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#Neues im #Sozialen
Alle reden von Innovationen. Und meinen meist schöne, neue Hightech. Ein folgenreiches Missverständnis. Denn das vorherrschende technologiefixierte Innovationsparadigma wirkt als Innovationsbremse. In einer Wissens- und Teilhabe-Gesellschaft kommt es entscheidend darauf an, wie Menschen ihr Zusammenleben und miteinander Arbeiten organisieren: auf soziale Innovation. Hier indes hat Deutschland Nachholbedarf.
Heike Jacobsen und Jürgen Howaldt von der Sozialforschungsstelle Dortmund sind Herausgeber des Readers Soziale Innovation, der im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen ist. Die Fragen stellten Winfried Kretschmer, Klaus Burmeister und Holger Glockner.
Frau Jacobsen, Herr Howaldt, was hat Sie bewogen, ein Buch zum Thema "soziale Innovation" herauszugeben?
Howaldt: Wir glauben, dass soziale Innovationen in der Wissensgesellschaft wesentlich wichtiger werden, als sie es in der Industriegesellschaft waren. Doch kommt dieses Thema in der innovationspolitischen Debatte in Deutschland deutlich zu kurz. Diese ist bislang sehr stark an Hightech und Produktentwicklung orientiert. Wir glauben, dass Deutschland hier wirklich einen Wettbewerbsnachteil hat.
Soziale Innovationen geraten aus dem Blickfeld, weil der Fokus zu stark auf technische Innovationen gesetzt wird?
Jacobsen: Ja, das kann man so sagen. Welche der aktuellen Krisen man auch betrachtet - die Finanzmarktkrise, die Klimakrise oder die wachsenden sozialen Ungleichheiten -, immer sind es technologische Lösungen, die im Vordergrund stehen. Wir meinen dagegen, dass man sich mehr mit sozialen Innovationen beschäftigen muss, um die anstehenden Probleme zu lösen.
Was genau verstehen Sie unter sozialer Innovation?
Howaldt: Soziale Innovation sind intendierte Veränderungen im Handeln, im Zusammenleben, im Zusammenwirken der Menschen, mit denen sie ihre selbst gesetzten Ziele besser erreichen können. Das betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche. In Unternehmen sind es beispielsweise neue Formen der Zusammenarbeit, wie Gruppenarbeit, aber auch neue Formen, wie Wissensprozesse oder wie Innovationen organisiert werden. Innovationen sind nicht mehr nur Sache bestimmter Expertinnen und Experten in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, sondern sie werden zunehmend von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen oder mit Kunden oder anderen Partnern extern entwickelt. Hier geht es um neue Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenwirkens von Menschen in Unternehmen und anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Meinen Sie, dass die Bedeutung sozialer Innovationen für gesellschaftlichen Fortschritt zugenommen hat? Oder richtet sich momentan der Lichtkegel der Aufmerksamkeit dorthin?
Jacobsen: Ich bin überzeugt, dass ihre Bedeutung zunimmt. Das hat mit der Entwicklung der Produktionsweise zu tun, die immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den Wertschöpfungsprozess einbezieht. Es sind kulturelle und soziale Ressourcen, die heute aktiv gestaltet werden. Insofern sind soziale Innovationen gerade aus ökonomischer Sicht ein ganz wichtiges Thema - viel wichtiger als in der Vergangenheit, als es reichte, interessante, preisgünstige Produkte auf den Markt zu bringen.
Haben Sie ein Beispiel für die gewachsene Bedeutung sozialer Innovationen?
Howaldt: Als Wissensmanagement in Mode kam, war man ganz fasziniert von neuen IT-Technologien und Software. Infolgedessen betrieben viele Unternehmen riesigen Aufwand, um das Wissen aus den Köpfen der Mitarbeiter in die entsprechenden EDV-Systeme zu überführen - der Erfolg blieb meist aus. Mittlerweile weiß man, dass es viel sinnvoller ist, in den Unternehmen neue Kommunikationsräume zu schaffen und die Mitarbeiter miteinander in Kommunikation zu bringen, anstatt das vorhandene implizite Wissen der Mitarbeiter in aufwendiger Weise zu explizieren. An die Stelle der Technologie tritt dann eine andere Kultur, in der die Mitarbeiter ihr Wissen miteinander teilen.
