Harry Bernstein ist 96. Und Bestsellerautor. Als vor fünf Jahren seine Frau starb, mit der er 67 Jahre glücklich verheiratet war, beschloss Harry, noch einmal etwas Neues anzupacken. Er begann seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Schon vor einigen Jahrzehnten hatte er einige Kurzgeschichten veröffentlicht, darunter auch eine autobiographische Erzählung, die sich mit seiner Kindheit in England und der Emigration seiner Familie in die USA beschäftigte - und diese Geschichte wollte er nun zu Ende erzählen. Zu erzählen gab es genug. Von der Armut und den beengten Verhältnissen, in denen Harry seine Kindheit im Arbeiterviertel von Stockport verbrachte. Und von der Straße, in der die Familie lebte: eine triste Wohnstraße, wie man sie überall in englischen Industriestädten findet, die jedoch eine Besonderheit hatte. Eine unsichtbare Mauer trennte die beiden Straßenhälften. Auf der einen Seite wohnten Juden, auf der anderen Christen; man grüßte sich, ging sich aber ansonsten aus dem Weg - für Harry Bernstein das Leitmotiv seiner Erinnerungen. Während sein Buch The Invisible Wall zeitgleich in mehreren Ländern erscheint, schreibt Harry Bernstein, 96-jährig, bereits an der Fortsetzung.
Oder Bob Johnson, 69 Jahre alt und ebenfalls Rentner, der jedes Jahr in einem Wohnbus in der Wüste Arizonas überwintert. Bob hatte früher Pilot bei der Luftwaffe werden wollen. Weil seine Augen nicht mittaten, wurde er halt Flugzeugmechaniker. Sein ganzes Berufsleben lang schaute er sehnsüchtig schneidigen Kerlen nach, wie sie in den von ihm reparierten Maschinen in den Himmel entschwanden. Bis zur Pensionierung. Damals klebte sich Bob einen Aufkleber an seinen Bus - "Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit" - und beschloss, fliegen zu lernen. Und heute fliegt er. Jeden Winter. Mit einem motorgetriebenen Gleitschirm, an dem ein Zweisitzer hängt, zieht er seine Kreise über der Wüste. Jeweils einen zahlenden Passagier kann er mitnehmen, damit finanziert er den Sprit und bessert die Rente auf. Was bewegt den alten Bob zu lernen, was der junge Bob nicht lernen durfte? Warum bewältigt ein Rentner, was mancher 30-Jährige nicht schafft?
Gelernt ist nicht gelernt.
Bobs Antrieb war eine Vision: der
ewige Traum, das freie Leben, seine Freude, mobil zu sein und
abzuheben. Genauso wie Harry Bernstein, der nach dem Tod seiner
Frau beschloss, dass sein Leben noch nicht zu Ende sei,
zumindest, bis er es zu Papier gebracht hatte. Beide Beispiele
zeigen: Das Leben ist nie fertig und abgeschlossen. Immer hat es
eine Wendung parat - wenn man das will. Sie zeigen auch: Wer
leidenschaftlich ein Ziel verfolgt, der muss nicht diszipliniert
werden - er lernt von allein, was zu lernen ist.
Mit Zwang dagegen kommt man nicht weit, das zeigte uns das
traditionelle Bildungssystem bis in die 70er Jahre hinein.
Menschen in starre Lernschablonen zu pressen hat viel Unheil
angerichtet. Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Sonderschule.
Jedem sein Kästchen, aus dem er nie wieder herauskam. Ob ein Kind
in den Kohlekasten oder ins Schmuckkästchen kam, entschied sich
nach Herkunft und Einkommen der Eltern. Die einmal eingeschlagene
Richtung bestimmte den gesamten Berufs- und Lebensweg, entschied
meist auch über sozialen Status und persönlichen Wohlstand. Und
das Leben war überschaubar, verlief in festen Bahnen: Schule,
Ausbildung, Beruf, Ruhestand. Drei Jahre Lehre oder fünf Jahre
Uni, und das dort erworbene Wissen hielt bis zur Rente. Und das
galt auch umgekehrt: "Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans
nimmermehr", sagte man. Und meinte: In der Jugend wird das Wissen
erworben, das für den Rest des Lebens reichen muss. Wissen ist
abgeschlossen. "Gelernt ist gelernt."
