklichen Grund, weswegen es - nach Einschätzung mehrerer Autoren - in vielen Unternehmen mit dem Wissensmanagement nicht so richtig vorangehen will.
"Wissensmanagement ist wichtig - solange nichts Wichtiges dazwischenkommt." Dieses Bonmot, das Gregor Krey zitiert, gilt nicht nur für den Mittelstand, auf den es gemünzt ist. Sicher gibt es vielfach andere Prioritäten. Entscheidend ist aber, dass Wissensmanagement einen kulturellen Wandel erfordert, gegen den sich die industriegesellschaftlichen Bollwerke immer noch mit Erfolg stemmen. Kultureller Beton ist offenbar nicht weniger hart als der aus Zement, Wasser und Sand gemischte.
"Unsere Organisationen leben mit 'strukturiertem Misstrauen'", formuliert der Berater und Buchautor Charles M. Savage seine bittere Erkenntnis: "Es gibt zumeist mehr Misstrauen als Vertrauen. Und wir kennen die Schwächen des anderen besser als seine Stärken." Klar, dass in einer solchen Misstrauenskultur sozialisierte Menschen nicht von heute auf morgen auf Kooperation umprogrammiert werden können - wie vielleicht die Software in den Computernetzwerken. Denn Wissen bedeutet immer noch Macht.
Savage identifiziert zwei mentale Modelle, die dringend überarbeitet werden müssten: Das ist einmal die Knappheitswirtschaft, die zwar bei materiellen Dingen Sinn macht, nicht aber bei geistigen Produkten. Und zweitens die industriegesellschaftliche "Kultur des Misstrauens und Abwertens". Das ist wunderbar klar herausgearbeitet - offensichtlich aber nicht vollständig.
Denn nur wenige Seiten weiter verfängt sich Savage selbst in dem Fallstrick, den er eben so klar bloßgelegt hat. Dort führt er eine Kennzahl ein, der den Grad des Misstrauens in einem Unternehmen messen soll, durchaus auch subjektiv: Er bestimme sich an der "Fähigkeit, auf der Kompetenz anderer aufzubauen", dividiert durch den "Wissensumschlag". Leider hat Savage ein besonders hartnäckiges industriegesellschaftliches Denkmuster übersehen: alles messen und kontrollieren zu wollen - und unterminiert so die Vertrauenskultur, die er doch schaffen wollte. Vertrauen entsteht anders.

Kultureller Wandel ist gefragt.


Fazit: Die Publikation spiegelt in verschiedener Hinsicht die Probleme bei der Umsetzung von Wissensmanagement-Konzepten. Das zentrale Problem - nämlich den Wandel zu einer Kultur, die auf Vertrauen und Kooperation basiert und zum Austausch von Wissen und zu gegenseitiger Hilfe anregt - wird zwar benannt. Ideen und Anregungen, wie sich eine solche Kultur in den Unternehmen schaffen lässt, bieten die Autoren indes nicht. Eher den Rückfall in eine Kultur des Messens und Kontrollierens. Für Unternehmen, die konkret an der Einführung eines Wissensmanagement-Systems arbeiten, bietet die CD-ROM eine Fülle hilfreicher Informationen und Anregungen. Die Krux bleibt aber, dass Wissensmanagement auf dieser Ebene kleben bleibt. Der kulturelle Wandel bleibt auf der Strecke.

Matthias Bellmann / Helmut A. O. Krcmar / Tom Sommerlatte:
Wissensmanagement. Strategien, Methoden, Fallbeispiele.
Digitale Fachbibliothek auf CD-ROM,

Symposion Publishing, Düsseldorf 2004,
über 800 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,
Präsentationen und Arbeitshilfen, 196 Euro,
ISBN 3-936608-54-7
www.symposion.de/wissen

Die Kapitel des Werks kann man auch einzeln online als PDF-Dokument erwerben:
www.symposion.de

Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

© changeX [11.02.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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: CD-Rom. ?. , 1900, ISBN 3-936608-54-7

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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