Was ist dabei der Treiber? Ist es die Technologie oder sind es die Veränderungen der Form der Zusammenarbeit zwischen den Menschen? Was meinen Sie?
Jacobsen: Das ist eine gute Frage, die wir nicht wirklich beantworten können. Ich meine, dass es zunehmend einen "Pull"-Effekt gibt, also Innovationen nicht in den Markt "gepusht", sondern von potenziellen Nutzern gezogen werden und Unternehmen diesen Effekt nutzen, um technologische Innovationen zu entwickeln.
Howaldt: Es ist gar nicht die entscheidende Frage, ob Technologie oder das Soziale zuerst da war oder stärker wirkt. Beide stehen in einem engen Zusammenhang. Uns geht es darum, in diesem engen Zusammenhang, wo Technologien und Sozialeffekte eine Einheit bilden, den Fokus stärker auf die unterbelichtete soziale Seite zu setzen. Ähnlich wie beim Wissensmanagement kann man das auch an der Regionalentwicklung sehen. Viele Regionen und Städte haben in den letzten Jahren aufwendige Programme aufgelegt, um sich zu Technologiestandorten zu entwickeln; neue Technologien wurden entwickelt und neue Unternehmen angesiedelt. Vernachlässigt wurde aber, dass es auch einer entsprechenden Qualifizierung von Menschen bedarf, die diese Technologien entwickeln und anwenden. Notwendig sind moderne Organisations- und Bildungsstrukturen in den Unternehmen und in den Regionen, damit die Menschen ihre Kreativität ausleben können. Insofern sind beide Seiten sehr wichtig, bisher allerdings wurde in der bundesdeutschen Diskussion die technologische Seite recht einseitig in den Vordergrund gerückt.
Jacobsen: Ein anderes Beispiel ist das Web 2.0. Das Neue daran ist nicht die Technologie, sondern es sind die Nutzungsformen, die sich in den letzten fünf bis zehn Jahren entwickelt haben. Und dass daraus wiederum eine neue Form von Produktion entsteht: eine soziale Produktion, die zunehmend auch wirtschaftlich genutzt wird.
Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten sozialen Innovationen der letzten Jahre gewesen?
Howaldt: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil soziale Innovationen täglich und in allen gesellschaftlichen Bereichen passieren. Ein ganz wichtiges Thema sind Innovationen im Dienstleistungsbereich, wo es nicht um neue Technologien geht, sondern um neue Arten des Zusammenwirkens der Menschen. Ich glaube, dass die Möglichkeiten hier überhaupt noch nicht ausgeschöpft sind. Wir stehen hier erst am Anfang der Entwicklung.
Soziale Innovation bildet im Grunde die Schnittstelle zwischen dem Einzelnen und sozialem Wandel - sie ist eine Möglichkeit, wo Individuuen Einfluss auf sozialen Wandel nehmen können. Wenn soziale Innovation bedeutender wird, heißt das dann, dass die Einflussmöglichkeiten des Einzelnen auf gesellschaftliche Entwicklungen gewachsen sind?
Howaldt: Das ist der entscheidende Punkt: Wir sind heute in einer gesellschaftlichen Situation, wo man Veränderungsprozesse nicht allein der Politik - im Sinne von Reformen - überlassen kann, und ebenso wenig alleine der Wirtschaft im Hinblick auf die Entwicklung neuer Produkte. Veränderungen müssen in allen Lebensbereichen umgesetzt werden, damit wir die großen Herausforderungen bewältigen können. Jeder Einzelne kann hier einen Beitrag leisten und kann soziale Erfindungen und Innovationen vorantreiben.
