Kleinbeigeben gilt nicht

Albtraum der Mittelschicht: Worst Case von Marita Vollborn und Vlad Georgescu.
Text: Jost Burger

Zwei, die ganz unten waren, schreiben von ihrem langen Weg zurück nach oben. Und rücken nebenbei das selbstgerechte Bild von der harten, aber gerechten Sozialgesetzgebung zurecht. Ihre Lehre: Nur nicht aufgeben. Kleinbeigeben gilt nicht.

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Dies Buch soll Mut machen. Mag ja sein, aber zunächst macht es furchtbar Angst. Denn es erzählt, in allen schrecklichen Details, die Geschichte vom Schlimmsten, das einem erfolgreichen Mitglied der Mittelschicht widerfahren kann: der Verlust von Einkommen, sozialem Ansehen und einer gesicherten Zukunft. Der Eintritt des Worst Case.
Aber gut: Es ist auch die Geschichte eines erstaunlichen Comebacks. Immerhin sind Marita Vollborn und Vlad Georgescu mittlerweile wieder erfolgreiche Journalisten und Buchautoren. Doch zuvor lernten sie die bittere Wahrheit einer Hartz-IV-Existenz kennen. So nimmt denn auch die Schilderung des eigenen Abstiegs, dem das Paar nach dem Platzen der New-Economy-Blase machtlos zusehen musste, den größten Raum in diesem Buch ein. Erfolg versprechende Onlineportale machten Pleite, Auftraggeber hatten kein Budget mehr für freie Autoren, Printmedien mussten Anzeigenverluste ausgleichen. Vorbei das schöne Leben mit teuren Urlaubsreisen samt Kindern, ade Maultaschen mit Hummerfüllung und Schampus. Und das, wo man gerade ein Haus gekauft hatte. Die Jahre nach dem Jahrtausendwechsel bestanden für Vollborn und Georgescu aus demütigenden Behördengängen, dem Verlust von vermeintlichen Freunden und der bitteren Erkenntnis, dass Kinder von Sozialhilfeempfängern ganz schnell kein Umgang mehr für den örtlichen Honoratiorennachwuchs sind.


Kleinbeigeben gilt nicht.


Umso beeindruckender die Hartnäckigkeit, mit der die ins Unglück Gestürzten sich ihrem Schicksal stellen. Der Glaube an Chancengleichheit, Solidarität, Demokratie gar geht zwar weitgehend verloren. Doch Kleinbeigeben gilt nicht. „Versuche alles, erwarte nichts und kämpfe trotzdem“: Diesen Rat geben die Autoren Menschen in ähnlicher Lebenslage. Man könnte auch sagen: Hier schreiben zwei Enttäuschte, zwei bis in die Grundfesten Erschütterte, die dennoch einfach immer weitermachen.
Eine detailreiche Anleitung, wie das Leben als Hartz-IV-Empfänger zu meistern sei, kann das Buch vielleicht auch deshalb nicht sein. Zwar werden Besitzer von Wohneigentum den Erzählungen, wie selbiges vor der Verwertung gerettet wurde, interessiert folgen. Wer die Kompetenz von Hartz-IV-Sachbearbeitern immer anzweifelte, sieht sich bestärkt, liest er von den erfolgreichen Rechtshändeln mit „dem Amt“ und mag so vorsorglich schon einmal Mut schöpfen für drohende Auseinandersetzungen mit kalten und – Gott sei’s geklagt – unwilligen bis unfähigen Sachbearbeitern. Doch entscheidend ist der Grundtenor des Buches: Du kannst es schaffen. Du darfst nur nicht aufhören zu kämpfen. Du musst an dich glauben. Klingt amerikanisch? Natürlich. Nichts anderes als amerikanische Verhältnisse hat die Agenda 2010 ja in Deutschland eingeführt.


Pflichtlektüre für Arbeitslosenverächter.


Zumindest könnte man das denken, glaubte man nur diesem Buch. Denn neben der persönlichen Geschichte der Familie Vollborn/Georgescu sieht sich der geneigte Leser immer wieder seitenlangen Philippiken gegen Deutschlands verfehlte Sozialpolitik, das menschenfeindliche Gesundheitswesen und die katastrophale Bildungspolitik ausgesetzt. Ganz erschlagen ist man von dem Horrorszenario, das hier ausgebreitet wird und das alles enthält, wovor sich ein tapferes Mitglied der Mittelschicht fürchtet. Doch das ist wohl der Clou des Buches. Weil hier Menschen aus der vermuteten Peer Group der Leserschaft schildern, was sozialer und wirtschaftlicher Abstieg bedeuten, bekommt „die ganze Hartz-IV-Problematik“ eine Stimme, die auch die Mittelschicht versteht – und der sie auf einmal zuhört. Richtig frischer Wind kommt in die schal gewordenen Vorwürfe. Kritik an der aktuellen Sozialgesetzgebung ist plötzlich keine Sache linker Spinner und weltfremder Gutmenschen mehr. Plötzlich scheint es nicht mehr so naiv, auf den Skandal hinzuweisen, dass in einem der reichsten Länder der Welt Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen sind. Es ist wahrlich zu wünschen, dass all die Menschen, die aus der Sicherheit ihrer Jobs Hartz-IV-Empfänger verachten, dieses Buch in die Hände bekommen. Für Politiker vom Schlage eines Thilo Sarrazins sollte es Pflichtlektüre werden.
Dieses Buch soll Mut machen. Das tut es auch. Aber nicht denjenigen, die sich eine Veränderung der Verhältnisse erhoffen. Dazu rufen die Autoren nicht auf – wohl, weil sie dieser Möglichkeit keine Chance geben. Ihr Fazit: In einer entsolidarisierten Gesellschaft muss jeder sehen, wo er bleibt. Und das bedeutet, zu kämpfen, allen bekannten Ungerechtigkeiten zum Trotz. Denn Jammern gilt nicht.


changeX 05.11.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Worst Case. Unser ganz erstaunliches Comeback nach Jobverlust und Sozialabstieg. Carl Hanser Verlag, München 2009 2009, 236 Seiten, ISBN 978-3-446-41953-7

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Autor

Jost Burger
Burger

Jost Burger ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.

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