Dabei gerät allerdings ein anderes Kennzeichen von Fords Produktionsmodell ein wenig aus dem Blick, das aber den Idealtypus erst richtig "rund" macht: Ford war nicht nur der Begründer der industriellen Massenproduktion, sondern auch der Visionär der totalen Fabrik. Sein Ziel war die größtmögliche Fertigungstiefe. Weitgehend alle zur Produktion benötigten Rohstoffe sollten vom Unternehmen selbst hergestellt werden: vom Stahl für die Achsen bis hin zum Kautschuk für die Reifen. Dieser Idee war freilich nicht derselbe Erfolg beschieden wie der der Fließbandproduktion. Fords Plan einer riesigen Kautschukplantage in Brasilien scheiterte, und die integrierte Fabrik setzte sich nicht durch. Ebenso wie es Autos bald in verschiedenen Farben gab. Der Idealtypus industrieller Produktion beinhaltet aber beide Elemente: standardisierte Massenproduktion und eine weitgehende Kontrolle über die Ressourcen in Form gewaltiger Produktionsstätten. Es macht Sinn, sich das vor Augen zu halten, wenn man verstehen will, wohin heute die Entwicklung der globalisierten Ökonomie treibt.
Ein neues Wertschöpfungsmodell.
Diesem Thema widmen sich die beiden
Ökonomen C. K. Prahalad und M. S. Krishnan in ihrem neuen Buch
Die Revolution der Innovation. Ein Buch, das man kaum
genug loben kann. Denn es arbeitet die zugrunde liegenden
Entwicklungen mit bemerkenswerter Klarheit heraus. So entsteht
ein Idealtypus eines neuen Wertschöpfungsmodells, das sich
zunehmend klar herauskristallisiert. Das ist die These: Wir
erleben nicht ein bisschen Globalisierung plus ein wenig Mass
Customization und eine partielle Segmentierung von Märkten,
sondern einen grundlegenden Wandel des Prinzips, nach dem
Unternehmen Wertschöpfung erzielen. Zwei fundamentale
Entwicklungen sind es, die dieses neue Modell der Wertgenerierung
kennzeichnen. Genauer zwei Gleichungen: N = 1 und R = G. Kurz
gesagt: Die Kundenerfahrung wird individuell, die Ressourcen aber
gehen gegen global. Das aber ist exakt das Gegenteil von dem, was
Henry Ford vorschwebte.
Holen wir ein wenig aus, um den Gedanken zu verstehen:
Prahalad und Krishnan gehen davon aus, "dass sich die Natur der
Beziehungen zwischen Unternehmen und Verbrauchern radikal
verändert hat". Die traditionelle Vorstellung besagt, dass
Unternehmen Wert generieren und den Verbrauchern ein Wertangebot
zum Kauf unterbreiten. Heute jedoch verlagert sich der Fokus von
der Unternehmens- und Produktperspektive hin zu den Verbrauchern.
Ihre Erfahrung rückt ins Zentrum, und zugleich hört die Beziehung
auf, einseitig zu sein. Denn zunehmend wirken Kunden an der
Erzeugung dieser Erfahrung mit - Co-Kreation oder gemeinsame
Wertgenerierung ist das Stichwort. Damit dreht sich die
Wertschöpfung. "Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der der Wert
von jeweils einer gemeinsam erzeugten personalisierten
Kundenerfahrung bestimmt wird." N = 1 ist die erste Säule der
Innovation in allen Geschäftsfeldern. One size fits all zieht
nicht mehr. Die individuelle Erfahrung macht den Unterschied:
"Unternehmen müssen lernen, sich jeweils auf einen Verbraucher
und seine Erfahrung zu konzentrieren, selbst wenn sie hundert
Millionen Kunden haben."
Einzigartige Kundenerfahrungen.
Kein leichtes Unterfangen - und das
führt zum zweiten Punkt: Kein Unternehmen allein verfügt über
alle Ressourcen, um jedem einzelnen Kunden diese personalisierten
Erfahrungen zu bieten. "Alle Unternehmen müssen daher von den
besten Quellen hoch qualifizierte Mitarbeiter, Komponenten,
Produkte und Serviceleistungen beschaffen." Die Ressourcen sind
global: R = G.
Zusammen genommen bedeutet das: "Unternehmen sollten die
Fähigkeit entwickeln, das globale Ressourcennetz zu nutzen, um
gemeinsam mit ihren Kunden einzigartige Kundenerfahrungen zu
erzeugen." Das bedeutet nicht individualisierte Massenfertigung;
der in x-tausend Modellvarianten erhältliche VW Golf ist damit
nicht gemeint. Sondern zum Beispiel, dass Amazon oder iTunes die
Vorlieben jedes einzelnen ihrer Kunden kennen und in
kundenspezifische Angebote umsetzen. Oder dass UPS und FedEx
ihren Kunden exakt angeben können, wo sich jedes der Millionen
täglich versandter Pakete im jeweiligen Augenblick befindet. Oder
dass die Hersteller von Autoreifen diese mit Sensoren ausstatten,
die individualisierte Serviceangebote möglich machen - und damit
zugleich das Angebot des Unternehmens vom Produkt zur
Dienstleistung hin verschieben. Insgesamt werden die Grenzen
fließend. Was Produkt und was Dienstleistung, was Hard- und was
Software und was Prozess- und was Produktinnovation ist, lässt
sich nicht mehr klar sagen - es sind "Kategorien, die der
Vergangenheit angehören". Hier liegt der Kern der Transformation,
die sich Bahn bricht. Sie ist unausweichlich, und sie verläuft
rapide. In sieben bis zwölf Jahren sei das keine große Neuigkeit
mehr, vermelden Prahalad und Krishnan ein wenig
sibyllinisch.
