Missverständnisse.
So wird in beinahe jeder Rede nach
mehr Innovationen gerufen, aber kaum jemand fragt, woher die
kommen sollen. Offensichtlich denken wir Innovation zu sehr als
Ergebnis - schöne, tolle, neue Produkte und effiziente Verfahren
-, aber zu wenig als Prozess.
Wie wir zu mehr Innovationen kommen, wie wir Wissensarbeit
besser und - wahrscheinlich - anders organisieren müssen, fragt
kaum jemand. Der Output ist es, der zählt. Zweites
Missverständnis: Schaut man sich die Wortwurzel von
Ingenieur an, dann sind es individuelle Eigenschaften, die
das lateinische Wort
ingenium bezeichnet: natürliche Begabung, Scharfsinn,
Erfindungsgeist. Offensichtlich denken wir zu sehr auf das
Individuum bezogen, warten auf die ingeniöse Idee Einzelner,
statt in der Zusammenarbeit möglichst heterogener Teams die
"Weisheit der Vielen" systematisch nutzbar zu machen. Drittes
Missverständnis: Man will mehr Innovation, mehr vom schönen
Neuen, aber sonst soll bitte schön möglichst alles beim Alten
bleiben - keine Veränderung von Strukturen, Prozessen,
Hierarchien, kein Abdanken des Alten. Die Einsicht, dass
Innovation immer Zerstörung des Alten bedeutet, ist längst noch
nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Innovationen sind
Akte "schöpferischer Zerstörung", wie Joseph A. Schumpeter, der
Erfinder des Innovationsbegriffs, definiert. Sie ist ihr
Wesensmerkmal. Innovation definiert das Bestehende neu, schafft
neue Verhältnisse und lässt manch Bewährtes ganz schön alt
aussehen. Dabei ist es keineswegs so, dass Neues einfach nur
Altes ersetzt. Innovation schafft ein Mehr an Möglichkeiten.
Vorne wächst die Vielfalt, während hinten Altes abstirbt.
Innovation gibt es also nicht umsonst. Sie verlangt eine Haltung,
die das Neue begrüßt und es akzeptiert, wenn Altes vergeht.
Das wohl tiefste Missverständnis aber betrifft das Feld,
auf dem sich Innovation abspielt. Wer zum Beispiel die Broschüre
Deutsche Stars. 50 Innovationen, die man kennen sollte zu
Hand nimmt, findet darin eine peppig aufbereitete Zusammenfassung
von Schlüsselinnovationen, die von Deutschland ihren Ausgang
nahmen - von Airbag und Aspirin über Pille und Plattenspieler bis
hin zu Zündkerze und Zahnpasta. Man muss schon genauer
hinschauen, um zwischen den aufgelisteten
wissenschaftlich-technischen Errungenschaften die Begriffe
"Reformation" und "Soziale Gesetzgebung" nicht zu überlesen,
wobei Letzteres die bismarcksche Sozialgesetzgebung meint, die
die Grundlage für den Sozialstaat bildete. Was da unter der
Übermacht an Erfindungen und Produktinnovationen beinahe der
Aufmerksamkeit entgeht, ist gleichwohl eine wichtige Dimension
von Innovation: Offensichtlich gibt es Schlüsselinnovationen auch
im gesellschaftlichen Bereich, nicht nur auf dem Feld
wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Solche
sozialen Innovationen aber kommen kaum vor, wenn es um
Innovation geht. Dort stehen meist Erfindungen und
Produktinnovationen im Vordergrund. An ihnen handelt die
öffentliche Meinung das Thema Fortschritt ab. Soziale
Innovationen - so sie überhaupt in den Fokus der Aufmerksamkeit
rücken - bleiben dagegen seltsam diffus, irgendwie kaum greifbar.
Das bekannte Missverhältnis in der Wertung "harter" und "weicher"
Faktoren spiegelt sich auch in der - insgesamt recht jungen -
Geschichte der Innovation.
Neue Wege.
Innovationsforschung ist ein sehr
junges Feld. Sie begann erst vor etwa 100 Jahren - als
Erforschung von "Inventions", Erfindungen. Der Nationalökonom
Joseph A. Schumpeter führte dann den Begriff der Innovation in
die Wirtschaftswissenschaft ein - die Techniklastigkeit aber
blieb bestehen. "Seither konzentrierte sich das wirtschaftliche
und politische Interesse recht einseitig auf technische
Innovationen", schreibt die Sozialwissenschaftlerin Katrin
Gillwald in ihrer Studie
Konzepte sozialer Innovation. Diese, am
Wissenschaftszentrum Berlin entstandene Arbeit, ist eine der
wenigen Publikationen zum Thema. "Soziale Innovationen aber sind
ein bislang unterbelichtetes Thema", schrieb die
Wissenschaftlerin in ihrer Abhandlung aus dem Jahr 2000, und
daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Zwar gab es eine
längere Serie in
brand eins, die reichlich unsystematisch einzelne
innovative gesellschaftliche Ansätze - vom Grundeinkommen bis zu
Tauschgeschäften - vorstellte, sich aber nicht weiter darum
kümmerte, was unter sozialer Innovation zu verstehen sei.
