Big Brother lebt
Die Überwachungs-Mafia - das neue Buch von Pär Ström.
Von Nina Hesse
Haben wir ein Recht auf Privatsphäre oder Anonymität? Oder müssen wir sie im Namen der Sicherheit und der digitalen Gesellschaft opfern? Pär Ström warnt vor dem Trend des ungehemmten Datensammelns und schlägt einen neuen Kodex vor. Denn die Nachteile einer rundum überwachten Gesellschaft für den Einzelnen sind erschreckend.
Die Angst vor totaler Überwachung ist tief verwurzelt. Kaum jemand, dem es bei der Lektüre von Orwells 1984 nicht kalt den Rücken herunterläuft. Den Wenigsten ist klar, wie nah diese Horrorvision an der heutigen Wirklichkeit ist. "Wir sind dabei, eine Spitzel- und Schnüffel-Gesellschaft zu schaffen - eine Gesellschaft, in der gigantische Datenmengen angehäuft werden", kündigt Pär Ström in Die Überwachungs-Mafia an. In der immer stärker digitalisierten Welt ist es leicht, Informationen einzusammeln und zu speichern - all diese Daten sind potenziell wertvoll, werden schon jetzt zum Teil genutzt und rufen bei vielen Stellen Begehrlichkeiten hervor. Besonders in den USA, in der die Datenschutzgesetze lax sind, wird der Datenabgleich so offensiv betrieben, dass Scott McNealy, der Konzernchef von Sun Microsystems, verkündet hat: "Die Privatsphäre gibt es sowieso nicht mehr - damit muss man sich halt abfinden!"
Durch das eingeschaltete Handy, Zahlungen mit EC- oder Kreditkarte und Kameraüberwachung auf den Straßen kombiniert mit automatischer Gesichtserkennung verraten wir unseren Aufenthaltsort, durch Kundenkarten unsere Lebens- und Essgewohnheiten, durch jeden Mausklick hinterlassen wir einen digitalen Fingerabdruck und Hinweise auf unsere Interessen und Aktivitäten. Kommen wie geplant auch noch SmartCash im Nahverkehr, biometrische Merkmale im Pass und RFID-Etiketten in der Kleidung und auf allen möglichen anderen Gegenständen hinzu, dann ist der Alltag endgültig gläsern, die letzten Spuren der Anonymität verschwinden.
"Das Ausmaß der Kontrollen und der Verletzung der Persönlichkeitsrechte steht in keinem ausgewogenen Verhältnis zum potenziellen Nutzen mehr", kritisiert Ström. Er sieht die ungebremste Datensammelwut mit Besorgnis: "Je mehr und je größere elektronische Archive wir schaffen, desto größer ist auch das Risiko für unerwartete negative Folgen."

Leben im Glashaus.


Ström hat eine Vielzahl von Beispielen aus allen Lebensbereichen und Ländern gesammelt, die erschreckend dokumentieren, wie sehr wir schon im Glashaus leben, und was das bedeuten kann. Das fängt bei der Wirtschaftsspionage über das System Echelon an und hört bei neuer Lügendetektor-Software, die bei Telefongesprächen mithört und Aussagen bewertet, noch lange nicht auf. Viele von Ströms Beispielen sind bereits bekannt, sie stammen aus der internationalen Presse - doch erst dadurch, dass Ström sie zusammenführt, analysiert und durch fiktive "Was-wäre-wenn"-Fälle ergänzt, werden das gruselige Gesamtbild und der allgemeine Trend deutlich.

  • In Großbritannien, wo inzwischen ganze Stadtviertel flächendeckend kameraüberwacht werden, passierte es einem Mann, dass sein Selbstmordversuch aufgezeichnet wurde. Der Betreiber verkaufte die Bilder ans Fernsehen, wo sie in einer Boulevardsendung verwertet wurden - der Mann, inzwischen wieder genesen, erlitt einen Schock.
  • In den USA werden Kundenkarten-Daten aus Supermärkten zu "Essprofilen" zusammengeführt, um Terroristen auf die Spur zu kommen. Und die "schwarzen Listen" von Flugpassagieren, die auf der automatischen Einstufung der Software Secure Flight beruhen, machen so manchem das Leben zur Hölle. Das Problem: Wer vom Programm als Sicherheitsrisiko abgestempelt ist, hat kaum eine Möglichkeit, den Grund zu erfahren oder sich wieder von der Liste entfernen zu lassen. Er muss seine Unschuld beweisen statt umgekehrt - die Prinzipien des Rechtsstaats werden ad absurdum geführt.
  • Eine amerikanische Autovermietung hat die Black Box plus GPS in ihren Wagen schon dazu genutzt, die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zu überwachen und dem Kunden bei Überschreitungen automatisch Bußgelder von mehreren hundert Dollar aufzubrummen - die die Vermietung selbst kassierte. Der Hinweis auf dieses System war geschickt im Kleingedruckten des Vertrags versteckt. Ein schönes Beispiel dafür, wie das Leben in einer Überwachungsgesellschaft mit "allgegenwärtigem Gesetzesvollzug" aussehen könnte. Black Boxes sind übrigens in neuen europäischen Automodellen schon Standardausstattung; oft ist das dem Käufer nicht bewusst. In Irland wird zurzeit ein System eingeführt, bei dem die Black Box automatisch die Fahrdaten der letzten 20 Sekunden vor einem Unfall des betreffenden Wagens via Mobilfunknetz an die Polizei und die Versicherungsgesellschaft des Fahrers funkt.

