Zwischen Stabilität und Flexibilität

Flexible Arbeitswelten - Folge 2
Report: Werner Eichhorst und Verena Tobsch

Traditionelle Formen der Beschäftigung und Arbeitsorganisation ändern sich. Nur in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit? Und wohin geht die Entwicklung? Thema einer fünfteiligen Serie, die auf dem Bericht "Flexible Arbeitswelten" an die Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann-Stiftung basiert. Folge 2: interne Flexibilität und das Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Flexibilität. Plus ein Blick auf die Subjektivierung von Arbeit

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Im ersten Teil ging es um die vielen Gesichter der Flexibilität und die externen Formen der Flexibilisierung und Entgrenzung. In Folge zwei stehen nun die interne Flexibilität und das Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Flexibilität im Mittelpunkt. Am Ende werfen wir einen kurzen Blick in die Zukunft und auf die Subjektivierung von Arbeit.


Interne Flexibilität: Work-Life-Balance und/oder Arbeitsverdichtung?


Auch im Bereich der Normalarbeitsverhältnisse zeichnet sich eine zunehmende Flexibilisierung und Entgrenzung ab. Bei formal stabiler, auf Dauer angelegter Beschäftigung dominieren zusätzlich zu den oben diskutierten sektoralen Verschiebungen Elemente der internen Flexibilität - die jedoch auch bei allen atypischen Beschäftigungsformen auftreten können. Diese Flexibilität zeigt sich vor allem in drei Phänomenen: die zunehmende Verbreitung flexibler Arbeitszeiten und ungewöhnlicher Arbeitszeitmuster, eine stärkere Durchdringung von Arbeitszeit und Freizeit und die zunehmenden Möglichkeiten des mobilen Arbeitens. Hierzu gehören aber auch flexible Projektstrukturen innerhalb der Betriebe und quasi-unternehmerische Entgeltsysteme für abhängig Beschäftigte. Innerbetriebliche Projektwirtschaft selbst ist in den Bereichen IT, Marketing, Vertrieb sowie Forschung und Entwicklung am stärksten verbreitet. Das ergab eine Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) im Auftrag der Rekrutierungsagentur Hays 2010. 

Im Einzelnen lässt sich feststellen, dass überlange Arbeitszeiten nicht unbedingt zunehmen. Lediglich etwa acht Prozent der Arbeitnehmer leisten Überstunden, nur etwa fünf Prozent arbeiten mehr als 48 Stunden in der Woche. Der Überstundendurchschnitt lag dabei 2011 bei 8,6 Stunden. Diese Überstunden wurden, anteilig berechnet, vor allem von Ärzten, Apothekern, in den Berufen der Unternehmensleitung, -beratung und -prüfung sowie von Chemikern, Physikern und Mathematikern erbracht - also in höher qualifizierten Tätigkeiten mit flexiblen Arbeitszeiten. Bei ungewöhnlich liegenden Arbeitszeitmustern wie Nacht- und Wochenendarbeit sowie bei Schichtarbeitsmodellen ist jedoch ein Anstieg zu verzeichnen, wie die Bundesregierung 2013 auf eine Kleine Anfrage im Bundestag mitteilte.


Wochenendarbeit und Erreichbarkeit


2011 arbeitete jeder Vierte ständig oder regelmäßig an einem der beiden Wochenendtage. Gegenüber 2010 ist das ein Anstieg um ungefähr 600.000 Beschäftigte. Am stärksten davon anteilig vertreten sind Berufe in der Seelsorge, der Back-, Konditor- und Süßwarenherstellung sowie Berufe des Wasser- und Luftverkehrs. Auch die Nachtarbeit ist angestiegen: 2011 arbeiteten 9,4 Prozent der Beschäftigten nachts, während es 2001 noch 7,8 Prozent waren. Hier sind ebenfalls die Berufe in der Back-, Konditor- und Süßwarenherstellung am stärksten betroffen. Bei der Schichtarbeit kam es von 2001 bis 2011 zu einem Zuwachs von 24 Prozent. Für 2011 entspricht das einem Wert von 17,1 Prozent. Dies kann mit dem Wachstum von Arbeitsplätzen im privaten Dienstleistungsbereich wie etwa Verkehr und Logistik, Handel und Gastronomie, aber auch in der verarbeitenden Industrie sowie im Gesundheits- und Sozialwesen erklärt werden.  

