Dreimal mehr in jeden Kopf
Von der Wissensgesellschaft reden viele. Davon, wie man dahin kommt, nur wenige. Doch eine Wissensgesellschaft wird man nicht einfach so. Das erfordert eine gemeinsame Anstrengung. Erfordert: mehr Bildung für alle.
Prof. Dr. Gunter Dueck, geboren 1951, ist Cheftechnologe bei IBM Deutschland und leitet den Aufbau des Geschäftsbereiches „Dynamische IT-Infrastrukturen“. Der ehemalige Mathematikprofessor und Autor zahlreicher Bücher lebt bei Heidelberg.
Herr Dueck, man hat den Eindruck, alle setzen auf "Duck & Cover": Kopf einziehen und warten, bis die Krise vorüber ist. Sie aber sagen: Bringt nichts, denn eine neue Rationalisierungswelle steht an, nun in den Dienstleistungen. Was kommt?
Man darf nicht glauben, nach einer Krise werde alles so wie früher. Auch die Arbeitsplätze kommen nicht wieder zurück, sondern entstehen woanders neu. Ich stamme vom Bauernhof und habe selbst miterlebt, wie sehr, sehr viele Leute in der Landwirtschaft den Job verloren haben und in die Industrie gegangen sind. Und als auch da rationalisiert wurde, haben wir viele Berufe im Dienstleistungssektor schaffen können. Heute arbeitet die Mehrheit der Bevölkerung in Dienstleistungen – aber nun beginnt das Rationalisieren eben auch hier. Die Industrialisierung ist durch Automation von Maschinen vorangekommen, und nun legen der Computer und das Internet Hand oder auch die Axt an die Dienstleistungsberufe.
Deswegen habe ich die These vom Ende der Dienstleistungsgesellschaft in den Raum gestellt. Wenn diese Entwicklung weiter voranschreitet, werden wir ein Aufkeimen der quartären Gesellschaft, der Wissensgesellschaft erleben. Es wird zwar schon lange gesagt, dass wir uns zu einer Wissensgesellschaft wandeln, aber bislang nimmt das niemand so richtig ernst. Man nimmt hin, dass das irgendwann passiert. Aber dass die Leute das selbst noch erleben, scheint man gar nicht so anzunehmen.
Um welche Dienstleistungen geht es? Welche Jobs sind in Gefahr?
Heute muss niemand mehr eine Bank aufsuchen. Die Älteren tun das noch, deswegen verschwinden die entsprechenden Berufe nicht gleich. Aber man sieht, dass die jungen Leute gewisse Dienstleistungen überhaupt nicht mehr brauchen: Sie gehen nicht mehr ins Reisebüro, zur Bank oder zu einer Versicherung und lassen sich beraten, sondern wickeln alles online ab.
Man könnte über einen Taxifahrer nachdenken. Es gibt vielleicht ein oder zwei Taxifahrer, die alle Straßen in Berlin oder in München kennen. So ein Taxifahrer ist der Hero, der weiß alles. Aber heute ist er einem TomTom gnadenlos unterlegen. Denn das Wissen ist jetzt für jeden verfügbar. Alle solche Berufe, in denen man viel Wissen benötigt, das aber in eine Maschine wie TomTom transferierbar ist, verschwinden oder sind in Gefahr.
Das heißt, Produktivitätsverbesserungen in der Fertigung sind ausgereizt, jetzt versuchen die Unternehmen Produktivitätsverbesserungen bei den Dienstleistungen zu erzielen?
Ausgereizt sicher nicht, da wird durch IT auch noch eine Menge passieren. Aber es gibt technologische Entwicklungen, wo das Rationalisieren sehr einfach geht – und das ist heute durch Internettechnologien möglich. Und diese Internettechnologien werden in den verschiedenen Feldern eingesetzt – vor allem bei Dienstleistungen, wo jetzt begonnen wird, die Arbeitsplätze halb zu automatisieren. Alles, was mit Beratung und Information zu tun hat, wandert ins Internet.
