Auf dem Weg zum Netzwerk
Ein Business-Kurzroman. | Folge 1 |
Beim Telekommunikationsunternehmen AirNew AG ist angeblich alles in Ordnung - aber hinter den Kulissen rumort es. Wandel ist dringend nötig. Als AirNew auf die Berater von atunis und ihre Ideen aufmerksam wird, beginnt ein spannender Beratungsprozess. Mit dieser ersten Folge beginnt unsere neue Serie - die fiktive Fallgeschichte über die Arbeit der sehr realen Unternehmensberatung atunis vermittelt handfestes Wissen über neue Impulse im Change-Management und über die Gesetze der Netze.
Wieviele Power Point-Folien habe
ich heute schon über mich ergehen lassen? 200? 400? Jedenfalls
eindeutig zu viele. Meine Aufmerksamkeitsspanne hat sich schon
drastisch verkürzt. Auch die anderen Teilnehmer des Kongresses
sehen nicht mehr allzu frisch aus, aber sie hören höflich zu,
während sich der Mann am Redepult wortreich über die Segnungen
des CRM verbreitet. Ein Thema, das wir bei AirNew längst abgehakt
haben. Außerdem ist es eine Unverschämtheit, dass der Kerl von
einem Manuskript abliest.
Ich schaue auf die Uhr und ins Programm, um festzustellen,
wann es Abendessen gibt und ich endlich eine rauchen kann. Noch
zwei Vorträge, o je. Bahnbrechende neue Erkenntnisse waren bisher
nicht in Sicht, ich hätte mir von diesem Managementkongress mehr
erwartet - aber das Networking war schon recht ergiebig und wird
auch heute Abend sicher interessant. Schade, dass ich die
Absatzprobleme, die uns zur Zeit so viel Kopfzerbrechen machen,
nicht erwähnen soll. Es hätte mich interessiert, wie andere
Unternehmen dieses Problem angehen.
Der beleibte Leiter des Kongresses greift zum Mikrofon, ein
kurzes Rückkopplungspfeifen schneidet durch den Saal. "Ich freue
mich, Ihnen jetzt Alfred Doll ankündigen zu können - er hat
gemeinsam mit Albert Weber das atunis Institut mit Sitz in
Rosenheim gegründet, das den Ansatz der Netzlogik vertritt. Herr
Doll hat über 15 Jahre Vertriebs- und Managementerfahrung und ist
seit vier Jahren selbstständiger Unternehmer."
Mit einem letzten Funken von Interesse beobachte ich, wie
ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann von etwa Mitte 40 die
Bühne betritt. Höflicher, aber etwas müder Applaus begrüßt ihn.
Netzlogik? Ich forsche in meinem Gedächtnis, ob ich den Begriff
schon mal gehört habe. Fehlanzeige.
"Netzlogik - Sie werden sich vermutlich fragen, was das
denn sein soll", beginnt Doll, als hätte er meine Gedanken
gelesen. Er spricht frei, steigt nicht gleich in seine Folien
ein. "Seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit der Thematik,
Unternehmen als soziale Systeme zu betrachten. Unter diesem
Gesichtspunkt findet unternehmerische Wertschöpfung nur dann
statt, wenn Menschen miteinander in Interaktionen treten. Diese
Interaktionen wiederum finden immer in Form von netzwerkartigen
Beziehungen statt. Anfang 2002 bin ich auf den Autor Michael
Gleich gestoßen, der in seinem Buch
Web of Life sehr spannende und für mich sehr eingängige
Beispiele gebracht hat, wie Netze funktionieren. Er war auch
derjenige, der den Begriff Netzlogik geprägt hat. Er hat mich
darin bestärkt, ein neues Denken in Unternehmen hineinzubringen -
eben besagte Netzlogik. Daraufhin begann ich in Projekten, die
ich im letzten Jahr realisiert habe, bestimmte Thesen auf diesen
Ansatz hin zu überprüfen und anzuwenden. Es hat funktioniert!"
Hm, das klingt interessant, geht es mir durch den Kopf. Der
Manager neben mir hört auf, in seinem Filofax herumzukritzeln und
beginnt zuzuhören.
"Besonders der Fokus auf Beziehungen und weiche Faktoren in
Unternehmen stellte sich als gute Ergänzung zu traditionellen
Managementkonzepten heraus", berichtet Doll. "Vor allem, wenn es
darum geht, höhere Wertschöpfung zu erzielen. Leider sind
klassische Führungsgrundsätze, die sich über Jahrzehnte etabliert
haben, nur bedingt mit den Netzregeln vereinbar. Im Grunde
verstoßen viele Unternehmen damit gegen diese
Interaktionsgesetze. Da die Interaktion der eigentliche
Wertschöpfungsfaktor im Unternehmen ist, reduzieren sie leider
auch die Wertschöpfung für das Unternehmen an sich."