Auch die Erreichbarkeit außerhalb üblicher Arbeitszeiten und fixer Arbeitsorte nimmt mit den organisatorischen Veränderungen und technologischen Innovationen in der Arbeitswelt zu, wie der im Springer-Verlag regelmäßig erscheinende Fehlzeiten-Report in der Ausgabe 2012 besagt. Gerade Führungskräfte sind zunehmend auch abends, am Wochenende oder im Urlaub erreichbar und berichten, dass dies von ihnen implizit erwartet wird. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls der Bericht zur Erreichbarkeit von Führungskräften des Berufsverbandes Die Führungskräfte (DFK) aus dem Jahr 2013. Dies wird auch von einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) von 2012 bestätigt: Dort berichtet eine Mehrheit von Beschäftigten über wachsenden Zeitdruck und Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeiten. Das betreffe vor allem Vollzeitbeschäftigte, Führungskräfte und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich. So fühlt sich mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer (52 Prozent) sehr häufig oder oft unter Zeitdruck gesetzt. Die DGB-Studie von 2012 besagt ebenfalls, dass 53 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten und 60 Prozent der Vorgesetzten sich sehr häufig oder oft bei der Arbeit gehetzt fühlen. Von der ständigen Erreichbarkeit betroffen sind vor allem die Branchen Erziehung und Unterricht (43 Prozent aller Arbeitnehmer) sowie das Gastgewerbe (37 Prozent).  

Auch von 40 Prozent der Vorgesetzten wird sehr häufig oder oft erwartet, auch außerhalb der normalen Arbeitszeit erreichbar zu bleiben. Hier werden die unterschiedlichen Ansprüche innerhalb der Branchen deutlich. So liegt dieser Wert in der Chemiebranche und in der öffentlichen Verwaltung bei nur 18 Prozent. Und schließlich kommt die Studie des DGB zu der Aussage, dass von 38 Prozent derjenigen, die sehr häufig unter Zeitdruck stehen, auch sehr häufig ständige Erreichbarkeit erwartet wird.


Arbeitsintensität stabilisiert sich auf einem hohen Niveau


Diese Befunde werden durch die Ergebnisse des letzten Stressreports der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) von 2012 etwas relativiert. Er kann im Vergleich zur Situation Mitte der 2000er-Jahre keine deutliche Veränderung feststellen. Dies gilt sowohl für flexible und atypische Arbeitszeiten als auch für jene Phänomene der Arbeitswelt, die viele als belastend empfinden: Multitasking, häufige Unterbrechungen oder Zeitdruck. Die Arbeitsintensität stabilisiert sich eher auf einem hohen Niveau und ist bei Vollzeitbeschäftigten und Führungskräften tendenziell höher. Gleichzeitig nehmen Klagen über Stress zu, wenngleich sich dieser Trend zu verlangsamen scheint. Überforderung ist jedoch kein generelles Problem, wobei eher über quantitative als über qualitative Überforderung berichtet wird. Körperliche und psychische Beschwerden nehmen jedoch zu und werden vermehrt der Arbeitswelt als Verursacher zugeschrieben. Gleichzeitig bieten flexible Arbeitszeiten und -orte aber auch verbesserte Möglichkeiten, Arbeit und Privat- beziehungsweise Familienleben besser zu vereinbaren.  

Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln aus dem Jahr 2013 beschäftigt sich mit dem Einfluss der Arbeitsplatzmerkmale auf die Arbeitszufriedenheit und unterstützt die Ausführungen des letzten Stressreports. So konnte auf Grundlage des European Working Conditions Survey (EWCS) aus dem Jahr 2010 belegt werden, dass die Faktoren Arbeitszeiten, Zeitdruck und Stress in Deutschland keine Signifikanz für die Bewertung der Qualität der Arbeit durch Beschäftigte haben. Im Gegenteil: 85 Prozent der befragten Beschäftigten, die häufig in hoher Geschwindigkeit arbeiten und Stress am Arbeitsplatz erleben, sind mit ihrer Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden.  