Wie kann die künftige Rolle unseres Landes in der Weltwirtschaft aussehen? Auf welche Fertigkeiten sollten wir uns konzentrieren?
Ganz allgemein müssen wir Dienstleistungen oder Berufe erzeugen, die etwas zustande bringen, was ein Computer nicht kann. Da gibt es schöne Diskussionen, weil die Leute sagen, der Computer könne nicht alles und ein Mensch sei viel besser. Wenn ich dann aber einwende, sie sollen sich einen Beruf ausdenken, den der Computer nicht selbst ausüben kann, dann kommen sie ein wenig ins Stottern und geben zu: Das sind gar nicht so viele, denn der Computer kann doch ganz viel. Und dann werde ich als der Nestbeschmutzer gefragt, der behauptet, dass das Ende der Dienstleistungsgesellschaft bevorsteht: Was sollen wir denn nun machen? Ich soll dann sozusagen als Retter der Welt eine Lösung vorstellen.
Die Rettung liegt natürlich in der Wissensgesellschaft. Die aber erfordert eine gemeinsame Anstrengung. Das spüren die Politiker auch und sagen, wir sollen zuversichtlich sein und was machen. Aber im Grunde hängt das nicht so sehr an der Zuversicht einzelner Menschen, sondern wir müssen uns insgesamt entschließen, als Staat, als Volk oder Gemeinschaft, jetzt aufzubrechen und etwas zu tun.
Sie sagen, wir müssen eine Exzellenzgesellschaft werden. Was verstehen Sie unter Exzellenzgesellschaft?
Exzellenzgesellschaft ist das, was über die normale Routine hinausgeht. Alle Routine wird halb automatisiert oder ganz automatisiert. Und das halb Automatisierte geht in den Niedriglohnsektor, das ganz Automatisierte fällt weg. Wir müssen eben das tun, was in Indien und China nicht schon selbst gekonnt wird. Zum Beispiel ist Deutschland noch immer sehr, sehr gut in Anlagenbau, Großmaschinenbau, Spezialmaschinenbau – in all diesen mittelständischen Bereichen, in denen wir traditionell gut sind. Eigentlich sind wir gar nicht so schlecht aufgestellt für eine Wissensgesellschaft, denn wir haben nicht die großen Riesenfirmen wie andere Industrieländer. Und unser Mittelstand produziert Dinge, die sehr speziell sind. Hier sind einzelne kleine Firmen Weltmarktführer für bestimmte Dinge. Diese Weltmarktführer sind in der jetzigen Krise auch gar nicht so eingebrochen – alle, die jetzt exzellent liefern für den gesamten Weltmarkt, kommen fast ungeschoren davon. Hierauf muss man aufbauen. Große Werke bauen, das funktioniert nicht so richtig, das sieht man am Niedergang der Automobilindustrie hierzulande. Man braucht neue Konzepte, wie Bereiche in Nanotechnologie, Solartechnologie und Forschung. Und da sind wir ja auch gut.
Ganz sind wir in der Exzellenzgesellschaft aber offenbar noch nicht angekommen, sonst müssten wir ja nicht aufbrechen. Wie kommt man dahin?
Wir stecken eben immer noch in dieser besprochenen Entwicklung, wo viele Berufe halb automatisiert werden und in den Niedriglohnbereich wandern. Früher musste ein Briefträger alle Adressen kennen, ähnlich wie ein Taxifahrer. Heute bekommt er ein Gerät in die Hand gedrückt und muss eine Unterschrift an der Tür einholen; im Grunde kann den Beruf heute jeder ergreifen.
Das Gegenkonzept kann nur heißen, dass jeder sich mehr bildet. Im Klartext ausgedrückt: Jeder muss studieren. Ich habe das bewusst so formuliert, und nicht nur: Jeder muss Abitur machen. Da wird natürlich immer gefragt: Warum muss das jeder? Oder: Ich habe nicht Abitur und bin trotzdem ein Mensch geworden. Und ich treffe in diesen Diskussionen auf viel Jammerei und starke Ablehnung gegen solche Thesen.
