Achtsamkeit in 3D
Achtsamkeit, nun gut. Aber Achtsamkeiten? Das bringt Unklarheit in einen Begriff, der ohnehin alles andere als klar ist - und, so zart er daherkommt, keineswegs unumstritten. Achtsamkeit polarisiert. Wird gepriesen oder belächelt, praktiziert oder abgelehnt. Und jetzt auch noch das: Achtsamkeiten!? Der Plural meint: die Erweiterung des ursprünglich rein subjektzentrierten Ansatzes auf Mitmenschen und Mitwelt. Ein mehrdimensionales Konzept also.
Lange Zeit galt Achtsamkeit als esoterisch. Das Konzept war wissenschaftlich nicht anerkannt. Ähnlich wie der Atem in der westlichen Medizin keine Aufmerksamkeit fand und als quasi automatisch ablaufende körperliche Grundfunktion galt, wurde auch Achtsamkeit nicht wahr- respektive ernst genommen. Das änderte sich erst mit den Arbeiten des amerikanischen Mediziners und Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn, der die fernöstliche Achtsamkeitspraxis mit westlichen Vorstellungen von Gesundheit kompatibel machte und als "Mindfulness-Based Stress Reduction" (MBSR) zu einem erfolgreichen Trainingsprogramm für den gestressten modernen Menschen weiterentwickelte. Das war der Durchbruch. Und brachte zugleich eine weitere Angleichung des Konzepts an das westliche Denken mit sich. Aus der ursprünglich spirituell verankerten Achtsamkeitspraxis wurde eine Art ganzheitliches Fitnessprogramm. Als Achtsamkeitstraining.
Achtsamkeit wurde zum Trendbegriff. Medien sprangen auf und pushten das Thema in den Mainstream. Große Unternehmen begannen, Achtsamkeitsübungen für ihre Belegschaften anzubieten. Viele Menschen nutzen heute Achtsamkeit, um die Selbstwahrnehmung zu schulen und Stress abzubauen, gewissermaßen als Tool zur Selbstoptimierung: innehalten, bewusst gehen, bewusst atmen, achtsam trinken, achtsam essen, dankbar sein. All das immer mit Blick nach innen, auf den eigenen Körper und den eigenen Geist gerichtet. Ein subjektzentriertes Konzept also. Zugleich hat sich parallel zu ihrer Popularisierung aber auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Achtsamkeit intensiviert. Die Zahl wissenschaftlicher Publikationen zu diesem Thema hat sich vervielfacht. Forscher beschäftigen sich mit der Wirkung von Achtsamkeitspraxis und entwickeln Programme für die praktische Anwendung.
In diesem Forschungsbereich arbeiten die beiden Jenaer Wissenschaftler Mike Sandbothe und Reyk Albrecht. Sandbothe lehrt als Professor für Kultur und Medien an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena, Albrecht ist wissenschaftlicher Geschäftsführer am Ethikzentrum der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitarbeiter der Universität. Beide sind zertifizierte Trainer für Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat-Zinn und haben gemeinsam das Thüringer Modell "Achtsame Hochschulen" entwickelt. Darüber erscheint im kommenden Juni eine wissenschaftliche Publikation, das Praxisbuch ist schon vorab erschienen, mit Hubert Ostermaier, Professor für Unternehmensführung an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und ebenfalls MBSR-Trainer als Co-Autor.
Ein mehrdimensionaler Ansatz
Die Drei erweitern nun das auf das Individuum fokussierte Konzept von Achtsamkeit zu einem mehrdimensionalen Ansatz. Das meint der Buchtitel Achtsamkeiten. Der Plural bedeutet die Ausweitung von Achtsamkeit auf weitere Erfahrungsräume: vom individuellen auf den sozialen Erfahrungsraum und weiter auf den ökosystemischen Erfahrungsraum, die natürliche Umwelt. Das Konzept versteht sich als ein Schlüsselbund, dessen Schlüssel einen neuen Zugang zu den wichtigsten Verbindungen verschaffen: "der Verbindung zu Dir selbst, der Verbindung zu Deinen Mitmenschen und der Verbindung zu Deiner Umwelt".
Entsprechend präsentiert das Buch eine Kombination von mehrdimensionalen Achtsamkeitsübungen. Vorgestellt werden acht individuelle, zwei soziale und zwei ökosystemische Übungen. Die individuellen Achtsamkeitsübungen sind nach innen, auf den eigenen Körper und das eigene Mindset gerichtet, die sozialen geschehen in der Interaktion mit anderen Menschen, die ökosystemischen schließlich sollen die Verbindung zur natürlichen Umwelt und zum Planeten Erde spürbar machen. Achtsamkeit wird verstanden als Präsenz in dem jeweiligen Erfahrungsraum. Als "Fähigkeit, bewusst im Hier und Jetzt zu sein". Achtsamkeit als eine "Schulung des Gewahrseins".