Heute haben diese rigiden Regeln ausgedient: der Zwang als
Mittel der Qual ebenso wie die Vorstellung vom Wissenserwerb als
Lebensphase. Heute gilt freiwillig lernen, und das ein Leben
lang. Einen erfolgreichen Übergang von der Industrie- in die
Wissensgesellschaft wird Deutschland nur schaffen mit Heerscharen
lernwilliger Menschen, die ihre Bildung in die eigenen Hände
nehmen. Motivierte Menschen aus allen Schichten, Einheimische und
Einwanderer, egal welchen Alters, ganz nach Bob Johnsons Motto:
Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Auf der
persönlichen Ebene mag das wie Selbstverwirklichung aussehen.
Tatsächlich kann lebenslanges Lernen in einem Menschen innere
Türen öffnen. Er entdeckt, wie Bob, der Wüstenpilot, verborgene
Potenziale in sich. Findet Zugang zu lange gehegten Träumen, wie
Harry. Oder, ganz einfach, einen Arbeitsplatz, der neue
Kenntnisse von ihm verlangt. Er kann Chancen wahrnehmen.
Historisch einmaliger Beschleunigungsvorgang.
Ähnliches gilt auf
gesellschaftlicher Ebene - nur geht es dort um sehr viel mehr:
Wir erleben einen säkularen Übergang, eine große Transformation
unserer Gesellschaft in eine neue, die wir erst erahnen.
Rückblickend beobachten wir einen historisch einmaligen
Beschleunigungsvorgang. Traditionelle Agrargesellschaften folgten
dem Rhythmus der Jahreszeiten und veränderten sich ansonsten nur
allmählich: Äcker und Wiesen sind nun mal äußerst immobil. Auch
die erwerbbaren Kenntnisse reiften nur langsam. Als der Mönch
Isidor von Sevilla um das Jahr 600 eine Enzyklopädie des
Weltwissens verfasste, passte dieses in nur 20 Bände - und die
wurden erst ein knappes Jahrtausend später als Bücher gedruckt.
Nur langsam kam der Erkenntnisfortschritt voran. Oftmals riss der
Faden, ging Wissen verloren, mussten Methoden und Techniken
abermals erfunden werden. Erst in der Industrialisierung
erreichte die Wissensrevolution ihren Take-off. Nun beschleunigte
sich die Entwicklung. Spinnmaschine und Webstuhl, Dampfmaschine
und Eisenbahn, schließlich das Fließband eröffneten neue
Horizonte der Produktivität und Geschwindigkeit. Das Leben
verlief schneller, die Entfernungen schrumpften.
Dennoch gab es noch Trägheitsmomente, auch Zechen und
Fabriken lassen sich nicht per Fingerschnippen an andere Orte
zaubern. Richtig in Fahrt kommt die Welt insofern erst in der
Gegenwart, als die weltweite Vernetzung räumliche Distanz beinahe
bedeutungslos werden lässt und die Menschen nur noch ein paar
Tastaturzeichen und Mausklicks voneinander entfernt sind.
Wirtschaft und Gesellschaft werden zunehmend von der Ressource
Wissen und ihrer Inwertsetzung geprägt. Es gibt Schätzungen, nach
denen Ende dieses Jahrzehnts 80 Prozent aller menschlichen
Tätigkeiten darin bestehen werden, Informationen zu verarbeiten:
beraten, verkaufen, forschen, entwerfen, ordnen, vernetzen,
recherchieren, verwalten und gestalten. Der Rohstoff Information
lässt sich in Lichtgeschwindigkeit rund um den Erdball verteilen.
Als Folge davon beschleunigt sich der Wandel selbst. Und Wissen
veraltetet manchmal schneller, als es aufgeschrieben werden kann:
Mönch Isidor sähe schon nach Monaten alt aus.
Lebenslang oder lebenslänglich?
Deshalb wäre es eine Illusion zu
glauben, einmal im Leben etwas zu lernen reiche aus, um über die
Runden zu kommen. Beispiel Automobil: Das gute alte Vehikel der
Industriegesellschaft hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte zum
Hightech-Produkt gewandelt. Spitzenmodelle gleichen Computern auf
Rädern. Schon heute verfügt ein Fahrzeug der Oberklasse über mehr
Rechenleistung als die Apollo-Raumfähre, mit der die ersten
Menschen zum Mond flogen. Wer vor zehn Jahren als Automechaniker
ausgebildet wurde, sieht sich heute der Konkurrenz von
Mechatronikern gegenüber, die sich mit den elektronischen
Innereien der hochgerüsteten Fahrzeuge von heute besser
auskennen. Und nicht anders ist es in vielen anderen Berufen
auch. Wer nach einem zehnjährigen Aufenthalt auf einer einsamen
Insel wieder zurück in die Zivilisation käme, der hätte
Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, in seinem Beruf ebenso wie
im Alltag. Dieser rapide Wandel bedeutet eine gewaltige
Herausforderung, für die Gesellschaft wie für die Menschen.