Bei den betriebsinternen Veränderungen ist die Datenlage nicht ganz eindeutig. Man kann jedoch für Deutschland von einem sehr hohen Maß an interner Flexibilität insbesondere bei den Arbeitszeiten ausgehen, und auch von einer teilweise wachsenden Arbeitsintensität und Durchdringung von Arbeitszeit und Freizeit. Gleichzeitig gibt es Anzeichen, dass der subjektiv wahrgenommene Stress zugenommen hat, was oftmals wohl eher eine quantitative als qualitative Überforderung bedeutet. Auch bei der innerbetrieblichen Flexibilität gilt es also Unterschiede nach Wirtschaftszweigen und Berufsgruppen zu beachten.


Zwischen Stabilität und Flexibilität


Fassen wir zusammen: Auf der einen Seite gibt es eine bemerkenswerte Stabilität im Kernbereich des Arbeitsmarktes, nämlich beim Normalarbeitsverhältnis. Zumindest, soweit berufs- und betriebsspezifische Erfahrungen und Kenntnisse für die Unternehmen wichtig sind und diese auch kaum oder gar nicht auf dem externen Arbeitsmarkt zu beschaffen sind. Jedoch haben auch die auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnisse ihren Charakter verändert - sie sind bei Arbeitszeiten, Arbeitsorganisation und Entlohnung flexibler geworden. Die Arbeitsintensität und "Entgrenztheit" nimmt auch in formal stabilen Jobs zu.  

Zu den Normalarbeitsverhältnissen sind jedoch bei einem insgesamt wachsenden Volumen an Beschäftigung vielfältige Formen flexiblerer Arbeitsverträge hinzugetreten. Was Entlohnung, Bestandsstabilität und die dominanten Arbeitszeitmodelle angeht, hat das Wachstum der atypischen Beschäftigung zu mehr Diversität auf dem Arbeitsmarkt beigetragen. Je nach Branche, Qualifikation und Beruf lassen sich unterschiedliche Beschäftigungsstrukturen und -dynamiken erkennen - und damit auch unterschiedliche Formen und Grade der Entgrenzung.  

Gleichzeitig sind die produktiven, industriellen Kerne des deutschen Wirtschaftsmodells zwar hoch wettbewerbsfähig, innovativ und intern flexibel, aber trotz starker Vernetzung auch bemerkenswert stabil in ihren Beschäftigungsstrukturen. Die Fähigkeit zur graduellen Veränderung und Innovation, die notwendig ist, um an den Weltmärkten zu bestehen, basiert auch auf stabilen Kernbelegschaften und einer starken regionalen Einbettung. Dies ist wiederum ein stabilisierender Faktor für die beruflichen und regionalen Arbeitsmärkte.  

Insgesamt gibt es klare Anzeichen für eine stärkere und dauerhafte Verlagerung von unternehmerischen Risiken auf dauerhaft Beschäftigte, flexibel Beschäftigte und Zulieferer beziehungsweise Dienstleister. Innerhalb der Unternehmen finden sich zunehmend projektartige Organisationsformen und quasi-unternehmerische Elemente, von "Intrapreneurship" ist die Rede. Dienstleistungs- und Projektbeziehungen nehmen sowohl innerhalb als auch zwischen Unternehmen weiter zu, es entsteht eine "Projektwirtschaft".  

Die Flexibilisierung sowohl innerhalb der Unternehmen als auch in den Außenbeziehungen scheint mit einer stärkeren Arbeitsbelastung durch Arbeitsverdichtung einherzugehen. Allerdings entsprechen die tatsächlichen Belastungen durch die Entgrenzung der Arbeitswelt nicht vollständig der aktuellen Problemwahrnehmung. Eins ist klar: Derzeit nimmt die Sensibilität für die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zu, und zwar in stärkerem Maße als die gemessenen und berichteten Belastungen selbst. Flexiblere Arbeitswelten folgen allerdings nicht nur betrieblichen Erfordernissen, sondern sind oft auch im Interesse der Erwerbstätigen, die damit familiäre und private Bedürfnisse besser vereinbaren können.


Ein Blick in die Zukunft: "Subjektivierung" der Arbeit?


