Reingelesen Frühjahr 2019
Unser Bücherstapel im Frühjahr 2019
Hier unsere Frühjahrs-Bücherliste mit wiederum elf Kurzrezensionen aktueller Titel aus den Wirtschafts- und Sachbuchprogrammen der Verlage - querbeet durch Themen und Disziplinen. Im Mittelpunkt stehen dieses Mal Titel über neue Formen der Zusammenarbeit in Organisationen, über Unternehmenstransformation und Agilität. Auch geht es um Sinn, um Zweifel, um Methoden und Methodengläubigkeit, um Organigramme und auch um unsichtbare Arbeit. Nicht zuletzt richtet sich der Blick auf eine gewaltige Demokratielücke in der freiheitlichen Gesellschaft. Eine Lücke, in der die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht gelten: nämlich die Unternehmen und Organisationen, in denen sich feudale und vordemokratische Strukturen gehalten haben. Auswahl und Texte: Winfried Kretschmer © Coverabbildungen: Verlage BusinessVillage, Econ, GABAL, Murmann Publishers, Picus, Springer Gabler, Suhrkamp, Wiley-VCH
Elizabeth Anderson:
Private Regierung.
Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden); aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 259 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 9783518587270
Im Privatleben entscheiden die Menschen selbstverantwortlich, in Organisationen aber unterliegen sie mehr oder minder rigider Anweisung und Kontrolle. Auf diesen offensichtlichen Bruch im Freiheitsverständnis moderner Gesellschaften haben Kritiker der herrschenden Form der Unternehmensorganisation vielfach hingewiesen. Aber in der Öffentlichkeit, im politischen Diskurs vor allem, wird über diese Diskrepanz so gut wie nie geredet. Wird stillschweigend akzeptiert, dass Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen beim Eintritt in Organisationen enden. Das könnte sich nun ändern. Die amerikanische politische Philosophin Elizabeth Anderson widmet ihr neues Buch diesem Thema. Sie fordert ein radikales Überdenken des Verhältnisses zwischen privaten Unternehmen und der Freiheit und Würde von Arbeitnehmern. Anderson: "Die meisten modernen Betriebe sind private Regierungen." Mehr noch: Es sind "kommunistische Diktaturen in unserer Mitte". Es ist zu hoffen, dass die Inseln der Unfreiheit mitten in unseren Gesellschaften endlich zum Thema werden. Nicht nur im engeren Zirkel der Unternehmensdemokraten.
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Anne M. Schüller, Alex T. Steffen:
Die Orbit-Organisation.
In 9 Schritten zum Unternehmensmodell für die digitale Zukunft.
GABAL Verlag, Offenbach 2019, 312 Seiten, 34.90 Euro (D), ISBN 978-3-86936-899-3
Im letzten Buch war es noch ein einfaches Schaubild mit vier konzentrischen Ringen: die Idee, die Anmutung einer Unternehmensorganisation für morgen. Jetzt ist daraus ein ausgefeiltes Modell geworden: die Orbit-Organisation von Anne Schüller und Alex T. Steffen. Gleich geblieben ist die Grundidee: Im Zentrum steht der Sinn, der Purpose des Unternehmens. Geblieben sind auch die konzentrischen Ringe, sie haben sich nur aufgefächert in neun Elemente, die zugleich die neun Aktionsfelder der Unternehmenstransformation bilden - entsprechend den neun Kapiteln des Buches. Wesentlich dabei: "Es ist das erste Organisationsmodell, das den Kunden systematisch in den Mittelpunkt stellt", so die Autoren. Und zugleich das erste, das "die zunehmend notwendigen Brückenbauer-Rollen" gezielt integriert. Denn es geht um einen Übergang. Darum, bislang Separiertes zusammenzuführen.
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Emanuel Koch:
Die positive Kraft des Zweifelns.
Unsicherheit als Erfolgsfaktor.