Für Deutschland als Staat, als Volkswirtschaft und als
Kulturnation steht nichts weniger auf dem Spiel als die Zukunft.
Dazu einige nüchterne Fakten: Die Bevölkerung schrumpft und
altert dramatisch. Zuwanderung kann diese Entwicklung bremsen,
aber nicht verhindern. Selbst wenn Frauen endlich und tatsächlich
die gleichen Chancen hätten, berufstätig zu sein, wäre der
Bevölkerungsrückgang nicht zu stoppen. Hinzu kommt: Anders als
eine Industriegesellschaft, die mit relativ starren Inhalten in
Schule, Lehre oder an den Universitäten und entsprechend
eindimensional ausgebildeten Arbeitskräften prima zurechtkam,
potenziert sich in einer Wissensgesellschaft der Bedarf an
hochgebildeten, kreativen und vor allem lebenslang flexiblen
Kopfarbeitern. Doch die Deutschen tun sich schwer mit
lebenslangem Lernen. Obwohl dieser Slogan in jeder
bildungspolitischen Rede beschworen wird, ist die Botschaft
längst nicht in den Köpfen der Menschen angekommen - was kaum
erstaunlich ist: Schnell wurde auch diese ehrgeizige Vision zum
Schlagwort verkürzt und dann tagespolitisch missbraucht. So
springt der Funke nicht über. Das Ergebnis: Die Deutschen tun zu
wenig für ihre Weiterbildung; auch auf diesem Feld rangiert unser
Land auf einem der hinteren Plätze im europäischen Vergleich.
Viele Deutsche leben mental noch in der Industriegesellschaft,
sie fühlen sich bei lebenslangem Lernen eher an lebenslänglich
erinnert. Die Entwicklung aber strebt längst in Richtung
Wissensgesellschaft. Deutschland will dahin. Aber wie?
Der Autodidakt als Ikone der Postmoderne.
Zunächst einmal mit handfesten Maßnahmen: Zur "Hardware" einer wissensbasierten Gesellschaft zählen eine größere Durchlässigkeit zwischen den Schultypen, weniger Bildungsbarrieren für Frauen, mehr Angebote für Erwachsene und Alte. Die Liste des Wünschbaren ist lang und der Politik sattsam bekannt. Genauso wichtig ist jedoch eine neue "Software": ein Wertesystem, das neue Tugenden fordert und fördert. Eine Metapher dafür ist der Autodidakt: ein Mensch, der aus eigenem Antrieb und in einem sehr individuellen Rhythmus lernt - ein Leben lang. Wie Leibniz. Der deutsche Philosoph, Wissenschaftler, Mathematiker, Diplomat und Bibliothekar Gottfried Wilhelm Leibniz, der von 1646 bis 1716 gelebt hat, gilt als der letzte Universalgelehrte. Wohl zum letzten Mal war beinahe das gesamte Wissen der Zeit in einem Kopf vereint, vermochte es ein Mensch auf den verschiedensten Wissensfeldern zur Meisterschaft zu bringen. Und Leibniz war der Prototyp des Autodidakten, vielleicht hat er sogar diesen Begriff ins Deutsche eingeführt, als er beschrieb, wie er schon als Knabe mit Mathematik und Philosophie in Berührung gekommen sei: "Zweierlei kam mir dabei erstaunlich zustatten - was gleichwohl sonst oft bedenklich und manchem schädlich ist: erstens, dass ich fast ganz Autodidakt war, sodann aber, dass ich in jeder Wissenschaft, an die ich herantrat, sogleich nach etwas Neuem suchte: häufig noch ehe ich nur ihren bekannten, gewöhnlichen Inhalt ganz verstand." So füllte er seinen Kopf "nicht mit leeren Sätzen an" und konnte seinen eigenen Weg in die Wissensgründe suchen: "Ferner aber ruhte ich nicht eher, als bis ich in die Fasern und Wurzeln einer jeden Lehre eingedrungen und zu den Prinzipien selbst gelangt war, von denen aus ich dann aus eigener Kraft all das, womit ich es zu tun hatte, aufzufinden vermochte." Hier findet sich wunderbar klar beschrieben, was den Autodidakten ausmacht: der eigene Impuls, sich Wissen zu seinen eigenen Zwecken anzueignen. In dem bürokratisierten Bildungssystem von heute ist das vergessen. Hier gibt es Wissens-Fast-Food in vorkonfektionierten Häppchen; der eigensinnige Drang zum Wissen wurde unseren Lehrplänen und Curricula ausgetrieben. Und in dem Maße, wie Wissen verschult und bürokratisiert