Die von Julia Vanessa Maier illustrierten Übungen sind gut und praktisch nachvollziehbar beschreiben. Eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Dimensionen von Achtsamkeit bildet dabei der Body Scan, dem auch eine zentrale Rolle im MBSR-Programm zukommt. Dabei lässt man seine Aufmerksamkeit einfühlsam und systematisch durch alle Regionen des Körpers wandern. Der Moving Body Scan, der Social Body Scan und der Eco Body Scan erweitern nun dieses grundlegende Konzept auf den Körper in Bewegung, auf die sozialen Beziehungen und auf die ökosystemische Dimension.
Als Wissenschaftler haben die Autoren, wie sie schreiben, "diese vielfältigen, eng miteinander verbundenen und aufeinander aufbauenden Dimensionen von Achtsamkeitspraxis mit mehreren Tausend Menschen erprobt und ständig weiterentwickelt". Sie verstehen diesen Ansatz zugleich als Beitrag zur Reform unseres Bildungssystems, das geprägt sei durch das Anhäufen von Wissen und dabei die Schulung von Mitgefühl und Körperwahrnehmung vernachlässige. Nicht nur das, die erweiterte Praxis soll auch helfen, mit Krisenerfahrungen der Zeit umzugehen: "Das Zusammenspiel von individuellen, sozialen und ökosystemischen Achtsamkeiten ist hilfreich, um mit den Herausforderungen in unserer von Krisen geprägten Zeit umzugehen." Zwei Exkurse, die Impulse aus dem Buch aufgreifen, ermöglichen ein besseres Verständnis dieses erweiterten Konzepts von Achtsamkeit. Zum einen geht es dabei um eine neurowissenschaftliche Perspektive, die einen externen Blick auf Achtsamkeit eröffnet. Zum anderen geht es um Freundlichkeit - was wiederum (und ein klein wenig) den Blick auf die spirituelle Dimension von Achtsamkeit öffnet.
Mäandernder Gedankenstrom
Im Buch findet sich ein kleiner, eher beiläufiger Hinweis auf neurowissenschaftliche Untersuchungen zur Wirkung von Achtsamkeitsübungen, die - von der westlichen Wissenschaft kommend - ein besseres Verständnis von Achtsamkeit ermöglichen. Dabei geht es um das Default Mode Network DMN, das Ruhezustandsnetzwerk im menschlichen Gehirn, das die Autoren so einführen: "Dieses ‚Ruhezustandsnetzwerk‘ wird immer dann aktiv, wenn Du nicht mit Deiner Aufmerksamkeit präsent in der jeweiligen Situation bist, sondern Dein Gehirn Dir Geschichten über Dich selbst erzählt - zum Beispiel, wenn du vergangene Erlebnisse in der Erinnerung durchspielst und Du Dir Sorgen um die Zukunft machst". Dann rutsche man ab in die "Unachtsamkeit", in den Default Mode, also "das innere Geschichtenerzählen". Das ist wie gesagt nur eine kleine Notiz, lässt sich aber weiterverfolgen, denn Hinweise auf das Ruhezustandsnetzwerk finden sich auch in anderen aktuellen Publikationen - mit aufschlussreichen Rückbezügen zum Achtsamkeitsthema.
So widmen Martin Seligman, der Begründer der Positiven Psychologie, und Gabriella Rosen Kellerman als CO-Autorin dem Default Mode Network einige Abschnitte in ihrem Buch Tomorrowmind. Ihnen zufolge war die Entdeckung des Ruhezustandsnetzwerks "eine der wichtigsten neurowissenschaftlichen Entdeckungen unserer Zeit", und wie viele andere bedeutsame Entdeckungen auch "kam sie durch Zufall ans Licht". Bei einer Untersuchung der Gehirnfunktion mittels bildgebender Verfahren waren als Kontrollmodus Ruhephasen ins Untersuchungsdesign eingebaut. Nur dazuliegen, ohne irgendetwas zu tun, lautete die Anweisung an die Probanden. Doch ging in diesen Ruhephasen die Gehirnaktivität nicht wie erwartet schlagartig zurück, vielmehr waren bestimmte Hirnregionen angeregt aktiv und leuchteten auf dem Bildschirm deutlich sichtbar auf.
"Hat das Gehirn sonst nichts zu tun, fährt es nicht einfach herunter", erläutern Kellerman und Seligman, "sondern geht in einen neuen Denkmodus, der so vital ist, dass er unseren Standardmodus bildet - die Aktivität, auf die das Gehirn in jedem freien Moment umschaltet."Etwa, wenn wir die Gedanken schweifen lassen, wenn das Gehirn Erinnerungen durchspielt oder die Zukunft imaginiert. Es ist dann nicht präsent im Augenblick, sondern mit seinen Aktivitäten ganz woanders, schweift in Gedanken irgendwohin. Dieser mäandernde Gedankenstrom ist Quelle innovativer Ideen, aber auch eine Quelle von Unruhe in Form von sich ins Bewusstsein drängenden Gedankenfetzen. Und genau hier liegt der Ansatzpunkt von Achtsamkeit: Sich in solchen Momenten von den mäandernden Gedanken lösen zu können und seine weit gestellte Wahrnehmung auf das Hier und Jetzt zu richten. Voll bewusst und präsent zu sein.