Econ Verlag, Berlin 2019, 256 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-430202701
Zweifel gelten nicht viel in unserer Gesellschaft. Gegen diese Geringschätzung des Zweifelns wendet sich Emanuel Koch, Informatiker, Musiker, Business-Redner, Unternehmensberater und bekennender Zweifler. Zweifel haben ihn sein Leben lang begleitet, und er hat gelernt, ihre positive Kraft zu erkennen. In seinem Buch dekliniert er die Macht des Zweifels durch, immer nah dran am Leben. Es ist kein philosophisches Buch, auch wenn Descartes (natürlich) drin vorkommt. Sondern eines, das aus Lebenserfahrung und eigenen Recherchen schöpft. Kochs These: "Zweifeln ist eine Kompetenz für die echten Herausforderungen des Lebens." Mehr noch: "Der professionelle Umgang mit Zweifeln wird in der modernen Welt immer wichtiger." Zu einem zentralen Punkt kommt der Computerexperte dann auf Seite 176: "Computer zweifeln nicht." Sie bringen damit eine fundamentale Voraussetzung für Intelligenz nicht mit, so Koch. Zum Problem wird das dann, "wenn es kein Korrektiv mehr gibt, das im Zweifel eingreifen" und den binären Maschinenmodus "von ‚an‘ auf ‚aus‘ schalten kann". Eines der wichtigsten Argumente in der Debatte um die sogenannte künstliche Intelligenz.
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Stephanie Borgert:
Die kranke Organisation.
Diagnosen und Behandlungsansätze für Unternehmen in Zeiten der Transformation.
GABAL Verlag, Offenbach 2019, 264 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-86936-900-6
Methodengläubigkeit ist auch ein Thema im neuen Buch von Stephanie Borgert. Methodengläubigkeit sei, schreibt sie, sei "eine Organisationszwangsstörung, die den Menschen oft nicht bewusst ist". Hier wird die feine Unterscheidung deutlich, die die Autorin trifft: Wenn Borgert von der kranken Organisation spricht, dann meint sie die Organisation als System, nicht die beteiligten Menschen. Zehn solcher organisationaler Erkrankungen führt Borgert an (von der Besprechungsdiarrhö über die Führungsschizophrenie bis zum Kontrollzwang) und erläutert unter dem Punkt "Vorsorge" dann recht anschaulich, worauf es in Organisationen wirklich ankommt. Auch wer die Krankheitsmetapher nicht so mag, wird in dem Buch zahlreiche feine Einsichten finden. Zum Beispiel Selbstorganisation: "Selbstorganisation existiert einfach, als Eigenschaft jedes komplexen Systems" - nur: "Wir fesseln und knebeln sie mit ‚Management by irgendwas‘ und zu viel Kontrolle."
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Heinz-Walter Große, Bernadette Tillmanns-Estorf:
Tasks & Teams.
Die neue Formel für bessere Zusammenarbeit.
Murmann Publishers, Hamburg 2018, 184 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-867746229
Vor 14 Jahren schon hat sich das Medizintechnik- und Pharmaunternehmen B. Braun in Melsungen vom klassischen Planungsprozess verabschiedet. Und hat nun eine grundlegende Neuorganisation der Firma ins Werk gesetzt. Mit einem großen Wumm: "Wir haben das Organigramm gesprengt." Weil Organigramme Abläufe behindern. Davon ist Heinz-Walter Große überzeugt. Zusammen mit der Kommunikations- und HR-Chefin Bernadette Tillmanns-Estorf hat der Vorstandsvorsitzende die Firma neu organisiert. Nach einem simplen Prinzip: "Es gibt einen Task, eine Aufgabe. Und es gibt ein Team, das diese Aufgabe übernimmt." Aber es gibt "keine starren Zuordnungen und Silos mehr". Je nach Art der Aufgabe gibt es drei unterschiedliche Formen von Teams: Kernteams, permanente Teams und kurzzeitige Teams. Diese Struktur konkretisiert sich in Circles, die sich um definierte Themen bilden und diese selbstorganisiert bearbeiten. Das Buch präsentiert ein durchdachtes Konzept der Unternehmensorganisation, das zudem sehr anschaulich aufbereitet ist.
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Svenja Hofert, Claudia Thonet:
Der agile Kulturwandel.