Beim Begriff "Wertschöpfung" merke ich auf - und dem Rest
des Publikums geht es ebenso. Alfred Doll scheint es zu spüren.
Er lässt den Blick über mich und die Teilnehmer gleiten und lässt
uns eine Sekunde lang schmoren, bevor er fortfahrt: "Sie werden
beeinflusst von den Beziehungsnetzwerken zwischen den einzelnen
Menschen - seien es Mitarbeiter, Management, Kunden, Zulieferer,
Shareholder oder das globale Umfeld. Somit ist die Wirtschaft nur
ein Spiegelbild einer gesellschaftlichen Situation." Er blendet
seine nächste Folie ein. "Menschen sind vom Grundsatz her
beziehungsorientierte Wesen. Wir brauchen Familie, wir brauchen
ein soziales Umfeld. Über private Beziehungen glauben wir relativ
viel zu wissen, weil wir sie leben, mehr oder weniger
erfolgreich. Sie sind meistens Eins-zu-eins-Beziehungen. Unsere
geschäftlichen Beziehungen sind noch komplexer - auch innerhalb
von Unternehmen existieren überwiegend Eins-zu-eins-Beziehungen,
die man idealerweise in Form von netzwerkartigen
Beziehungsgeflechten abbildet ..."
In meiner Tasche beginnt das Handy lautlos zu vibrieren.
Ausgerechnet jetzt! Ich nehme es heraus und schaue aufs Display.
Strehlaus Nummer wird angezeigt. Wenn es Rondorfer gewesen wäre,
hätte ich den Anruf auf die Mailbox laufen lassen. Aber wenn mein
Chef mich anklingelt, dann gehe ich besser dran. "Hallo, Frank",
melde ich mich leise.
"Lisbeth? Wir haben gerade die neuen Umsatzzahlen aus den
südlichen Bundesländern bekommen. Sie sind nicht gerade
erfreulich. Ich habe für morgen um zehn Uhr ein ad-hoc-Meeting
angesetzt. Rondorfer habe ich schon Bescheid gesagt."
Ohne in meinen Kalender zu schauen, weiß ich, dass das
nicht in Frage kommt. "Eigentlich hätte ich morgen früh einen
Kundentermin. Mit einem Key Account. Ginge es um Zwölf auch?" Ich
merke, wie mich der Referent irritiert anblickt, weil ich seinen
Vortrag störe. Auch mein Nachbar wirft mir einen ungnädigen
Seitenblick zu. Einen Moment lang bin ich das schwarze Schaf des
Kongresses.
"Ja, in Ordnung - bis morgen dann", sagt Strehlau zum
Glück. Ich verabschiede mich und lege auf. Etwas niedergeschlagen
hänge ich einen Moment meinen Gedanken nach und lasse dabei das
glatte, polierte Holz meiner afrikanischen Halskette durch die
Finger gleiten. Nachher muss ich meinen Assistenten Maik bitten,
mir die Zahlen telefonisch durchzugeben, dann kann ich mir auf
der Rückfahrt nach München schon mal Gedanken über mögliche
Strategien machen.
Meine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf den Vortrag.
Gerade erklärt Doll, dass Manager sich nach der Logik von Netzen
richten und tunlichst vermeiden sollten, ihre Regeln zu
verletzen. Denn ein Unternehmen definiert sich, wie er betont,
aus Interaktionen zwischen den beteiligten Menschen, deren
Grundlage die Beziehungsfähigkeit der beteiligten Menschen ist.
Deshalb gilt es, die Beziehungskompetenz des Unternehmens zu
analysieren und weiterzuentwickeln.
Beziehungskompetenz? Ich merke, wie ich neugierig werde. Es
stört mich schon seit langem, dass die meisten meiner Kollegen in
einer Welt der Zahlen, Rendite und des Shareholder Value leben.
Weiche Faktoren lassen sich nur schwer messen und werden daher
auch nicht ernst genommen. Ich bin schon lange der Meinung, dass
das falsch ist, dass diese Faktoren einiges zum Ergebnis
beitragen - schließlich bestehen Unternehmen vor allem aus
Menschen. Aber bisher habe ich keine Ansätze zur Umsetzung dieser
Erkenntnis gefunden.