Was ist vor diesem Hintergrund für die Zukunft zu erwarten? Vor allem dies: Angesichts leicht nutzbarer flexibler Beschäftigungsoptionen, weiter fortschreitender Globalisierung, technologischer Innovation und des wachsenden Dienstleistungssektors müssen wir weiterhin mit einer Verstärkung des Wettbewerbsdrucks zwischen den Unternehmen, aber auch zwischen verschiedenen Gruppen von Erwerbstätigen rechnen. Das bedeutet auch eine stärker marktorientierte, sprich an Angebot und Nachfrage ausgerichtete Gestaltung der Beziehungen im Produktionsprozess. Dazu gehören zum Beispiel projektbezogene Verträge und Entgeltsysteme oder eine weitere Verdichtung, Vernetzung und Beschleunigung der betrieblichen Abläufe.  

Ökonomische Risiken werden stärker auf die Beschäftigten verlagert, der Arbeitsmarkt ist weiterhin flexibel. Im selben Maß werden sich auch die Marktverhältnisse stärker auf die Arbeitsbedingungen und hier vor allem auf Entlohnung und Beschäftigungsstabilität des Einzelnen auswirken. In diesem Sinne ist es durchaus zutreffend, von einer Logik des "Arbeitskraftunternehmers" zu sprechen, so wie die Soziologen G. Günter Voß und Hans J. Pongratz schon 1998. Wer dank Aus- und Weiterbildung und Berufserfahrung über stark nachgefragte Qualifikationen und damit über eine starke Marktposition verfügt, kann bessere Arbeitsbedingungen erwarten. Damit gehen in vielen Bereichen, vielleicht aber nicht allen, auch höhere Anforderungen an die Eigenverantwortung der Individuen einher. Das kann man mit G. Günter Voß und Manfred Moldaschl als "Subjektivierung" der Arbeit verstehen.  

Von einem weiteren und unumkehrbaren Wachstum der atypischen Beschäftigung in Kernbereichen des Arbeitsmarktes können wir jedoch nicht unbedingt ausgehen. Angesichts von Fachkräfteengpässen werden auch Bestrebungen von Arbeitgebern wichtiger, gesuchte Fachkräfte längerfristig ans Unternehmen zu binden und betriebsspezifisches Wissen aufzubauen - wobei diese für die Unternehmen zentralen Kompetenzen auch intensiver genutzt werden. Fachkräfte erhalten dafür jedoch eine größere Verhandlungsmacht hinsichtlich Gehalt, Arbeitszeiten und anderen Arbeitsbedingungen.  

Weiterhin können wir damit rechnen, dass es in bestimmten Teilbereichen des Arbeitsmarktes auch zu Schritten der gesetzlichen oder tarifvertraglichen Re-Regulierung kommen wird. Das ließ sich in der jüngeren Vergangenheit bereits im Bereich der Zeitarbeit und der sektoralen Mindestlöhne beobachten. Damit werden bestimmte Flexibilitätsformen tendenziell begrenzt, und in der Reaktion darauf werden andere Formen an Bedeutung gewinnen.  


Zitate


"85 Prozent der befragten Beschäftigten, die häufig in hoher Geschwindigkeit arbeiten und Stress am Arbeitsplatz erleben, sind mit ihrer Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden." Werner Eichhorst, Verena Tobsch: Flexible Arbeitswelten

"Derzeit nimmt die Sensibilität für die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zu, und zwar in stärkerem Maße als die gemessenen und berichteten Belastungen selbst." Werner Eichhorst, Verena Tobsch: Flexible Arbeitswelten

 

changeX 28.03.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Werner Eichhorst
Eichhorst

Dr. Werner Eichhorst ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik Europa am IZA - Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Verwaltungswissenschaften und promovierte 1998 an der Universität Konstanz. Bis 2004 war er Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung, dann am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg tätig. 2005 kam er ans IZA, wo er von 2007 bis 2013 Stellvertretender Direktor Arbeitsmarktpolitik war. Er ist Mitglied der Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann Stiftung.

Autorin

Verena Tobsch
Tobsch

Verena Tobsch ist Gründerin des Instituts für Empirische und Aktuelle Wirtschaftsforschung E·x·AKT in Berlin. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre war sie bis 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Personalwesen und Internationales Management der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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