33 Lösungen für Veränderungen in Organisationen.
Verlag Springer Gabler, Wiesbaden 2019, 218 Seiten, 39.99 Euro (D), ISBN 978-3-658-22171-3
"Agil ist in der letzten Zeit etwas in Verruf gekommen." Aussagen seien zu hören wie: "funktioniert nicht", "die Teams hören nach kurzer Zeit mit dem agilen Arbeiten auf"; "bringt nichts". Mit dieser ernüchternden Diagnose beginnt das neue Buch von Svenja Hofert und Claudia Thonet. Es ist der dritte Teil einer agilen Trilogie. Nach Agiler führen und Das agile Mindset, den beiden Vorgängerbüchern von Svenja Hofert, ist nun der dritte Band erschienen - und er liefert im Grunde die Erklärung für die diagnostizierte Krise der Agilität: Es reicht nicht, agile Methoden einzuführen. "Methoden ohne Mindset … sind wertlos. Es braucht … einen Kulturwandel, der das Mindset ausbildet." Das Buch bietet 33 Lösungsansätze für Veränderungen in Organisationen. Die Lehre ist aber: Nicht den Trends hinterherhecheln. Sondern eigene Wege gehen. Dabei iterativ vorgehen. Und auf den Begriff agil verzichten, wenn er verbrannt ist. Kurz: "Haben Sie Geduld, gehen Sie langsam."
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Martin Bartonitz, Veronika Lévesque, Thomas Michl, Wolf Steinbrecher, Cornelia Vonhof, Ludger Wagner (Hg.):
Agile Verwaltung.
Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann.
Verlag Springer Gabler, Berlin 2018, 270 Seiten, 49.99 Euro (D), ISBN 978-3-662576984
Dieser Buchtitel klingt wie ein ironischer Kommentar zum Agilitätshype: Muss jetzt auch noch die Verwaltung agil werden? Denn ähnlich wie die Rechnungsprüfung in Unternehmen ist auch die Verwaltung in erster Linie an Verlässlichkeit und Stabilität orientiert. Dennoch haben viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung enormen Nachholbedarf, was zeitgemäße Strukturen und Prozesse anbelangt. Dieses Buch zeigt, warum sich die öffentliche Verwaltung agilen Denk- und Arbeitsweisen öffnen sollte. Entscheidend: Komplexität macht nicht vor den Türen von Ämtern und Behörden halt. Auch die Verwaltung sieht sich mit unerwarteten und komplexen Herausforderungen konfrontiert, die mit den bestehenden Strukturen und Prozessen nicht zu bewältigen sind. Und Planung erweist sich immer weniger als ein verlässlicher Kompass für die Arbeit der Administrative. Also wird sich die öffentliche Verwaltung agilen Denk- und Arbeitsweisen öffnen müssen, so die zentrale These. Es geht um die Zukunftsfähigkeit der Verwaltung.
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Markus Czeslik:
Die Autonomie-Lüge.
Warum wir gerade in agilen Zeiten konsequente Führung brauchen.
Verlag BusinessVillage, Göttingen 2018, 240 Seiten, 29.95 Euro (D), ISBN 978-3-869804187
Agilität, das ist das Versprechen, dass sich durch dezentrale Verantwortung, maximale Vernetzung bei gleichzeitiger Auflösung von Hierarchien die organisationalen Probleme in Luft auflösen. Die Idee aber, Führung neu zu denken, mündete in deren schrittweiser Abschaffung. Markus Czeslik wendet ein: Moderne Organisationsformen brauchen mehr statt weniger Führung. Eine Führung, die Verantwortungsübernahme konsequent einfordert, die Orientierung gibt und die Sinn stiftet. Doch: "Die Bejahung der Führung muss dabei aber keine uneingeschränkte Bejahung der Hierarchie bedeuten", so der Autor. "Es schälen sich Mischformen heraus, Übergangslösungen, bei denen die Interessen und Rollen von Mitarbeitern und Führungskräften immer wieder neu verhandelt werden."
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Susanne Klein:
Kein Mensch braucht Führung.
Mehr Erfolg durch Selbstverantwortung.
