Raus aus dem Teufelskreis

Ein Gespräch mit dem Psychologen Hans-Werner Rückert.

Von Nina Hesse

Wer vergeblich mit "Aufschieberitis" kämpft, verliert Stück für Stück sein Selbstwertgefühl. Doch es gibt Wege aus der Misere. Wer aufhört, die eigenen Ausreden zu glauben und sich von unerreichbaren Idealen löst, hat schon zwei wichtige Schritte geschafft. Und kann beginnen, das "Glück des Handelns" zu entdecken.

Hans-Werner Rückert ist Diplompsychologe und Psychoanalytiker. Er leitet die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin. Gerade ist sein neues Buch Entdecke das Glück des Handelns. Überwinden, was das Leben blockiert im Campus Verlag erschienen.

In unserer Gesellschaft ist immer stärker Eigeninitiative gefragt. Man soll unternehmerisch agieren, sich selbst motivieren und Ergebnisse liefern. Ob man nun Student, Freiberufler oder Angestellter ist. Sind viele davon überfordert?
Vor allem junge, gut ausgebildete Menschen sehen darin eher Anreize und Herausforderungen. Je älter, je schlechter qualifiziert und je sicherheitsorientierter jemand ist, desto mehr überwiegt das Gefühl einer Bedrohung.

Besonders schwer haben es in einer so leistungsorientierten Welt aber auch diejenigen, die mit "Aufschieberitis" oder Entscheidungsschwächen kämpfen. Sie bekommen früher oder später Ärger im Job oder Privatleben.
Nicht nur das. Ein Problem ist auch, dass bei "Aufschieberitis" das Selbstwertgefühl leidet. Viele Menschen fürchten die Erkenntnis, dass sie ihren eigenen, oft überhöhten Idealen an Leistungsfähigkeit und Qualität nicht entsprechen. Diskrepanzen zwischen Soll und Ist werden mit Beschämung und Selbstabwertung erlebt. Je stärker Leistungen, Erfolge und äußere Anerkennung mit dem Selbstwertgefühl gleichgesetzt werden, desto größer erscheinen die Risiken von Pleiten, Pech und Pannen. Sie lassen sich durch das Aufschieben kurzfristig vermeiden. Ironischerweise zerstört diese Art des Selbstschutzes mittelfristig jedoch das, was bewahrt werden sollte: Wenn Sie das, was Sie sich stets aufs Neue vornehmen, nie durchziehen und keine Erfolge haben, untergraben Sie Ihre Glaubwürdigkeit und ruinieren so auf Dauer Ihr Selbstwertgefühl.

Wer seine Projekte durchzieht, wird dafür, wie Ihr Buchtitel verspricht, mit dem "Glück des Handelns" belohnt. Woher kommt dieses Gefühl, wie kann man es nutzen lernen?
Es gibt zwei Arten von Glücksgefühlen. Das eine kann sich dann einstellen, wenn man in Handlungen, egal ob bei einer Arbeit, beim Sport oder beim Kochen, ganz aufgeht und die üblichen begleitenden Gedanken in den Hintergrund treten. Das ist dann so etwas wie ein meditativer Zustand, in dem die Dinge wie von allein laufen. Das zweite ist weniger spektakulär. Es ist das Gefühl, seine eigenen Angelegenheiten unter Kontrolle zu haben, seine Handlungsmöglichkeiten zu nutzen und sich eher neue Optionen zu eröffnen, als Spielräume zu verlieren. Beides sollte man genießen. Nützlich sind diese Gefühle, indem sie wie Belohnungen wirken und uns signalisieren, welches die richtigen Handlungen sind, die uns gut tun.

Die meisten Ihrer Leser sind davon allerdings noch weit entfernt. Wie findet man heraus aus diesem Teufelskreis, den sie vorhin geschildert haben? Wann ist es Zeit, sich Unterstützung von außen zu holen?
Solange man sich seine Ausreden noch glaubt, hat man keine Chance. Also die üblichen Sprüche wie: "Ich warte, bis ich in der richtigen Stimmung bin, ich arbeite sowieso unter Druck besser, es ist einfach zu anstrengend." Wenn man aber immer neue Anläufe gestartet hat, die alle nichts gebracht haben, ist es Zeit, sich einzugestehen, dass man "am Ende" ist und allein nicht weiterkommt. Das ist ein guter Zeitpunkt, sich Hilfe zu holen.