Der Einzelne kann die Schnittstelle zu gesellschaftlichen Organisationen auch selber definieren und damit Einfluss nehmen?
Howaldt: In unserer heutigen, ausdifferenzierten Gesellschaft geht es darum, mithilfe von sozialen Innovationen Brücken zwischen einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen und unterschiedlichen Handlungslogiken zu schlagen und zu versuchen, sie in einen produktiven Dialog zum Wohle der Gesamtgesellschaft zu bringen, egal, ob es um Geld, Macht oder Wahrheit geht. An diesen Schnittstellen kann der einzelne Mensch in der Tat eine große Rolle spielen. Er hat Möglichkeiten, hier stärker einzugreifen, die Logiken auch mit zu verändern.
Aber sind wir nicht viel enger gekoppelt an den Treiber Technologieentwicklung, als wir das vielleicht möchten?
Jacobsen: Das Grundproblem ist, dass man technologische und soziale Innovationen gegeneinanderstellt. Wir sagen ja nicht, dass technologische Innovationen keine Rolle spielen. Natürlich spielen sie nach wie vor eine Rolle. Zugleich gilt, dass sie aber auch nur im Kontext mit sozialen Innovationen produktiv genutzt werden können.
Howaldt: Dieses auf Technologie orientierte Innovationsparadigma, das heute in Deutschland noch im Vordergrund steht, führt zu völlig unrealistischen Annahmen. Die menschenleere Fabrik war ebenso unrealistisch wie das papierlose Büro oder das Ende der Arbeitsgesellschaft. Wir sehen, dass der Mensch in allen Produktionsbereichen eine ganz wichtige Rolle spielt. Wir haben im Zuge der Diskussion um die schlanke Produktion ja erlebt, dass gerade die Beteiligung der Mitarbeiter in kontinuierlichen Verbesserungsprozessen und die Möglichkeit, sich mit ihren Ideen einzubringen, die eigentlichen Potenziale sind, um Innovationen und damit das Unternehmen oder den Standort voranzubringen. Und der entscheidende Faktor, der uns hindert, die neuen IT-Technologien und das Internet wirklich zu nutzen, ist nicht, dass wir zu wenig Breitband haben, sondern dass das Bildungssystem den veränderten Anforderungen nicht gerecht wird. Es geht um eine neue Art und Weise, wie Bildung organisiert wird, wie wir unser Bildungssystem im Sinne des lebenslangen Lernens und der Gestaltung von Übergängen neu strukturieren. Dabei spielen Technologien eben nicht die entscheidende Rolle. Obwohl es natürlich schön ist, wenn Schulen eine gute technologische Ausstattung haben.
Inwiefern ist Führung gefragt, um soziale Innovationen zur Entfaltung zu bringen?
Jacobsen: Auch hier wirkt das vorherrschende Innovationsparadigma als Innovationsbremse: Denn die Konzentration auf technologische Innovationen verhindert, dass sich Politik, Forschungsförderung, Wissenschaftspolitik mit sozialen Innovationen und mit der sozialen Seite von technologischen Innovationen beschäftigen. Hier besteht ganz klar Nachholbedarf. In anderen Ländern ist es dagegen schon angekommen, dass das ein wichtiges Thema ist.
Sie sagten eingangs bereits, dass Deutschland hier einen Wettbewerbsnachteil hat. Welches sind denn die Länder, die hier einen Wettbewerbsvorteil haben?
Howaldt: Europa insgesamt, die USA und einige europäische Länder sind hier weiter als die Bundesrepublik. Barroso hat für die EU eine stärkere Fokussierung auf soziale Innovationen gefordert. Obama ist dabei, das Thema zu forcieren. Hier wird gerade ein "Office of Social Innovation" im Weißen Haus eingerichtet und ein Fonds für soziale Innovationen in Höhe von 50 Millionen Dollar aufgelegt. Dort lässt sich mit Recht sagen: "Social Innovation moves to the mainstream." Aber auch die skandinavischen Länder haben soziale Innovationsprozesse in allen gesellschaftlichen Bereichen in Gang gesetzt - durchaus nicht ohne Erfolg, und unabhängig übrigens auch davon, ob sozialdemokratische oder konservative Regierungen an der Macht waren.