wurde, hat der Autodidakt an Bedeutung verloren. Gerade mal fünf Zeilen widmet der Brockhaus dem "Selbstgelehrten", wie das griechische Wort wörtlich übersetzt wird: Ein Autodidakt, das ist "jemand, der durch Selbstunterricht, das heißt ohne Anleitung von Lehrern beziehungsweise außerhalb von Bildungseinrichtungen, Wissen und Bildung erworben hat". Diese knappe Definition spiegelt zugleich den Bedeutungsverlust, den diese selbstbestimmte, eigensinnige Art des Wissenserwerbs erlitten hat. Zu früheren Zeiten hingegen war man sich der Potentiale des selbstbestimmten Lernens sehr wohl bewusst. "Dem Selbstunterrichte", heißt es etwa in der Allgemeinen Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, dem Ur- Brockhaus von 1864, "ist allerdings der Vortheil größerer geistiger Anregung, der Gründlichkeit und Lebendigkeit des Wissens, der Selbständigkeit und Originalität nicht wohl abzusprechen". Und die Allgemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste aus dem Jahr 1821 argumentiert überraschend modern: Weil Autodidakten sich selbst zum Erwerb von Wissen motivieren, Methoden und Verfahren durch eigenes Nachdenken finden, dabei eine Menge von Schwierigkeiten überwinden und erst mit Anstrengung aussuchen, verknüpfen oder hervorbringen müssen, was Bildungseinrichtungen ihnen verarbeitet darbieten, "kommen sie bisweilen auf neue Bahnen, Entdeckungen und Ansichten, die der Kunst und Wissenschaft wesentlichen Gewinn bringen". Modern gesprochen: Innovation.
Zeitalter des permanent unfertigen Menschen.
Das beschreibt nun ziemlich exakt,
worauf es heute ankommt: Drang anstelle von Zwang. Lernlust
anstelle von Paukfrust. Selbstbestimmung anstelle von Lehrplänen.
Der Autodidakt als vormoderner Typus des Lernens wird zur Ikone
der Postmoderne. Er symbolisiert die Freiheit, durch neue
Kompetenzen nach Gelegenheiten zu greifen. Er ist einer vom
Bodenpersonal, der fliegen lernt. Wenn nicht mit 30, dann eben
mit 60. Dazu muss man nicht zum Überflieger werden. Offen zu sein
für Veränderungen reicht schon. Aber genau das fällt vielen
Menschen so schwer. Sie fühlen sich ohnmächtig und überfordert
angesichts einer Welt, die sich im Stundenrhythmus zu verändern
scheint. Das verunsichert. Verunsicherung aber untergräbt die
Chancen zum Handeln. Je unkalkulierbarer und schneller sich die
Welt wandelt, desto dringlicher ist es für den Einzelnen, sich
handlungsfähig zu halten. Das bedeutet: offen sein für
Veränderungen, sich selbst als resistent, entwicklungsfähig und
entwicklungswillig zu erleben - so hat der Alternsforscher Paul
B. Baltes die neuen Herausforderungen beschrieben. Er hat das 21.
Jahrhundert als das "Zeitalter des permanent unfertigen Menschen"
bezeichnet, ein Zeitalter, in dem lebenslanges Lernen zur Norm
wird.
Mit der Freiheit, seinem Leben immer wieder überraschende
Wendungen zu geben, wächst gleichzeitig auch eine Notwendigkeit:
Wir müssen auf dem Laufenden bleiben. "Lernen ist wie Rudern
gegen den Strom", lautet ein Sprichwort, "sobald man aufhört,
treibt man zurück." Wer sich aus dem schnell fließenden Strom des
Wandels ausklinkt, gerät in Gefahr, zu den beruflichen
Auslaufmodellen zu gehören. Freiheit gibt es nicht ohne Risiko.
Wir werden gezwungen sein, uns auf dem Arbeitsmarkt als Manager
unserer selbst anzubieten. Und als Lebensunternehmer sind wir
dafür verantwortlich, welche Inhalte wir wann wie lange und zu
welchem Zweck lernen. Hier dreht sich der Spieß um: Bildung wird
Bürgerpflicht. Und Notwendigkeit. Und zugleich wendet sich die
Perspektive: Das Unfertige erscheint nicht als Bedrohung, als
nicht mehr endende Mühsal und Qual, sondern als Herausforderung
und Chance. Permanent unfertig zu sein, das heißt, stets offen zu
sein für Neues und sich immer neue Möglichkeiten der
Weiterentwicklung zu erschließen.
