Kapitalismus des Verbrechens
Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben - das neue Buch von Sudhir Venkatesh.
Von Florian Michl
Beinahe zehn Jahre lang lebt und recherchiert ein Soziologe in Chicagos berüchtigtstem Getto. Doch er interessiert sich nicht für Arbeitslosenzahlen, Verbrechensraten und Scheidungsquoten. Sondern beschreibt die führende Gang des Viertels als florierendes Unternehmen: als Underground Economy. / 14.10.08
Venkatesh CoverWas sie machen, machen sie, um zu überleben: Sie reparieren Autos, Haushaltsgeräte, fahren illegal Taxi, kochen und verkaufen Essen. Dealen mit Crack. Frauen verkaufen ihren Körper. Dabei werden sie gedemütigt, geschlagen und nicht selten erschossen. Das ist die Underground Economy: ein Porträt eines berüchtigten Armenviertels in Chicago und seiner größtenteils schwarzen Bewohner - Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Kriminelle. Hier beginnt der Doktorand Sudhir Venkatesh seine ethnografische Feldforschung. Er will die wirtschaftlichen Strukturen dieses Viertels sichtbar machen. Nicht anhand von "trockenen Statistiken über Arbeitslosenzahlen, Verbrechensraten und dysfunktionalen Familien", Venkatesh will näher ran an die Realität des Lebens, wie er schreibt. Er interessiert sich für die Frage, wer hier womit Geld verdient - und wie eine Gang von Drogendealern arbeitet. Antworten darauf gibt er in Form eines Erlebnisberichts zwischen Bandenkrieg und Familienfeier. Heute ist Venkatesh Professor für Soziologie an der Columbia University in New York und gilt als anerkannter Sozialwissenschaftler. Gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Autor des Buches Freakonomics, Steven Levitt, arbeitet er zudem an einer Langzeitforschung zum Thema Sexarbeit in Chicago und New York.

Schwarz und arm.


Es beginnt im Jahr 1989: Mit einem Klemmbrett unter dem Arm wagt sich Venkatesh in eines der größten Housing-Projekte Chicagos, den Lake Park Projects, einer innerstädtischen Sozialbausiedlung in Form von Hochhaus-Gettos. Mit der Frage "Was ist es für ein Gefühl, schwarz und arm zu sein?", kommt er nicht weit, dann wird er von den Black Kings festgehalten und mit einer ordentlichen Tracht Prügel bedroht. Dabei lernt er deren Anführer J. T. kennen und dessen Gang-Mitglieder. In den folgenden acht Jahren entsteht eine Freundschaft, die es Venkatesh ermöglicht, sich nahezu ungehindert in den Lake Park Projects zu bewegen. Schnell lernt er, dass hier andere Regeln gelten, wenn die Polizei die Augen vor der Gewalt verschließt und der Rettungswagen nicht die Fahrt in das Getto wagt: "Das Wichtigste hier in den Projects ist, zuerst einmal das Problem zu lösen. Erst danach macht man sich Gedanken darüber, wie man das Problem gelöst hat." Sagt Miss Bailey. Sie ist House President in einem der Hochhäuser und damit erste Ansprechperson für die Mieter, wenn es ein Problem gibt. Um kaputte Fenster und angeschmierte Wände geht es dabei nicht. "Wenn keiner stirbt und keiner verletzt wird, dann mache ich meinen Job richtig", sagt sie.
Wie man in einem solchen mit Gewalt aufgeladenen Umfeld überlebt, ist Thema des Buches. Im Mittelpunkt steht die Organisation der Black Kings, die ihre Einnahmen vor allem mit dem Drogenhandel erzielt, aber auch mit Glücksspiel, Prostitution, Erpressung und Hehlerei. "Dieser Kapitalismus des Verbrechens lief wie geschmiert, und die Chefs der verschiedenen Gangs wurden reich", berichtet Venkatesh, der am Ende seiner Recherchen sogar Einblick in den Geldtransfer der Gang bekommt. Er erfährt nicht nur, dass die "Laufburschen" auf unterster Ebene am wenigsten Geld bekommen, obwohl sie den gefährlichsten Job machen, sondern auch, dass sich das Einkommen eines örtlichen Gangleaders wie J. T. auf bis zu 100.000 Dollar im Jahr beläuft. Das sei eine Frage des Managements, sagt J. T.: "Nigger, sie müssen Angst haben vor dir!" So löst er im Groben die Probleme. Gewalt ist sein Führungsstil - ein Stil, der mit der Führung heutiger Unternehmen nichts gemein hat.

Geld über alles.


Venkatesh sieht aber andere Gemeinsamkeiten zwischen der Underground Economy und legalen Unternehmen: von einer ausgeprägten Hierarchie bis zu den Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage, von Mitarbeiterführung bis zu Karriereplanung, von Investitionen bis zu gerechten Löhnen, von Leistung bis zu Kundennähe. Nicht zuletzt weiß auch J. T. um die Wirksamkeit von Corporate Social Responsibility: Seine Gang verteilt Essen, organisiert Basketballspiele und vermittelt in Streitfällen. Daher glauben die Bewohner, dass die Gang der Community hilft. Auch wenn sie Vergewaltigungen toleriert.
Diese Parallelen flicht Venkatesh geschickt und in subjektiver Perspektive in seine Sozialreportage aus einem Getto in den USA ein. Ihre Stärke liegt darin, dass Venkatesh in zahlreichen Gesprächen mit den Bewohnern deren Vertrauen gewinnen konnte und damit Perspektiven eröffnet, wie man sie bisher nicht kennengelernt hat. So entsteht ein erschütterndes Bild der Verwahrlosung, das vor Augen führt, wie man unter extremen Umständen zu Geld kommt. Es streift aber auch die Politik der 90er-Jahre unter Reagan und Clinton und thematisiert die Rassenfrage. So lernt der Soziologe auch den schwarzen Leonard Combs kennen, auch Old Time genannt. Der hält nicht viel vom Schwarz-Weiß-Denken: "Vertraue niemals einem Weißen", sagt er. "Und glaub' bloß nicht, dass die Schwarzen einen Deut besser sind."

Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Sudhir Venkatesh:
Underground Economy.
Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben.

Econ Verlag, Berlin 2008,
336 Seiten, 18 Euro.
ISBN 978-3-430-20019-6
www.ullsteinbuchverlage.de/econ

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: Underground Economy. . Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben. . Econ Verlag, Berlin 1900, 336 Seiten, ISBN 978-3-430-20019-6

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Florian Michl schreibt als freier Autor für changeX.

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