Der Welt neu und anders zuhören

Zuhören - das neue Buch von Bernhard Pörksen
Rezension: Winfried Kretschmer

Zuhören. Die Leute müssten einfach nur zuhören! Ein nachvollziehbarer Wunsch. Doch so einfach ist es nicht. Die Wurzeln liegen tiefer: in einem Denken, das sich im Abstrakten bewegt, und in einem Mediendiskurs, der vermeintliches Bescheidwissen und sofortiges Urteilen mit Aufmerksamkeit belohnt. Wo vorlautes Besserwissen und Schnell-schnell-Etikettierungen eine sorgsame Urteilsbildung in den Hintergrund drängen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sagt: Es gilt, neu und anders zuzuhören. Behutsam, mit Blick auf den Kontext und dem Bemühen um Genauigkeit.

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Hört doch endlich mal zu! Ein Appell, der umso dringlicher wirkt, je mehr die Dauererregung in den Sozialen Medien das gesellschaftliche Diskursklima bestimmt. Die Leute müssten einfach nur mal die Klappe halten und zuhören, heißt es dann, und das ist ein nachvollziehbarer Wunsch. Doch so einfach ist es nicht. Nicht nur, weil mit solch pauschalen Zuhör-Appellen zuvorderst die anderen gemeint sind. Der vermeintlich wohlmeinende Appell tritt auf im Gewand der Schuldzuweisung. HÖRT DOCH ENDLICH MAL ZU! - diese Formulierung sagt klar, wer die Schuld am Misslingen von Kommunikation trägt: natürlich die anderen. 

Und angenommen, alle würden zuhören, wäre dann alles gut? Oder hätten dann nur die Besserwisser, die Dauerquassler, die Narzissten endgültig die Oberhand gewonnen? Und: Müssen wir wirklich allen zuhören, immer für alle ein offenes Ohr haben? Oder ist das empathische Verständnis von Zuhören, das hier anklingt, einfach nur zu simpel und überbetont idealistisch? 

Offenbar ist es mit dem Zuhören nicht so einfach, wie es den Anschein hat. So schön, so notwendig wirkliches Zuhören auch sein mag, als Appell, Vorschrift oder Schuldzuweisung taugt es offenbar nicht. 


Die Gefahr des sofortigen Bescheidwissens und des vorschnellen Urteils


Damit ist das Thema des neuen Buchs des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen kurz umrissen. Zuhören heißt es schlicht und umkreist in drei Kapiteln und "in immer neuen Anläufen" die Gefahr des sofortigen Bescheidwissens und des vorschnellen Urteils. Es handelt vom Zuhören in seinen unterschiedlichen Formen und als Metapher für Offenheit. Und es handelt von der Freiheit, selbst zu entscheiden, wem man zuhören will, und von der Entscheidungsfähigkeit, die durch Zuhören erst möglich wird. Zuhören im weiteren Sinne steht dabei für eine Art der Zuwendung zur Welt: als Form der Wahrnehmung, als Erkenntnisprogramm. 

Das Buch steht für die These, dass ein anderes und differenzierteres Verständnis von Zuhören nötig ist. Es öffnet den Blick für unbeachtete Facetten des vermeintlich simplen Gegenstands. Und es macht deutlich, dass es unterschiedliche Formen des Zuhörens gibt und wendet sich damit gegen ein idealisierendes, naives Verständnis, das Zuhören an sich schon als empathischen Akt der Zuwendung zu anderen deutet. Diese beschönigende Beschreibung des Zuhörens - Pörksen spricht von der "formschönen Idee des Zuhör-Optimums" - ist die vorherrschende Sichtweise. Sie bestimme die "letztlich idealistische, hemmungslos moralisierende Literatur zum Thema", schreibt der Autor, der dem ein realistischeres Bild entgegenstellt. 