Der Welt mit Freundlichkeit gegenübertreten
Das zweite Thema öffnet den Blick auf die spirituelle Dimension von Achtsamkeit, die mit der Angleichung des Konzepts an den westlichen Lebensstil in den Hintergrund getreten ist. Die Erweiterung des Konzepts rückt diese Dimension nun wieder in den Blickpunkt und löst das Individuum aus der bloßen Innenschau. Während die ersten sechs Übungen im Buch darauf gerichtet sind, "das bewusste, nicht wertende Wahrnehmen des Gegenwärtigen zu trainieren", also subjektzentriert angelegt sind, öffnet die siebte Übung einen Spalt weit die Tür zur Welt und bezieht die Mitmenschen mit ein. Sie beruht auf der Jahrtausende alten Praxis der Metta-Meditation, der Meditation der liebenden Güte. Ihre davon abgeleitete Variante nennen die Autoren Freundlichkeitsmeditation oder Praxis des achtsamen Wünschens.
Die Freundlichkeitsmeditation besteht in vier aufeinanderfolgenden Schritten, wobei jeweils in Stille vier Wünsche formuliert werden: "achtsame Wünsche an Dich selbst", "achtsame Wünsche an nahestehende Menschen oder Lebewesen", "achtsame Wünsche an Menschen oder Lebewesen aus Deinem Umfeld" und schließlich, viertens, "achtsame Wünsche an die Welt". Diese Wünsche sind Ausdruck einer grundlegenden Freundlichkeit als Haltung gegenüber der Welt.
"Freundlichkeit zu praktizieren bedeutet, mit sich selbst und anderen Lebewesen so umzugehen wie mit einem guten Freund oder einer guten Freundin." Die Freundlichkeitsmeditation lasse deutlich werden, "wie weit sich die individuelle Praxis in den sozialen und den ökosystemischen Erfahrungsraum hineinbewegen kann". Es findet zwar keine Interaktion mit anderen Menschen oder der Umwelt statt, doch die Praxis schafft eine Verbindung von innen her - letztlich mit der Intention, sich die komplette Vielfalt des Lebens auf der Erde vorzustellen und dieser mit Freundlichkeit gegenüberzutreten. Eine Grundhaltung, die sich ganz wesentlich von unserer westlichen, instrumentell und funktional geprägten Lebensart unterscheidet.
Achtsamkeit und Transformation
Am Ende präsentiert das Buch eine Definition von Achtsamkeit, die der Forschungsarbeit von Sandbothe und Albrecht entstammt: "Achtsam sein bedeutet: kognitiv, emotional und körperlich spüren, was an der Zeit ist - und dazu beitragen, dass es geschehen darf." Und genau das brauche es in Krisenzeiten, so die Autoren: "ein Gespür für die Gegenwart zu entwickeln und wahrnehmen zu können, welche Zukunft geboren und welche Vergangenheit transformiert werden möchte". Die Brücke zur Transformation schlägt schließlich Otto Scharmer, Transformationsforscher am Massachusetts Institute of Technology, Gründer des Presencing Institute in Cambridge und Begründer der Theory U, der als externer Experte in das Buchprojekt einbezogen war. Er schreibt: "Die Kultivierung des Individuums durch individuelle Achtsamkeitsübungen ist die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung für systemische Transformation. Was noch hinzukommen muss, ist, dass wir die Kraft der Achtsamkeit anwenden auf die Transformation des Gesamtsystems."
Zitate
"Das Zusammenspiel von individuellen, sozialen und ökosystemischen Achtsamkeiten ist hilfreich, um mit den Herausforderungen in unserer von Krisen geprägten Zeit umzugehen." Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten
"Die Freundlichkeitsmeditation ist eine Achtsamkeitsübung, die deutlich werden lässt, wie weit sich die individuelle Praxis in den sozialen und den ökosystemischen Erfahrungsraum hineinbewegen kann." Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten
"Freundlichkeit zu praktizieren bedeutet, mit sich selbst und anderen Lebewesen so umzugehen wie mit einem guten Freund oder einer guten Freundin." Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten
"Achtsam sein bedeutet: kognitiv, emotional und körperlich spüren, was an der Zeit ist - und dazu beitragen, dass es geschehen darf." Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten
"Die Kultivierung des Individuums durch individuelle Achtsamkeitsübungen ist die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung für systemische Transformation. Was noch hinzukommen muss, ist, dass wir die Kraft der Achtsamkeit anwenden auf die Transformation des Gesamtsystems." Otto Scharmer in: Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten
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Zum Buch
Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten. Übungen für mich, für uns und für die Welt. Achtsam leben für sich, die Gesellschaft und die Welt: Werkzeugkasten mit individuellen, sozialen und ökologischen Achtsamkeitsübungen, mit Illustrationen von Julia Vanessa Maier. Arkana Verlag (Originalverlag Fischer & Gann), München 2024, 160 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-442-34602-8
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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