Alfred Doll erklärt noch einige "Gesetze der Netze", dann
bedankt er sich für die Aufmerksamkeit und beantwortet einige
Fragen. Ich stehe auf, um noch ein paar Worte mit ihm zu reden.
Einige andere Leute haben die gleiche Idee, und es dauert eine
Weile, bis ich es schaffe, zu ihm vorzudringen.
"Klingt interessant, was Sie erzählt haben", lächle ich und
krame in meiner Handtasche herum, bis ich endlich eine
Visitenkarte mit
Lisbeth Karger, Vertriebs- und Marketingleiterin Deutschland,
AirNew AG finde. Allein gestern habe ich schon mehr als
zwanzig Stück verteilt, gut, dass noch eine übrig ist.
"Danke." Höflich lächelt Doll zurück, anscheinend hat er
mir die Störung von vorhin schon verziehen. Als er sich meine
Karte anschaut, zieht er beeindruckt die Augenbrauen hoch. Das
wundert mich nicht - die AirNew AG ist einer der wichtigsten
Telekommunikationsanbieter in Deutschland und hat allein in der
Münchner Zentrale mehr als 2.500 Mitarbeiter. Außerdem verfügt
sie über Niederlassungen in mehreren Ländern.
"Das mit den Netzen - das ist eine faszinierende Sache",
sage ich und zünde mir eine Zigarette an. Endlich! Da vorne ist
zwar ein
Rauchen-verboten-Schild - aber who cares? "Sie sagten,
dass Netze sich selbst organisieren. Aber wie soll das in einem
Unternehmen funktionieren?"
"Das ist ja das Problem", erklärt er trocken. "Oft wird es
durch rigide Hierarchien verhindert, dass so etwas funktioniert.
Viele Unternehmen schreiben nach wie vor Organigramme - obwohl
wir bisher kein Unternehmen gefunden haben, dessen Wertschöpfung
nach dem Organigramm funktioniert! Bei ihnen gibt
�s bestimmt auch
Organigramme, oder?"
"Ähm, ja. Aber ich muss zugeben, dass ich nur selten
draufschaue."
"Vermutlich darum, weil sie zwar aussagen, wer den
Urlaubsantrag von wem unterschreibt, aber nicht, wie das
Unternehmen tatsächlich funktioniert. Man sollte sich bewusst
machen, wer mit wem interagiert - dann werden die Funktionsweise
des Unternehmens und die Aufgaben der Mitarbeiter wesentlich
klarer und transparenter. Aber das bedingt einen höheren Anspruch
an die Führungskräfte."
Nachdenklich blicke ich ihn an und stoße eine Rauchwolke
aus. Seine Ansätze gefallen mir immer besser. Etwas mehr Klarheit
und Transparenz könnten der AirNew AG nicht schaden. Manchmal
treibt mich das funktionale Kompetenzgerangel zwischen den Teams
und Abteilungen fast in den Wahnsinn. "Soso. Sie gehen also gegen
die traditionelle hierarchische Denke an. Ist sowieso ziemlich
out, finde ich."
"Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Es geht nicht um
eine neue Modewelle im Management, die in oder out ist. Es geht
darum, Abläufe und Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen,
innerhalb einer Organisation nicht nur am gleichen Strang zu
ziehen, sondern auch in die gleiche Richtung", erwidert er und
hakt neugierig nach: "Wie läuft es denn bei AirNew zur Zeit?
Ziehen Sie alle in die gleiche Richtung, sprich arbeiten Sie an
Ihren Wachstumsstrategien oder reagieren Sie nur auf die
Konjunkturflaute."
Das ist eine ausgesprochen treffende Vermutung. Aber das
brauche ich ihm ja nicht auf die Nase zu binden. "Ach, wissen
Sie, eigentlich habe ich keine Lust, in die Klagegesänge
einzustimmen", sage ich und ziehe an meiner Zigarette. "Nein,
eigentlich läuft es bei uns nicht schlecht. Alles in Ordnung."
Ich spüre, dass er mir das nicht abnimmt. Wahrscheinlich
merkt man mir den Schock über Strehlaus Anruf vorhin noch an.
"Schön", sagt er. "Dann sind sie ja wohl die einzige Firma in der
Telekom-Branche, der es so richtig gut geht ... die Konkurrenz
hat jedenfalls zu kämpfen."