Seine Argumente gegen dieses vorherrschende empathische Verständnis von Zuhören lassen sich so zusammenfassen: Es gibt auch andere Formen des Zuhörens. Zuhören ist nicht an und für sich schon zugewandt und emphatisch, sondern kann auch Ich-fixiert sein und strategischen Zwecken folgen - der Autor spricht vom "Ich-Ohr-Zuhören" und vom "Du-Ohr-Zuhören" (das später genauer). Zuhören ist auch nicht unabhängig von unseren Interessen, Absichten und Zielen, sondern wird von ihnen beeinflusst. Oftmals hören wir nur das, was wir hören wollen. Zuhören unterliegt zudem denselben kognitiven Verzerrungen und wird geleitet und kanalisiert von übergeordneten Deutungsrahmen, die menschliches Wahrnehmen und Denken insgesamt prägen. Nicht zuletzt erweist sich die Bandbreite, die der Begriff abzudecken hat, als zu groß. Denn Zuhören ist immer konkret, weist aber als Metapher darüber hinaus. Der Begriff ist eng und weit zugleich. Zuhören ist in einem weiter gefassten Verständnis eine Metapher für Offenheit, für versuchte Akzeptanz und für die Annäherung an das Fremde, Unbekannte, (noch) nicht Verstandene. Im Kern geht es also um unser Verhältnis zur Welt und um deren Wahrnehmung.


Formen der Zuwendung zur Welt


Es sind zurechtgelegte Gewissheiten, vorgefertigte Meinungen und vorschnelle Urteile, die, eingebunden in prägende mentale Deutungsrahmen, das Zuhören blockieren. "Viel zu häufig existieren wir im Kokon unserer Vorurteile und im Fertig-System der reflexhaft geäußerten Meinungen, bestätigungssüchtig und darauf fixiert, zu hören, was wir hören wollen, unfähig, den anderen in seiner Andersartigkeit tatsächlich zu erkennen. Aber manchmal gelingt die Wahrnehmungsöffnung dann eben doch", schreibt der Autor. Wie sie gelingen kann und was es dafür braucht, davon handelt sein Buch. 

Pörksens weniger idealistisch-euphorische (also realistischere) These enthält ein erkenntnistheoretisches Argument und eines einer praktischen Philosophie des Zuhörens. Sie besagt zum einen, dass "man natürlich und auch in unbedingtem Streben nach Empathie an eigene Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlweisen gebunden bleibt", sich aber "je vielfältiger und komplexer diese Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlweisen entwickelt sind, … der Wirklichkeit des anderen zumindest anzunähern vermag". Zum anderen seien "im Akt des Zuhörens unvermeidlich eigene Interessen, verschiedenartige Tiefengeschichten, innere und äußere Widerstände unterschiedlichster Art im Spiel", die eine praktisch und pragmatisch interessierte Philosophie des Zuhörens analysieren sollte. Dabei gilt es, sehr genau hinzuschauen. 

Das hat freilich paradoxe Konsequenzen für den Begriff des Zuhörens. Zum einen erfordert dieses Genauer-Hinschauen eine mikrosoziologische Erforschung von Ereignissen und Tiefengeschichten, von Emotionen und Atmosphären, und es braucht Aufmerksamkeit für die Zwischentöne und das nicht oder nur andeutungsweise Gesagte. Man dürfe sich also "nicht nur von den lauten, spektakulären, mit Macht vorgetragenen Standpunkten faszinieren lassen", so der Autor. Zum anderen ist ein so verstandenes Zuhören "ein deutlich zu allgemeines, allzu umfassendes Wort für sehr unterschiedliche Formen und Varianten der Weltzuwendung". Es geht also um Wahrnehmung, um die Bedingungen von Erkenntnis und in letzter Konsequenz um Freiheit. Das ist die Spannweite des Begriffs. Ein anspruchsvolles Programm. Damit ist der Rahmen abgesteckt.


Kontext ist entscheidend


Und was bedeutet das nun für die Praxis des Zuhörens? Die Konsequenz ergibt sich unmittelbar aus der Differenziertheit der Betrachtung, die der Autor fordert: Deswegen gibt es keine Rezepte, keine allgemeingültigen Handlungsempfehlungen. Vielmehr braucht es maximale Präzision bei der Sichtbarmachung von Kontexten, so der Autor. Deren Bedeutung ist zu Recht oft schon betont worden. Kontext ist entscheidend. Das ist leicht gesagt. Doch Kontext ist nicht einfach da, sondern muss erarbeitet und erschlossen werden. Pörksens Buch zeigt die Dringlichkeit und Dimension dieser Aufgabe. Es brauche "dichte Beschreibungen", in denen "die Warnung vor der vorschnellen Verallgemeinerung und der pauschalen Abwertung unbequem erscheinender Standpunkte" (der zentrale Appell des Buchs) und die Form der Darstellung zur Deckung kommen. Gefordert sei ein "Ringen um die möglichst präzise, situationsbezogene, notwendig persönlich gefärbte Analyse". 