Diese beiden Idealtypen, der Autodidakt und der
Lebensunternehmer, die einander ergänzen und bedingen, sind die
Ikonen der Wissens- oder präziser noch: der
Kompetenzgesellschaft. Denn worauf es in Zukunft ankommt, das ist
ja nicht beliebiges, sondern gebündeltes, fokussiertes, auf
individuelle Fähigkeiten und Potentiale bezogenes Wissen. Erst
durch einen Menschen, der weiß, wird aus Wissen Kompetenz. Ein
Lebensunternehmer ist, wer die zielgerichtete Weiterentwicklung
seiner Kompetenzen zu seiner Lebensaufgabe macht. "Ich kann was,
ich bin was und ich mache was daraus", das ist die Haltung, die
ihn auszeichnet. Kreativ reagiert er auf Herausforderungen,
ständig ist er bereit für Neues, lernt an seinen Erfahrungen und
integriert neu erworbenes Wissen und Können in sein einzigartiges
Kompetenzprofil. Sein Ziel ist so einfach wie anspruchsvoll: Das
zu tun, was er leidenschaftlich gern tun möchte. Der
Lebensunternehmer ist das selbstbestimmte Individuum des 21.
Jahrhunderts. In ihm rundet sich der Jahrhunderte währende
Prozess der Individualisierung ab. Die Grundlage des
Lebensunternehmertums ist lebenslanges Lernen.
Werde, was du sein willst.
Was ist lebenslanges Lernen also:
Lust? Pflicht? Pure Notwendigkeit, um zu überleben? Die Antwort
lautet, wie so oft: je nachdem. Es hängt von Temperament und
Typus ab, wie ein Mensch auf die sich selbst überholende
Wandelwelt reagiert. Die einen betätigen sich als lustvolle
Autodidakten, stürzen sich mit Wonne auf Praktika in Island und
"Chinesisch für Anfänger", Kurse in Webkunst und Webdesign,
Erzählwerkstätten und Qigong. Sie navigieren neugierig durch den
Wissensdschungel und halten so ihre Synapsen elastisch. Geschickt
wissen sie das sinnstiftende "Werde, was du sein willst" mit den
knallharten Anforderungen des Marktes zu verbinden. Kurz: Sie
sind bereits flügge.
Doch es gibt auch andere Charaktere. Die Zaghaften und
Ängstlichen, diejenigen, die sich einen festen Rahmen wünschen -
und die sind in unserer Gesellschaft eine Mehrheit. Ihnen wären
Vorgaben lieber, ein Bildungskanon, der ihnen Sicherheit gibt,
festgelegte Karriereschritte. Nur, das sind die Denkmuster der
Vergangenheit. Sie greifen nicht mehr. Bildung ist nichts, das
man hat. Sondern etwas, das man fortwährend erwirbt, sichert,
erweitert. Weil es sonst verkümmert und verfällt. Das gilt es den
Verzagten nahezubringen. Wer es ernst meint mit der Vorgabe,
möglichst viele Bildungswillige zu motivieren, sollte sich nicht
nur um die begeisterten Piloten kümmern, sondern vor allem um die
Menschen mit Höhenangst. Sie entfalten ihre Talente nur in einer
Kultur der Ermutigung, die freilich einen Perspektivwechsel
verlangt. Es geht um eine Haltung, die Risiken nicht scheut,
sondern als willkommene Begleiter jeglichen Fortschritts preist.
Die Weiterentwicklung nicht als Bedrohung, sondern als Chance
begreift. Unsere Gesellschaft muss sich eine eigene
Zukunftsvision auf der Basis von Wagnis erarbeiten - sie muss
fliegen lernen.
Michael Gleich ist Buchautor, Publizist und Mitinitiator von Culture Counts, Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Co-Geschäftsführer bei changeX.
Quellenangaben in der Reihenfolge ihrer Nennung im Text:
Harry Bernstein:
Gegenüber die andere Welt. Eine Kindheit, Econ Verlag,
Berlin 2007.
Gottfried Wilhelm Leibniz: "Zur allgemeinen
Charakteristik", in: Gottfried Wilhelm Leibniz:
Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I,
Leipzig 1904, Seite 91.
Brockhaus Enzyklopädie, 21. Auflage, Stichwort
"Autodidakt".
Allgemeine Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände,
Conversations-Lexikon, Friedrich Arnold Brockhaus, Leipzig
1864, Stichwort "Autodidakt".
Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hrsg.):
Allgemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste,
Johann Friedrich Gelditsch, Leipzig 1821, Stichwort
"Autodidakt".
© changeX [22.02.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 22.02.2007. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Michael GleichMichael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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