Fast jeder muss studieren – dagegen wurde eingewandt, dass eine Verallgemeinerung von Bildung sie entwerte. Ist da was dran?
Da wird fast reflexhaft widersprochen. Da wird gesagt, wenn mehr Leute Abitur haben, dann führt das zu einer Verwässerung des Niveaus. Oder der Level wird runtergedrückt. Aber dass der Level als Ganzes hochgehen kann, will sich niemand vorstellen. Ich erinnere einfach an die Einführung der Schulpflicht vor 200, 300 Jahren. Dagegen gab es Bauernaufstände. Die Bauern haben damals gesagt. Erstens werden die Kinder von der Arbeit abgehalten. Zweitens nützt Rechnen und Schreiben dem Bauern nichts. Und drittens hieß es, unsere Kinder sind viel zu dumm dafür. Wenn ich jetzt fordere, wir müssen die Bildung auf ein höheres Niveau heben, dann kommen unsere Politikern mit genau denselben Argumenten. Sie sagen: Wozu muss ein Taxifahrer studiert haben? Das nützt ihm nichts. Das hält ihn von der Arbeit ab. Und er ist wahrscheinlich nicht dazu fähig. Es ist wirklich genau dieselbe Argumentation wie früher.
Sollte man nicht an dem ganzen Spektrum von Bildung – von Krippe und Kindergarten bis zur Uni – ansetzen, anstatt sich auf das Studium zu kaprizieren?
Wir müssen neu fragen: Was muss ich in einer Wissens- oder Exzellenzgesellschaft wirklich können? Das ist nicht unbedingt das, was wir jetzt in der Schule lernen. Dort lernen wir hauptsächlich Fachkönnen, Expertenwissen, also Lexikonwissen. Wir füllen unsere Festplatte im Gehirn. Und wenn die fehlerfrei und vollständig ist, dann haben wir das Abitur, wissen alles über Monsunwinde in Indien und andere kleinteilige Wissensgegenstände. Das ist aber nicht das, was in einer Exzellenzgesellschaft gebraucht wird! Denn das haben wir ja alles in Google und in Wikipedia.
Bei uns bei IBM wird etwas anderes gebraucht: so etwas wie übergreifendes Wissen. Es wird Managementtalent verlangt, Verkaufsfähigkeit, Argumentationsfähigkeit, Teamfähigkeit, die Fähigkeit, mit anderen Leuten, die man nur übers Internet kennt und noch nie persönlich gesehen hat, zusammenzuarbeiten, auftretende Konflikte zu regeln, in vielen Kulturen zu Hause zu sein, sich in ein Netzwerk einzufühlen. Was wir genug haben, das sagen alle Firmen: Wir haben Leute, die ziemlich viel auswendig wissen, die aber nicht in der Lage sind, mit vielen, vielen Menschen ein Projekt verträglich durchzuziehen. Das sind Fähigkeiten, die an der Schule eher selten oder gar nicht vermittelt werden.
In der Industrie gibt es jetzt das Wort T-Shape, das besagt: Man muss ein breites Wissen und ein tiefes Wissen gleichzeitig haben. Dieses breite Wissen, ebenso wenig wie Persönlichkeit oder ein integrer Charakter, ist nicht Gegenstand der Schule, auch nicht der Erziehung. Hier schieben sich Eltern und Lehrer andauernd den Schwarzen Peter zu. Doch von solchen Anschuldigungsmustern müssen wir uns befreien. Wir müssen nachdenken, was ein Mensch in der Zukunft braucht.
Der Einwand lautet hier: Auf die Gefahr hin, dass die Leute überqualifiziert sind ...
Würden Sie sagen, dass es irgendwem schadet, dass er Rechnen und Schreiben gelernt hat? Für viele Berufe braucht man das nicht. Wozu Rechnen und Schreiben, wenn ich Putzfrau bin? Aber schadet das? Bildung eröffnet ja auch ganz andere Möglichkeiten: Auf einem höheren Niveau zu leben, viele Dinge genießen zu können und zu verstehen.