Manche dieser Fälle wären in Deutschland nicht möglich; doch auch hier weicht das Datenschutzgesetz zunehmen auf, die Datensammler werden dreister.

Der Computer als Spion.


Besonders viele Datenspuren hinterlässt natürlich, wer den Computer benutzt. "Was der Surfer während eines Internetbesuchs ansteuert und eingibt, wird häufig in Protokolldateien und Datenbanken langfristig gespeichert", gibt Ström zu bedenken. Inzwischen gibt es Methoden, diese Daten mit der Identität des Surfers zu verknüpfen. Selbst die treue Suchmaschine Google hat ihre Nachteile: Digitale Informationen über Personen bleiben buchstäblich "kleben" und stehen zum Teil jahrzehntelang im Netz, so dass Jugendsünden einen unter Umständen noch lange verfolgen. Und in Frankreich gab es den Fall, dass jemand, der sich an der Chefin eines Unternehmens rächen wollte, unter ihrem Namen rechtsradikale Hetze in eine Newsgroup gestellt hatte. Sie sah sich gezwungen, sich bei Kunden und Geschäftspartnern für den Eintrag zu rechtfertigen, und schaffte es nur unter größten Schwierigkeiten, ihn entfernen zu lassen.
Noch mehr Pech hat, wer sich einen "Web Bug" einfängt (winzige Bilder, nur ein Pixel groß, die sich auf Websites, in Mails oder Dokumenten verbergen): Die Wanze folgt dem Surfer von Website zu Website und erstellt dabei ein umfangreiches Verhaltensprofil. Hinzu kommt schnüffelnde Software: Der Windows Media Player zum Beispiel neigt dazu, über das Netz automatisch Kontakt zu Microsoft aufzunehmen und Informationen über die gerade gespielte Musik oder DVD zu senden.
Noch schlechter ist, wenn ein übelwollender Zeitgenosse einem eine Spyware oder einen Trojaner auf den Computer geschmuggelt hat, die jeden Tastenanschlag protokollieren und petzen. Hat der PC Webcam und Mikro, dann kann der Übeltäter den Nutzer sogar mit Bild und Ton überwachen. Wer mit dem Staat auf gutem Fuß steht und keine Feinde hat, den lässt dieses Szenario vielleicht kalt. Aber ein hasserfüllter Ex-Partner mit Technik-Know-how kann das Leben schnell zum Alptraum werden lassen. Ebenso ein Hacker, der die Kreditkartennummer abgreift und den Namen seines Opfers für illegale Aktivitäten weiterverwendet.
Auch für Mitarbeiter in Unternehmen ist der Spitzel-Trend kein Segen: Inzwischen gibt es sogar Software, die illoyales Verhalten ermittelt. Sie protokolliert nicht nur die besuchten Websites, sondern auch die Anzahl der Tastenanschläge pro Tag und die Arbeitspausen - manche Programme sammeln auf Wunsch externe Angaben über das Privatleben der Mitarbeiter hinzu.

Keine Panikmache.