Das indes hatte der Sozialwissenschaftler Wolfgang Zapf in
einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 zu definieren versucht - nur
blieb sein Ansatz folgenlos, als die sozialwissenschaftliche
Modernisierungstheorie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und
in den Stürmen der Globalisierung an Einfluss verlor. Soziale
Innovationen, so Zapf, "sind neue Wege, Ziele zu erreichen,
insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue
Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern,
Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert
sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden". Er zählt
dazu: betriebliche Maßnahmen, mit denen die Arbeitsbeziehungen
verändert werden, neue Dienstleistungen, staatliche Reformen oder
internationale Verträge, nicht zuletzt auch Änderungen von
Lebensstilen und Formen der Bedürfnisbefriedigung sowie
Änderungen der sozialen und politischen Verhältnisse. Dem
amerikanischen Soziologen William F. Ogburn zufolge sind soziale
Innovationen "die wichtigste allgemeine Ursache" sozialen
Wandels. Man muss es wohl an Beispielen konkret machen: Kinder-
und Schrebergärten, die Fließbandarbeit, Fast-Food-Restaurants,
nicht eheliche Lebensgemeinschaften, die Sozialversicherung,
Bürgerinitiativen wie die Umweltbewegung allgemein,
Wohngemeinschaften und Genossenschaften, Jugendzentren und
Altenheime sind Beispiele für soziale Innovationen. Sie geben dem
sozialen Wandel ein Gesicht und sie treiben ihn voran. Soziale
Innovationen verändern die Art und Weise des Zusammenlebens von
Menschen nicht minder stark wie die Glühbirne und der Kühlschrank
zusammen mit der Einführung einer flächendeckenden
Stromversorgung. Letztlich gehen soziale und technische
Innovationen Hand in Hand, beeinflussen sich gegenseitig und
bestimmen in ihrem Zusammenspiel die Entwicklungsrichtung
gesellschaftlichen Fortschritts - mit offenem Ausgang: So hat der
Bau von Atomkraftwerken die Geschichte der Bundesrepublik
wahrscheinlich weniger stark geprägt wie die Bewegung, die sich
dagegen formierte.
Ähnlich unklar wie das Verhältnis von technischen und
sozialen Innovationen bleibt jenes zwischen sozialen,
gewissermaßen aus der Mitte der Gesellschaft entstehenden
Veränderungen und jenen auf politisch-institutioneller Ebene,
auch Reformen genannt. "Reformen sind eine Teilmenge von sozialen
Innovationen", erklärt Katrin Gillwald, "und diese wiederum eine
Teilmenge von Prozessen sozialen Wandels beziehungsweise
gesellschaftlicher Modernisierung." Ebenso wie meist nicht
eindeutig gesagt werden kann, ob gesellschaftliche Veränderungen
mehr durch soziale oder politische Innovationen angeschoben
wurden, lässt sich häufig auch nicht klar bestimmen, was
(konkrete) soziale Innovation und was (allgemeiner) sozialer
Wandel ist. Beschreibt man die Gleichberechtigung der Frau eher
als Abfolge gesetzlicher Gleichstellungsakte oder als
durchgängige Emanzipationsbewegung?
Was für Reformen gilt, gilt aber gleichermaßen für soziale
Innovationen im gesellschaftlichen Bereich: Beides sind bewusste
Akte der Veränderung. Hinter sozialen Innovationen stehen
Menschen, die etwas verändern wollen. Soziale Innovationen sind
die Hebel, die Einzelne an der - abstrakten - Gesellschaft
ansetzen können. Was sie reichlich getan haben. Eine Vielzahl von
Veränderungen in der Geschichte der Bundesrepublik ist Ergebnis
von Veränderungen in der Mitte der Gesellschaft.
Gleichberechtigung hat viele Gesichter, und dass heute Kinder
nicht mehr geschlagen werden, kann man wahrscheinlich als einen
bedeutenden Schritt hin zu einer gewalt- und repressionsfreien
Gesellschaft werten. Eine bedeutende soziale Innovation eben.
Vielleicht kann man die Tatsache, dass wir heute so viel über
Innovationen reden, selbst als eine soziale Innovation begreifen:
Es ist die Entdeckung des Neuen und seines Werts für die
Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.
60 Jahre Wandel.
Klar wird: 60 Jahre Bundesrepublik sind 60 Jahre Wandel. Die Einführung von Demokratie und Menschenrechten durch die Alliierten und ihre Niederlegung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schufen den Rahmen für eine offene, freie und demokratische Gesellschaft. Alles andere aber musste diese Gesellschaft mit sich selbst ausmachen. Was sie auch tat. Mit Schwierigkeiten, mit Defiziten, mit Unterlassungen ebenso wie mit überschießenden Reaktionen, aber insgesamt in einer souveränen Gelassenheit. Aus dem verkniffenen Nachkriegsdeutschland ist eine weltoffene, demokratische, vielfältige, ja bunte Gesellschaft geworden. Wir fragen: Welche sozialen Innovationen haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen?
Uns interessiert Ihre Meinung.
Nennen Sie uns Ihre Favoriten, beantworten Sie uns per
E-Mail folgende beiden Fragen:
- Welches war Ihrer Meinung nach die wichtigste soziale Innovation in 60 Jahren Bundesrepublik?
- Welches ist die wichtigste soziale Innovation, die wir heute
brauchen, um das Land zukunftsfähig zu halten?
Schreiben Sie uns, was Sie denken,
kurz und knapp oder lang und ausführlich, ganz wie Sie mögen. Die
Ergebnisse werden wir in den folgenden Wochen auf changeX
vorstellen.
Ihre Antworten schicken Sie bitte an
soziale.innovation@changex.de
Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer bei changeX.
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
Katrin Gillwald:
Konzepte sozialer Innovation,
papers der Querschnittsgruppe Arbeit und Ökologie
am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung,
http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2000/p00-519.pdf
© changeX [27.05.2009] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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