Das heißt, Bildung entkoppeln von beruflicher Bildung?
Wir brauchen eine gewisse Basiskultur, eine allgemeine Plattform, auf der man aufbauen kann, was dann als Beruf gebraucht wird. Zum Beispiel werden menschliche Fähigkeiten jetzt überall gebraucht. Sie akzeptieren nicht mehr, dass sie von einem introvertierten, stummen Friseur empfangen werden. „Setzen Sie sich hin“, sagt der gerade noch oder nickt nur, bevor er anfängt, Haare zu schneiden. Sie erwarten schon Dienstleister, die sagen: „Hallo, was möchten Sie? Haben Sie ein Bild mitgebracht? Wollen Sie nicht mal so aussehen?“ Was ein Bankberater mit Studium können musste, wird jetzt auch von einem normalen Dienstleister erwartet. Unsere Kultur verlangt heute fähigere Menschen, die sich im Zwischenmenschlichen auskennen und die eine gewisse Persönlichkeit haben.
Bildung als Persönlichkeitsbildung?
Ich habe einen Brockhaus zur Konfirmation geschenkt bekommen. Den brauche ich natürlich nicht mehr, weil jetzt alles online ist. Aber da stehen manche Wörter anders erklärt drin, als sie heute erklärt werden. Da steht zum Beispiel: „Bildung ist die Fähigkeit, das Wertvolle und Wichtige in einer Kultur zu erkennen, sich selbst anzueignen und in eine persönliche Form zu transferieren.“ Das finde ich immer noch richtig. Doch das hat man in den 70er-, 80er-, 90er-Jahren durch einen Bildungsbegriff abgelöst, der besagt: Ich muss alles lernen, was ich später für einen Beruf brauche – und zwar Fachkenntnisse. Das aber braucht man heute nicht mehr. Man muss einfach argumentativ und als Persönlichkeit gut sein.
Was ist zu tun? Wie sieht ihr „Masterplan Zukunft“ aus?
Ich habe mir Gedanken gemacht, wie man die Schule und das Bildungssystem reformieren könnte, damit man den Unterricht wieder interessant macht. Ich gebe ein paar Thesen ab. Also, den Erdkundeunterricht ersetze ich durch Surfen bei Google Earth. Da fliege ich einfach über die Lande und gucke mir das an, reise vielleicht nach Indien, muss mir aber nicht langatmige Unterrichtseinheiten über die Vegetation dort anhören, sondern kann mir das einfach angucken. Das Mikroskopieren in Biologie kann man ebenfalls durch Surfen ersetzen – statt auf dem Land auf einer Amöbe. Den langweiligen Liedsingunterricht kann man durch praktische Übungen mit Karaoke-Material ersetzen. Ich kann auch Kinder komponieren lassen, und die können sich das dann vom PC vorspielen lassen.
So sieht man, dass man den Unterricht mit ein bisschen Hilfe aus dem Internet viel, viel besser gestalten kann und Wissen viel schneller vermittelt. Dann braucht man gar nicht so viel Zeit. Wenn man vergleicht, wie schnell Kinder bei einem Auslandsaufenthalt Englisch lernen, dann ist es eine Schande, dass wir unter elenden Qualen neun Gymnasialjahre lang Englisch pauken und dann fast ohne Sprechkenntnisse rauskommen!
So kann man alle Schulfächer einzeln durchgehen. Und ich sage, dass man dreimal mehr in jeden Kopf kriegt. Nicht nur dieses bisschen Abiturwissen, das man jetzt verlangt.
Zitate
"Unsere Kultur verlangt heute fähigere Menschen, die sich im Zwischenmenschlichen auskennen und die eine gewisse Persönlichkeit haben." Gunter Dueck: Dreimal mehr in jeden Kopf
"Ich sage, dass man dreimal mehr in jeden Kopf kriegt. Nicht nur dieses bisschen Abiturwissen, das man jetzt verlangt." Gunter Dueck: Dreimal mehr in jeden Kopf
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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