Wohlmeinende Freunde und Verwandte raten in solchen Fällen dazu, sich jetzt halt richtig reinzuhängen, dann wird's schon klappen. Ihre überraschende Feststellung: Nicht immer lassen sich die Probleme mit noch mehr Anstrengung und Selbstdisziplin aus der Welt schaffen. Wieso nicht - was steckt dahinter?
Es gibt viele Probleme, die durch "mehr desselben" eskalieren und unlösbar werden, vor allem im sozialen und kommunikativen Bereich. Denken Sie an Rüstungswettläufe oder sexuelle Funktionsstörungen. Misstrauen setzt ein, man beobachtet den Feind oder sich selbst immer schärfer, rüstet auf, setzt sich selbst unter Druck, bis gar nichts mehr geht. Aber man kennt das Phänomen auch aus dem Alltag. Wer jemals ein Computernetzwerk installiert hat, kennt die Panik, wenn immer wieder Fehlermeldungen kommen, man alle Treiber schon dreimal installiert hat, nach Benutzung der Hilfe erst recht nicht mehr weiter weiß, schließlich einfach herumprobiert und immer nervöser wird. Und am nächsten Tag, wenn man einmal akzeptiert hat, dass es nicht klappt, geht es wie von selbst.

Man muss die Dinge also anders anpacken. Über sich selbst nachdenken. Sich ändern. Aber das ist schwer.
Wieso soll es schwer sein, sich zu ändern? Wenn Sie denken, dass es schwer sei, dann wird es das für Sie auch sein. Wenn Sie denken, dass Sie sich mit Leichtigkeit jeden Tag ein wenig ändern können, dann wird es einfacher. Sie können anfangen, es sich zu beweisen, indem Sie jeden Tag ein paar Dinge anders machen: sich die Zähne in einer anderen Reihenfolge putzen, einen anderen Weg zu Ihrer Arbeitsstätte nehmen, einmal nicht als Erstes die E-Mails checken. Dann wird der Gedanke auch glaubwürdiger, dass es gar nicht so schwer ist, sich zu ändern. Gewohnheiten knackt man am besten auf, indem man analysiert - am besten schriftlich - aus welchen Gedanken, Gefühlen und Handlungen sich eine Gewohnheit zusammensetzt und dann irgendetwas anders macht, hinzufügt oder weglässt.
Allerdings ist es schwierig, ein anderer, womöglich besserer Mensch zu werden, zumal dann, wenn man sich nicht akzeptieren will, so wie man ist, sondern auf der Flucht vor sich selbst davon träumt, ganz anders zu sein.

Das geht, fürchte ich, einigen so. Oder zumindest träumen sie von einem idealen Ich. Eine Studie besagt, dass 70 Prozent der 20- bis 29-Jährigen ihr Leben für völlig gestaltbar halten. Ist das oft eine Illusion oder eine tatsächliche Freiheit?
Es wäre wichtig zu erfahren, was diese Personen unter "ihrem Leben" und "völlig gestaltbar" verstehen. So global wie die Aussage jetzt ist, erscheint diese Idee natürlich als eine Illusion. Vieles im Leben ist determiniert, nicht nur genetisch, sondern auch durch unsere frühe Programmierung in der Kindheit. Der freie Wille, bestimmte Dinge anzustreben, spielt natürlich eine wichtige Rolle. Besser eine solche Illusion zu hegen, als die Überzeugung, man könne ohnehin nichts machen.

Manche feilen mit Begeisterung am Gesamtkunstwerk Ich, andere leiden unter dem Zwang zur ständigen Selbstoptimierung. Ihre Botschaft ist: Du brauchst dich nicht zu ändern. Ungewohnte Töne für einen Ratgeber. Haben Sie nicht die Befürchtung, dass das als Freibrief verstanden wird?
Meine Botschaft ist: Es lohnt sich, sich zu ändern. Es zahlt sich aus, sei es durch Erfolg, sei es durch ein besseres Selbstwertgefühl. Ich empfehle sehr, sich mehr Mühe zu geben und daran zu arbeiten, sich so zu nehmen, wie man ist. Mir geht es darum, die Selbstablehnung aus dem System zu entfernen. Letzteres mag jemand, der als "Couch Potatoe" unglücklich ist, als Erlaubnis auffassen, ohne Anstrengung, aber auch ohne Reue so zu bleiben, wie sie oder er ist. Was spricht dagegen, wenn die Person dadurch weniger unglücklich wird?

Nur: Ideale und Vorbilder wieder aus dem Kopf zu bekommen ist schwer. Speziell, wenn die Gesellschaft diese Ideale teilt. Als Couch Potatoe wird man nicht gerade bewundert.
Kritische Reflexion hat noch niemandem geschadet. Wer sich den Zustand der Gesellschaft betrachtet und sich die Ideale anschaut, die beteiligt sind, wird schnell merken, dass vieles nicht stimmt. Peter Hoeg, der dänische Autor, hat von der einzigartigen Mischung von Bewusstlosigkeit und Raffgier gesprochen, die hinter den offiziellen Idealen unserer westlichen technologischen Kultur steckt. Wenn ich nicht an die Möglichkeit der Aufklärung, vor allem der Selbstaufklärung glaubte, würde ich keine Bücher schreiben. Wer liest, kommt ins Denken, und Denken hilft, falsche Überzeugungen zu erkennen und loszuwerden.

Lesen Sie dazu Tu was! - die Besprechung zum neuen Buch von Hans-Werner Rückert: Entdecke das Glück des Handelns.

Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.

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