Das Buch ist eine erkenntnistheoretische und erkenntnispolitische Revolte gegen eine vorschnelle Urteilsbildung auf Basis vermeintlich gesicherten Wissens, sowohl auf persönlich-individueller Ebene wie in der öffentlichen Debatte. Ein Aufbegehren gegen die Oberflächlichkeit des öffentlichen Diskurses, die sich unter dem Einfluss von Social Media und Populismus eingeschliffen hat. Es ist, um es noch einmal zu unterstreichen, "die Gefahr des sofortigen Bescheidwissens und des vorschnellen Urteils", die das Buch in immer neuen Anläufen umkreist. 

Soweit eine kurze, knappe Reflexion der wichtigsten Aussagen des Buches. Es dabei zu belassen, hieße aber, diesem Dilemma aufzusitzen und nur die schönen Sätze, die prägnanten Thesen und spektakulären Standpunkte aufzugreifen. Also das zu tun, was der Autor zu Recht kritisiert. Meine Rezension versucht, die logische Grundstruktur dieser Argumentation herauszuarbeiten, so wie ich sie verstanden habe. Unproblematisch ist dieses reduzierende Vorgehen gleichwohl nicht. Denn bei der Konzentration auf das argumentative Gerüst gehen notwendigerweise die Differenzierungen und Nuancierungen verloren, die sich Pörksens behutsamer und einfühlsamer Schreibstil in Nebensätzen, Einschüben und Vertiefungen zum Ausdruck bringt. Doch kann und will diese Rezension die Lektüre des Buchs nicht ersetzen. Sondern empfiehlt ausdrücklich, es zu lesen. In diesem Sinne die wichtigsten Argumente und Thesen referiert.


Ich-Ohr und Du-Ohr: die Tiefenstruktur des Zuhörens


Pörksen unterscheidet idealtypisch zwei Extremformen des Zuhörens: eine Form egozentrischer Aufmerksamkeit und eine Form nichtegozentrischer Aufmerksamkeit, ein "Ich-Ohr" und ein "Du-Ohr". "Mit dem Ich-Ohr hören wir entlang unserer persönlichen Urteile und Vorurteile zu." Maßgeblich ist unsere persönliche Weltwahrnehmung; es zählt die Übereinstimmung mit unseren eigenen Auffassungen und Interessen. Es regiert die Agenda des Ich, nicht die des Gegenübers. Es ist eine narzisstische Form des Zuhörens. Der andere dringt nicht durch, wird nicht kenntlich. "Man kann also (...) scheinbar interessiert und zugewandt zuhören, schreibt Pörksen, "und hört doch eigentlich nur sich selbst, gefangen im System der eigenen Urteile und Vorurteile". 

Das andere Extrem ist das nichtegozentrische Zuhören mit dem Du-Ohr. "Hier versucht man in die Welt des anderen einzutauchen, sich ihr wirklich zu nähern und für ihre Andersartigkeit zu öffnen." Die eigenen Interessen, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und die persönliche Perspektive verlieren an Bedeutung, es geht um die Anerkennung von Andersartigkeit. Die Maxime könnte lauten: "Erkenne das Andere als Anderes - in seiner Fremdheit, seiner Schönheit, seinem Schrecken." Diese Form des Zuhörens ist Vorbedingung eines wirklichen Dialogs - und damit einer intersubjektiven Wahrheitsfindung im Sinne der Maxime "die Wahrheit beginnt zu zweit". 