Was wäre denn zu tun, um den von Ihnen konstatierten Innovationsrückstand des Landes wettzumachen?
Howaldt: Anders als bei technologischen Innovationen gibt es im Bereich sozialer Innovationen nicht die seit vielen Jahren arbeitende institutionelle Infrastruktur von Technologiezentren, Technologietransferstellen, Existenzgründungsberatung und so weiter. Für Gründerinnen und Gründer gibt es häufig kein Geld, wenn es nicht um technologieorientierte Gründungen geht. Während es riesige Fördersummen zur Unterstützung neuer Technologien gibt, werden soziale Prozesse und Dienstleistungsinnovationen viel zu wenig gefördert. Darüber hinaus hat auch Forschung und Forschungsförderung - auch die sozialwissenschaftliche - sehr stark Technologien im Fokus. An diesen Defiziten zu arbeiten könnte helfen, den Rückstand aufzuholen.
Im Untertitel Ihres Sammelbandes zum Thema "soziale Innovationen" werfen Sie die Frage auf, ob soziale Innovationen so bedeutsam geworden sind, dass man vielleicht sogar von einem neuen Innovationsparadigma sprechen könne. Können Sie die Frage mittlerweile beantworten?
Howaldt: Ja, es gibt ganz, ganz viele Anzeichen dafür, dass wir zurzeit die Herausbildung eines neuen Innovationsparadigmas beobachten können. Freilich gibt es noch viele offene Fragen: Was soziale Innovationen von technologischen Innovationen unterscheidet - darin, wie sie erfunden werden und wie sie in die Gesellschaft diffundieren. Welche Rolle der Markt, welche Rolle die Politik spielt. Der nächste wichtige Schritt ist, das konzeptionell weiterzuentwickeln.
Jacobsen: Weil wir uns zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, muss es ein neues Innovationsparadigma geben: Weil nicht mehr die Entwicklung naturwissenschaftlich-technischer Produkte im Vordergrund steht, sondern Innovationen, die voraussetzen, dass sich Individuen und Gruppen anders verhalten als früher. Dass sie ihr Handeln ändern. Das ist für mich die realistische Basis der starken These von einem neuen Innovationsparadigma.
Dr. Heike Jacobsen ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin der Sozialforschungsstelle Dortmund. Prof. Dr. Jürgen Howaldt ist Direktor der Sozialforschungsstelle Dortmund und Professor an der Technischen Universität Dortmund. Die Sozialforschungsstelle ist mit rund 75 Mitarbeitern eine der größten deutschen Forschungsinstitute auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlichen Arbeitsforschung. Seit 2007 ist sie zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Technischen Universität Dortmund. Heike Jacobsen und Jürgen Howaldt sind Herausgeber des Bandes Soziale Innovation: Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, der im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen ist.
Klaus Burmeister ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter, Holger Glockner Mitglied der Geschäftsleitung bei Z_punkt.
Zitate
"Soziale Innovation sind intendierte Veränderungen im Handeln, im Zusammenleben, im Zusammenwirken der Menschen, mit denen sie ihre selbst gesetzten Ziele besser erreichen können." Jürgen Howaldt, Interview #Neues im #Sozialen
"Veränderungen müssen in allen Lebensbereichen umgesetzt werden, damit wir die großen Herausforderungen bewältigen können. Jeder Einzelne kann hier einen Beitrag leisten und kann soziale Erfindungen und Innovationen vorantreiben." Jürgen Howaldt, Interview #Neues im #Sozialen
changeX 09.06.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Jürgen Howaldt und Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, 396 Seiten, 49.95 Euro, ISBN 978-3-531-16824-1
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.