GABAL Verlag, Offenbach 2019, 256 Seiten, 29.90 Euro (D), ISBN 978-3-86936-903-7
Menschen können eine ganze Menge. Sie schließen Verträge, setzen sich Ziele, managen Vereine, bauen Häuser - "das alles können wir, ohne dass uns jemand führt", schreibt die Führungscoachin Susanne Klein. Sobald Menschen aber in Organisationen eintreten, wird ihnen im Detail vorgeschrieben, was sie zu tun und zu unterlassen haben, wie sie etwas tun und welche Ziele sie verfolgen sollen. Klein aber sagt: Kein Mensch braucht Führung. Und rückt damit den individuellen Aspekt ins Zentrum. Aber natürlich gibt es auch die organisationale Seite. Organisationen brauchen Führung. Deshalb gibt es auch in Kleins Organisationsmodell eine Unternehmensleitung, zwei bis vier Personen vielleicht. Aber es gibt kein mittleres Management. Stattdessen Selbstverantwortung, Selbstorganisation und - weil Selbstreflexion so wichtig ist - Coaching als institutionalisierte Hilfestellung dazu. Das Buch versteht sich als Ideensammlung für eine neue Form der Zusammenarbeit. Die zentrale These ganz kurz: "Die traditionelle Führung hat ausgedient. Menschen streben nach einer anderen Form des Zusammenarbeitens und des Zusammenwirkens."
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Sabine Dietrich:
Jedes Jahr eine neue Sau.
Wie Manager den Methodenwahn durch Souveränität ersetzen.
Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2019, 250 Seiten, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-527-50971-3
Die Sau, die durchs Dorf getrieben wird - Sabine Dietrich, nach 20-jähriger Managementerfahrung nunmehr zehn Jahre als selbständige Beraterin tätig, hat dieses Bild gewählt, um die aktuellen Hypes um Agilität und Unternehmenstransformation zu beschreiben. Die Autorin analysiert in ihrem Buch, wie und warum sich Unternehmen immer wieder blind in neue Methoden treiben lassen. Dazu ordnet das Buch die aktuellen Hypes in den Kontext der Managemententwicklung seit dem Beginn der Managementmoden gegen Ende der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein. Drei Faktoren sind für Dietrich ausschlaggebend: die Methodengläubigkeit des Managements, seine Fixierung auf jeweils eine Methode verbunden mit der Hoffnung, dass die dann auch hält, was sie verspricht. Es geht also um die blinden Flecken des Managements und seine unhinterfragten Grundannahmen. Da ist vieles gut beobachtet und wird garniert mit zahlreichen Anekdoten aus der Praxis beschrieben. Aber dem Buch hätte eine klarere Ausarbeitung der Thesen gutgetan. Dennoch hält der Titel zahlreiche Anregungen bereit.
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Robert Misik, Christine Schörkhuber, Harald Welzer:
Arbeit ist unsichtbar.
Die bisher nicht erzählte Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeit.
Picus Verlag, Wien/New York 2018, 240 Seiten, 24 Euro (A), ISBN 978-3-7117-2068-9
"Das Wesentliche an der Arbeit ist unsichtbar." Das ist der Kerngedanke einer Ausstellung über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Arbeitswelt, kuratiert von Harald Welzer (wissenschaftliche Leitung) und Robert Misik (redaktionelle Leitung). Zu der Ausstellung im Museum Arbeitswelt Steyr gibt es nun ein Buch, das mehr ist als ein bloßer Katalog. Es ist eine Fundgrube an Dokumenten und Einsichten zur Arbeit. Und es eröffnet eine neue Perspektive auf den Gegenstand, es erzählt die Geschichte der unsichtbaren Arbeit. Diese umfasst "all das, was auch mit Arbeit verbunden ist: Motivation, Angst, Statusgewinn, Eigensinn, der Stolz auf Fertigkeiten oder auch das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Kollegenschaft, der Stress und die Überforderung". Diese unsichtbare Geschichte handelt auch davon, wie Menschen ihre Arbeit mitgestalten, und von den Handlungsspielräumen, die sich ihnen trotz aller Anweisung und Kontrolle bei der Arbeit eröffnen. Und sie handelt vom Gefühl, das immer mit Arbeit verbunden ist. Zugespitzt: "Arbeit ist nur ein Gefühl."
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