Nun werde es allerdings ein wenig kompliziert, gesteht der Autor ein, denn auch das Zuhören mit dem Du-Ohr, das auf den ersten Blick dem Zuhör-Ideal zu entsprechen scheint, ist genau besehen nicht so eindeutig. Es lassen sich wiederum zwei unterschiedliche, im Kern gegensätzliche Pfade des Du-Ohr-Zuhörens unterscheiden: Der erste führt in der Konsequenz hin zu einer liebenden Akzeptanz, zu einer Anerkennung der anderen Weltsicht und Perspektive. Das ist das in der Literatur dominierende, empathische Verständnis von Zuhören. Anders der zweite Pfad, der von anderen Motiven und Interessen geprägt ist. Auch hier will der Zuhörende verstehen, aber er entwickelt "kein sympathisierendes, auf Akzeptanz zielendes Verständnis oder gar Einverständnis". Eine Übernahme der Perspektive oder Weltsicht findet nicht statt. Beispiele sind die Psychiaterin, der Soziologe, die Historikerin oder der Profiler. 

Gemeinsam ist den beiden Varianten des Du-Ohr-Zuhörens, dass der oder die Zuhörende sich bemüht und darum ringt, die Perspektive des Gegenübers zu übernehmen und sich in diese Person hineinzuversetzen. Dies allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Motiven und Zielsetzungen. Soweit zur Form, in der zugehört wird.


Die Entscheidung unentscheidbarer Fragen


Ebenso differenziert ist zu betrachten, wer wem zuhört und aus welchen Beweggründen. Auch das ist eine differenzierte Angelegenheit, die eine präzise und einfühlsame Beobachtung und Analyse verlangt. Gleiches gilt für die Entscheidung, wem man überhaupt zuhören sollte. 

Hier geht es um Fragen, die von der Ethik und Moral des Zuhörens handeln. Das sind zum einen strategische und kommunikationspraktische Fragen, denn Zuhören bedeutet, den Standpunkt eines anderen Menschen ernstzunehmen und die vertretene Position als prinzipiell akzeptabel, erkenntnisträchtig oder zumindest interessant zu würdigen. Die Frage, wem man zuhören sollte, und ob einer Person oder Gruppe ausreichend und angemessen zugehört werde, führt auf das Feld der Verantwortungsethik. Und sie führt letzten Endes in die Sphäre unentscheidbarer Fragen, Fragen also, für die es keine Entscheidungsregeln gibt und eine persönliche Entscheidung gefordert ist. Pörksen zitiert hier Heinz von Försters Diktum, nachdem wir allein unentscheidbare Fragen entscheiden können (weil entscheidbare Fragen durch den gesetzten Rahmen in gewissen Sinne bereits entschieden sind). Nur wenn es keine vorformulierten Entscheidungsregeln gibt, ist eine wirkliche Entscheidung möglich. 

Zuhören ist damit eine Frage von Freiheit und Verantwortung, so die Schlussfolgerung: "Nur derjenige hört zu, der es wirklich will. Das Zuhören ist eine der wenigen freien Handlungen, die ein Mensch ausüben kann." Weil es keine Regeln zur Entscheidung unentscheidbarer Fragen gibt, gelte es, so der Autor, "die Philosophie des Zuhörens als eine Heuristik anzulegen, sie als eine Kunst des Herausfindens auf dem Weg zu einer stimmigen Haltung zu begreifen". Daraus leitet Pörksen die Pflicht zu einer "zögernden, geduldigen Betrachtung, zu einer sich vorsichtig vorantastenden Annäherung" ab - bis man "zu einer gut begründbaren, stimmig erscheinenden Schlussfolgerung" gelangt ist. 


Eine Kunst des Herausfindens


Das führt hin zu den zentralen Erkenntnissen für die Praxis eines Zuhörens, das sich im Verlauf von Pörksens Überlegungen zu einem Erkenntnisprogramm erweitert hat. Es geht um "eine eigene Schule der Wahrnehmung in Form von komplexen, möglichst vielschichtigen Beschreibungen". Drei Einsichten von entscheidender Bedeutung lassen sich aus dem Buch herauslesen - es sind keine Regeln, Rezepte oder Lehrsätze. Nichts, was sich unmittelbar eins zu eins umsetzen ließe. Es sind perspektivische, sich ergänzende Einsichten, die eine Form des Erkenntnisgewinns und ein "Ethos der Darstellung" anleiten sollen: erstens Kontext, zweitens keine Regeln, drittens konkrete Empirie. 