Die Zukunft erobern.
Entscheidend wird damit die
Fähigkeit des Unternehmens, jeden einzelnen seiner Kunden in den
Blick zu bekommen. Damit erhält die von Nicholas Carr -
rhetorisch - gestellte Frage "Does IT matter?" eine neue Antwort.
Informationstechnologie spielt sehr wohl eine Rolle: Ohne sie
geht gar nichts. Sie ist entscheidend für die Identifizierung des
individuellen Kunden. Doch bei ihr liegt vieles im Argen. Denn
die Systeme sind oftmals inkompatibel; ihre Wartung und
Instandhaltung verschlingt allein 70 Prozent der Budgets, da
bleibt nicht viel für die Innovation der Geschäftsprozesse, auf
die es, so Prahalad und Krishnan, entscheidend ankommt. Hier muss
sich die Revolution der Innovation, die der Buchtitel
proklamiert, abspielen. Es geht darum, die analytischen
Fähigkeiten der Unternehmen zu entwickeln und für hoch effiziente
und zugleich äußerst flexible Geschäftsprozesse zu sorgen. Wie
sich dies in Unternehmen umsetzen lässt, steht im Mittelpunkt des
Buches. Sein überspannendes Thema lautet, "dass Manager für ein
erfolgreiches Innovationsmanagement anders über Innovation
nachdenken und ihre Organisationen anders als bisher mobilisieren
müssen". Das Wissen und die Methoden der Vergangenheit werden in
der Zukunft nicht weiterhelfen, sagen Prahalad und Krishnan klipp
und klar. Ihre Schlüsselbotschaft für Manager lautet: "Erobern
Sie die Zukunft."
Das freilich erfordert mehr als eine nahtlos
ineinandergreifende Informationstechnologie. Denn individuelle
Kundenbedürfnisse lassen sich nicht mit einer fordistischen
Fließbandorganisation abarbeiten. Das verlangt die individuelle
Kompetenz jedes einzelnen Mitarbeiters. Und hier schließt sich
der Kreis: Die Individualisierung aufseiten des Kunden verlangt
die effektive und schnelle Mobilisierung von Talenten auf allen
Ebenen der Organisation. Die aber gelingt nur, wenn das
Unternehmen seine Mitarbeiter und Lieferanten nicht anders als
seine Kunden behandelt: als Individuen: "Die Individualität, die
Einzigartigkeit eines Menschen in all seinen Rollen (Kunde,
Mitarbeiter, Investor, Lieferant und Bürger) anzuerkennen, wird
zu einer Voraussetzung für eine erfolgreiche
Wertgenerierung."
Die Kompetenz zur Zusammenarbeit erhöhen.
Und nicht nur das Menschenbild,
auch die herkömmliche Organisation der Unternehmen steht einer
erfolgreichen Wertschöpfung auf den Märkten der Zukunft im Wege.
Im neuen Wertschöpfungsmodell kommt es entscheidend darauf an,
die globalen Ressourcen schnell und effizient zu konfigurieren.
Dem aber steht das hierarchische Organisationsmodell im Wege,
denn dieses ist ja gerade darauf angelegt, Ressourcen an
Organisationseinheiten zu binden. Künftig aber werden Mitarbeiter
global in vielfältigen Teams zusammenarbeiten. Das Individuum
wird zum grundlegenden Baustein der Organisation. Das aber
bedeutet das Ende der Hierarchien: "Was wir hier sehen, ist der
Zusammenbruch des traditionellen hierarchischen Systems, in dem
Geschäfts-, funktionale und geografische Gruppen Mitarbeiter
'besaßen'."
Fazit: Prahalad macht seinem Ruf, einer der wichtigsten
Managementvordenker unserer Zeit zu sein, abermals alle Ehre.
Wunderbar klar arbeiten er und sein Co-Autor heraus, wohin die
globale Ökonomie treibt: hin zu einer Form der Wertschöpfung, bei
der der Mensch im Mittelpunkt steht. Entscheidend dabei ist eine
Lehre: "Wir müssen die Kompetenz zur Zusammenarbeit
erhöhen."
Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer bei changeX.
C. K. Prahalad / M. S. Krishnan:
Die Revolution der Innovation.
Wertschöpfung durch neue Formen in der globalen
Zusammenarbeit.
Redline Verlag, München 2009,
336 Seiten, 34.90 Euro.
ISBN 978-3-86881-015-8
www.redline-verlag.de
© changeX [30.03.2009] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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C. K. Prahalad / M. S. Krishnan: Die Revolution der Innovation. Wertschöpfung durch neue Formen in der globalen Zusammenarbeit. Redline Verlag, München 2009, 336 Seiten, ISBN 978-3-86881-015-8
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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