Raum, sich zu finden
Patchwork-Karrieren - wie changeX-Leser leben und arbeiten.
Von Sascha Hellmann
Geradlinige Lebensläufe, das war einmal. In der individualisierten Gesellschaft von heute kann sich jeder den passenden Lebensentwurf selbst aussuchen. Brüche, Überraschungen und Durststrecken eingeschlossen. Das Leben ist ein Patchwork unterschiedlicher Phasen, riskant und abwechslungsreich. In den nächsten Monaten porträtieren wir ausgewählte changeX-Leser. Spannende Menschen mit schillernd unterschiedlichen Lebens- und Arbeitswelten. In einer Serie von journalistischen Kurzporträts. Neue Folge 27: Luitgard Gasser aus Aachen. / 10.07.08
Luitgard Gasser

Luitgard Gasser:
"Arbeit ist für mich Selbstausdruck, Erfahren von Gestaltungskraft und insofern existenziell. Die eigene Fähigkeit zur Lebensgestaltung erfolgreich einsetzen zu können und zu dürfen hält Menschen gesund, gibt ihnen Lebensfreude und Lebenslust. Damit verbundene Verpflichtungen wiegen ganz anders als von außen vorgegebene Pflichten."

 

Luitgard Gasser ist 50 Jahre alt. Sie wird in Pirmasens geboren und lebt heute mit ihrem Mann und zwei Kindern in Aachen. Während ihrer Kindheit ziehen ihre Eltern oft um. "Bis zur vierten Klasse hatte ich drei verschiedene Grundschulen besucht", erinnert sie sich. Schließlich geht sie auf ein Mädchengymnasium in Bamberg. Nach dem Abitur zieht sie nach Würzburg, um Romanistik und Theologie zu studieren, wechselt jedoch nach zwei Semestern Studienort und -fach: Sie entscheidet sich für das Studium der Innenarchitektur, das sie in Coburg beginnt und in Darmstadt abschließt. Ihre französischen Sprachkenntnisse ermöglichen ihr mehrere Praktika in Frankreich, wo sie nach ihrem Studium auch ihre erste Arbeitsstelle antritt: Für eine renommierte Firma arbeitet sie zwei Jahre in Paris. Darauf wechselt sie nach Frankfurt und übernimmt für ihren neuen Arbeitgeber auch Projekte in Frankreich. Sie heiratet und bekommt mir ihrem Mann zwei Kinder. "Irgendetwas habe ich aber vermisst", sagt Gasser, die danach sucht, was ihr fehlen könnte. Sie schreibt sich als Gasthörerin der Theologie ein, merkt jedoch: "Das kenne ich schon, das ist es nicht." Irgendwann kommt sie mit dem Ansatz der Gestalttherapie in Berührung und findet, wonach sie gesucht hat: "Das ist es!" Gasser besucht Seminare und absolviert in den folgenden sieben Jahren berufsbegleitend eine Ausbildung zur Gestalttherapeutin. Bemerkenswert ist für sie zweierlei: Der Weg in diese Richtung geht ganz leicht; sie lernt, weil sie fasziniert ist, und macht so ihren Abschluss fast nebenbei. Zudem sind ihr die gestalttherapeutischen Kenntnisse am Arbeitsplatz hilfreich. Parallel zu ihrer Arbeit als Innenarchitektin lässt sie sich als Gestalttherapeutin nieder. 1993 steht dann ihr Entschluss fest: Sie möchte ausschließlich als Therapeutin arbeiten und gibt ihre Tätigkeit als Innenarchitektin auf.

Die Welt öffnen.


Heute arbeitet Gasser in ihrer eigenen Praxis und ist gleichzeitig Lehrtherapeutin für unterschiedliche Gestalt-Institute. Den gestalttherapeutischen Ansatz empfindet sie als eine "unglaubliche Befreiung": Jeder Mensch ist in seiner Entwicklung unterschiedlichen Vorschriften ausgesetzt, die ihm diktieren, wie er zu empfinden habe. Gasser sieht ihre Aufgabe darin, diese bestimmenden und beschränkenden Muster bewusst und der Auflösung zugänglich zu machen. Erst dem freien Menschen öffne sich die Welt. Bei ihrer Arbeit geht sie davon aus, dass jeder Mensch das Lösungspotenzial bereits in sich trägt. Sie selbst unterstütze lediglich die Klienten auf ihrem eigenen Weg, sagt sie. Es sind nicht mehr die äußeren, sondern die "inneren Räume", denen sie jetzt ihre Aufmerksamkeit widmet. "Das äußere Gestalten hat mich immer weniger interessiert", sagt sie. Gleichzeitig hat sie ihr Auge für "äußere Räume" behalten: Sie bietet eine spezielle Wohnberatung und begleitet Menschen, die sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr wohlfühlen und eine Veränderung wünschen. Im Gegensatz zu reinen Innenarchitekten erlaubt ihr die therapeutische Ausbildung ein "Verständnis für die parallel laufenden emotionalen Prozesse". Darin unterstützt sie die zu ihr kommenden Menschen, die sich selbst fremd geworden sind, gibt ihnen Raum, in dem sie wieder zu sich finden können.

Alles unter einem Dach.


Den Übergang von Arbeits- und Privatleben betrachtet Gasser als fließend: An den Vormittagen arbeitet sie in ihrer im eigenen Haus unter dem Dach gelegenen Praxis, die Nachmittage widmet sie der Familie, und in den Abendstunden führt sie oft noch Therapiegespräche. Darüber hinaus leitet sie Workshops, hält Vorträge und ist Lehrbeauftragte an der FH Aachen. Dass sie frei über ihre Zeit verfügen kann, empfindet sie als Luxus. Auf die Frage, was Arbeit für sie ist, antwortet sie: "Arbeit ist für mich Selbstausdruck, Erfahren von Gestaltungskraft und insofern existenziell. Die eigene Fähigkeit zur Lebensgestaltung erfolgreich einsetzen zu können und zu dürfen hält Menschen gesund, gibt ihnen Lebensfreude und Lebenslust. Damit verbundene Verpflichtungen wiegen ganz anders als von außen vorgegebene Pflichten."
Einen roten Faden in ihrem beruflichen Werdegang sieht sie ganz klar: "Es ist die Qualität menschlicher Lebensräume, die mich interessiert - gebaute oder gefühlte."
Auf changeX ist sie durch Internetrecherchen gestoßen und findet das Spektrum der Beiträge "sehr ansprechend". Von besonderem Interesse sind für sie die Patchwork-Karrieren, "weil sie den Menschen Mut machen, indem sie zeigen, wie spannend die eigene Entwicklung sein kann".
Luitgard Gasser hat sich als Innenarchitektin zunächst mit der Gestaltung von Innenräumen befasst, bis sie für sich erkannt hat, noch einen Schritt weiter gehen zu wollen: Als Therapeutin gibt sie heute Menschen Raum, um in ihrem Inneren wieder heimisch zu werden.

Sascha Hellmann ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Kontakt:
Luitgard Gasser
52066 Aachen
Tel.: 0241-579351
E-Mail: gasser-gestalt@gmx.de

© changeX [10.07.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Sascha Hellmann
Hellmann

Sascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

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