Trotz der düsteren Visionen, die Ström ausmalt, ist er kein Panikmacher, Technikfeind oder Fan von verqueren Verschwörungstheorien. Sein Ton bleibt immer fair und ausgewogen, seine Argumente bleiben klar und nachvollziehbar. Auch sein Umgang mit Informationen ist erfreulich. Statt - wie so manche halbseidenen Autoren - eine eindeutige Wahrheit zu verkünden, weist er immer wieder auf Unsicherheitsfaktoren oder Quellen hin, die er nicht nachprüfen konnte. Wenn er an einer Stelle auf Spekulationen angewiesen ist, betont er auch das.
Wer ist denn nun die titelgebende "Überwachungs-Mafia"? Die gute Nachricht: Eigentlich gibt es eine solche Mafia nicht. Es sind ganz gewöhnliche Unternehmen und Regierungen, die der Datensammelwut frönen. Dahinter steckt oft keine böse Absicht - aber die Folgen für die Bürger sind trotzdem potenziell oder de facto unerfreulich.
Nüchtern diskutiert Ström Vor- und Nachteile des Überwachungstrends. Die Hauptrisiken sind, dass wir immer stärker fremdbestimmt werden und unnormales Verhalten ausgegrenzt wird (oft werden die gesammelten Daten und Bewegungsprofile automatisch auf ungewöhnliches Verhalten gescreent, verhält sich jemand "abweichend", schlägt das System Alarm). Zudem ist die Rechtssicherheit bedroht, wenn man von einer Software "abgestempelt" werden kann und seine Unschuld mühsam beweisen muss.
Bei den Vorteilen schlagen Sicherheit, finanzielle Gründe und imaginäre "Gerechtigkeit" zu Buche - neben schlichter Bequemlichkeit sind das die Faktoren, die die Datensammelei vorantreiben. Doch kann man mit dem Thema Sicherheit wirklich alles rechtfertigen? Das immer wiederkehrende Argument der Datensammler ist, dass Menschen, die nichts zu verbergen hätten, sich ja keine Sorgen zu machen bräuchten. Aber was ist, wenn die Regierung selbst den Pfad der Demokratie verlässt? Allein im 20. Jahrhundert in Deutschland gibt es genug Beispiele dafür, dass der Staat nicht immer Recht hatte und man die Möglichkeit, ihm Widerstand zu leisten, nicht leichtfertig opfern sollte.

Ist der Trend noch zu stoppen?


Ström betätigt sich nicht ausschließlich als Schwarzseher. Immer wieder macht er Hoffnung, dass der Überwachungstrend noch umzukehren ist, dass sich die Entwicklung noch beeinflussen lässt. Ein großer Teil des Buches widmet sich seinen Vorschlägen dazu und seiner Argumentation für die Rettung der Privatsphäre: "Das Bedürfnis nach Anonymität ist nichts Verdächtiges, sondern im Gegenteil ein natürlicher Zustand, der Sicherheit verleiht." Er fordert einen klaren Verhaltenskodex für die Informationstechnologie und schlägt gleich einen vor - zehn simple, aber sehr einleuchtende Punkte. Beispiel: Ist das System vor Missbrauch geschützt? Ist es möglich, Auskunft über die gespeicherten Daten zu bekommen und falsche Infos korrigieren zu lassen?
Zum Glück gibt es laut Ström auch einige Faktoren, die diese Entwicklung zur Spitzel-Gesellschaft bremsen. Automatische Gesichtserkennung funktioniert längst nicht so gut wie geplant. Biometrische Methoden wie der Abgleich von Fingerabdrücken oder die Iriserkennung werden der Öffentlichkeit zwar als "absolut sicher" verkauft, lassen sich aber leicht austricksen (zum Beispiel mit einem Gelatine-Abguss des Fingers).
Als Trost zum Abschluss gibt's für den Leser noch ein paar Tipps, wie man sich vor Schnüfflern schützt. Leider: Die Lösungen sind fast alle technisch, und man braucht Wissen, Zeit und Energie, um sie einzusetzen. Bleibt also zu hoffen, dass Ströms Buch Bürger und Regierungen wachrüttelt und sein Kodex das angestaubte Datenschutzgesetz sinnvoll ergänzt.

Pär Ström:
Die Überwachungs-Mafia.
Das gute Geschäft mit unseren Daten.

Hanser Verlag, München 2004,
340 Seiten, 19.90 Euro,
ISBN 3-446-22980-9
www.hanser.de

Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.

© changeX Partnerforum [07.03.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


changeX 07.03.2005. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

hanser

Carl Hanser Verlag

Weitere Artikel dieses Partners

Einfach kompliziert

Warum wir es gerne einfach hätten und alles immer so kompliziert ist - das neue Buch von Peter Plöger zur Rezension

Die Biobastler

Biohacking - das neue Buch von Hanno Charisius, Richard Friebe, Sascha Karberg zur Rezension

Das verflixte Geld

Ausgezeichnet mit dem Deutschen Finanzbuchpreis 2013: Geld denkt nicht von Hanno Beck zur Rezension

Zum Buch

: Die Überwachungs-Mafia. . Das gute Geschäft mit unseren Daten. . Carl Hanser Verlag, München 1900, 340 Seiten, ISBN 3-446-22980-9

Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon

Autorin

Nina Hesse

nach oben