"Na ja, ein paar Absatzprobleme haben wir schon", gebe ich
zu. Es hat vermutlich keinen Sinn, etwas so Offensichtliches
abzuleugnen, das wirkt höchstens albern. "Aber das bessert sich
ja vielleicht bald. Die Wirtschaftsweisen sind sich ausnahmsweise
einig, dass der Aufschwung vor der Tür steht."
Er weiß natürlich genauso gut wie ich, dass sie das schon
seit mehreren Jahren behaupten. "Damit steht die Konjunktur
genauso vor der Tür wie die nächsten Reformen und wer weiß, was
sonst noch", entgegnet Doll ironisch. "Entschuldigen Sie meinen
Sarkasmus, aber darauf zu warten, wer oder was als nächstes durch
die Tür kommt, ob eine Steuerreform oder doch die Konjunktur, ist
wohl keine unternehmerische Einstellung. Was haben Sie denn
konkret unternommen? Gegen die Absatzprobleme?", erkundigt er
sich.
"Zur Zeit liegt bei uns der Fokus auf Kostenoptimierung",
erkläre ich. "Einer meiner Kollegen, unser Finanzchef Herr
Rondorfer, ist ein großer Fan von Costcutting. Ich muss gestehen,
dass ich nicht komplett mit ihm d
�accord bin."
"Meiner Meinung nach ist Costcutting ein guter Weg zur
Wertsteigerung, aber die Wertschöpfung wird damit nur weiter in
den Keller getrieben", gibt er zu bedenken. "Wer sich jetzt nicht
richtig ausrichtet und das Unternehmen stattdessen kaputt spart,
der verbessert seine Chancen im Markt nicht gerade. Man sollte
lieber seine Prioritäten auf Ziel und Zweck des Unternehmens
richten und sich fragen, wo die Potenziale für Wertschöpfung und
Wachstum liegen. Denn die Unternehmen sind als Bestandteil des
Marktes auch Bestandteil des Marktproblems. Das vergessen viele.
Aber die Unternehmensleitung kann die Entscheidung treffen, ob
sie weiterhin ein Bestandteil des Problems oder der Lösung ist."
"Klingt vernünftig." Ich mustere ihn nachdenklich und denke
darüber nach, was er gesagt hat. Was ist, wenn hinter unseren
Problemen vielleicht nicht der abstrakte Markt steckt, sondern
interne Schwierigkeiten oder eine ungenügende Ausrichtung auf den
Kunden? Kurz, die Unternehmenskultur? "Ich muss sagen, Sie haben
mich neugierig gemacht auf diesen Ansatz, den Sie mit Ihrem
Institut vertreten. Diese, wie hieß er noch mal?"
"Netzlogik."
"Danke." Ich hole den winzigen, onyxverzierten Aschenbecher
aus der Handtasche, den ich mir in Kenia gekauft habe, klappe ihn
auf und drücke die Zigarette darin aus. Ronny sollte sich diese
Ideen anhören. Mal sehen, ob ich ihn morgen dafür erwärmen kann.
Ob Strehlau dafür aufgeschlossen sein wird? Schwer zu sagen. Er
ist ein Manager der alten Schule. Ein knallharter Machtmensch,
der am liebsten alles selbst macht. Aber es ist einen Versuch
wert. "Mir gefällt, dass Sie sich in Vertrieb und Marketing
auskennen", sage ich zu Doll. "Ich könnte mir gut vorstellen,
dass Ihre Ideen auch für meine Kollegen in der Geschäftsleitung
sehr interessant wären. Wieso stellen Sie Ihren Ansatz nicht mal
bei uns vor, Herr Doll? Fände ich gut."
"Das würde ich sehr gerne tun", sagt er - offensichtlich
angenehm überrascht darüber, was sich aus der Begegnung ergeben
hat. Wahrscheinlich ist er neugierig, was er in der AirNew AG für
eine Situation vorfinden wird. Ich stecke seine Visitenkarte ein
und schenke ihm ein letztes Lächeln. "Mein Assistent wird sich
bei Ihnen melden wegen der Terminabsprache."
Es wird Zeit, sich noch mal in der Firma zu melden, um
nähere Informationen zur Problemstellung in der Region Süd zu
bekommen. Aber meine Gedanken kreisen noch lange über die
Denkanstöße der letzten Stunde. Wie sieht es mit mir selbst aus -
bin ich ein Teil des Problems oder der Lösung? Jedenfalls bin ich
gespannt, was sich aus der ganzen Sache entwickeln wird.
Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.
Zum changeX-Partnerportrait: atunis Institut.
© changeX Partnerforum [13.09.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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