Kontext: "Der Kontext ist die Botschaft", erneuert der Autor eine grundlegende Einsicht im Umgang mit Komplexität: "Ohne Kontext kann sich kein wirkliches Zuhören entwickeln, kein angemessenes Verstehen. Ohne Kontext, ohne die Betrachtung im Konkreten, ohne die Analyse einer je besonderen Situation können wir nicht zu einem gerechten Urteil gelangen und keine adäquate Position entdecken." Es geht um eine "Weitung der Perspektive" und um eine "Kunst des Herausfindens". 

Keine Regeln: Für diese konkrete Analyse des Kontexts gibt es keine Regeln. Es gibt "kein allgemein akzeptiertes Regelbuch des Sozialen, das Zuhörregeln für alle Fälle bereithält". Keinen "Zuhör-Katechismus" Pörksen erscheint "die Absage an das Rezeptdenken als das entscheidende Rezept". 

Konkrete Empirie: Im Mittelpunkt dieser Praxis steht "sinnliche, konkrete Empirie, möglichst genaue Beobachtung und immersive Recherche, ein Interesse an der Intelligenz von Praktikerinnen und Praktikern", geprägt von einem "Bemühen um Genauigkeit und Behutsamkeit". Und das braucht - Zeit.


Eine Haltung des Wartenkönnens und Geschehenlassens


Damit stellt sich die Frage nach der Praxis. Um sie geht es im (langen) zweiten Kapitel. Die dort versammelten Fallstudien widmen sich dem vertuschten Missbrauch an der Odenwaldschule, dem Ringen um Empathie im Ukrainekrieg, den Utopien des Silicon Valley und der unbequemen Wahrheit der Klimakrise. Diese Fallstudien sind als Beispiele einer Praxis des Zuhörens gedacht, als Illustration einer Wahrnehmung, "die bei aller Subjektivität doch darum ringt, das Wirkliche sich erst einmal zeigen zu lassen". Es sind Musterstücke einer Tiefenrecherche, die konkrete Empirie, genaue Beobachtung und ein Interesse an der Intelligenz der handelnden Personen miteinander verbinden will. Es sind Ausnahmestücke, nicht nur von der Tiefe und Intensität der Darstellung her, sondern vor allem auch im Hinblick auf die aufwendige Recherche. Wer genau liest, findet aber auch Lehrreiches für die alltägliche Wahrnehmung und die praktische Urteilsbildung. 

Für mich ist es ein Brückenschlag von Hegel zu Jenny Odell, aus der sich einige wichtige Hinweise für eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung herleiten lassen. Hegel, wirklich? Ausgerechnet Hegel, der gemeinhin mit einer Philosophie des Absoluten und der Methode der Dialektik assoziiert wird? Doch sollte man sich von solch großen Begriffen nicht blenden lassen. Wie sich leicht nachlesen lässt, hat Hegel selbst den Begriffen nicht recht getraut. Begriffe sind für ihn allgemein und abstrakt. Ihm ging es vielmehr darum, den Begriff vom Abstrakten hin zum Bestimmten zu entwickeln. Als Aufgabe der Philosophie galt ihm die Erfassung des Gegenwärtigen und Wirklichen. Genau zu dieser Skepsis gegenüber abstrakten Begriffen hat Bernhard Pörksen einen kurzen Essay des Philosophen ausgegraben, von dem nicht einmal bekannt ist, ob er zu dessen Lebzeiten überhaupt veröffentlicht worden ist: ein kurzer Text, in dem Hegel seine Kritik am Abstrakten konkretisiert. Für Pörksen ist Hegels Essay "eine Attacke auf das, was er als abstraktes Denken beschreibt und das er - quer zum gängigen Vorurteil und der Verehrung der Abstraktion - als unterkomplex und reduktionistisch kritisiert" - kurzum eine Kritik der "Schnell-schnell-Etikettierung" von Menschen und Sachverhalten, , so Pörksen. Die "gesunde Menschenvernunft geht auf das Konkrete", zitiert der Autor aus Hegels Werk und beharrt mit diesem darauf, dass die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen zu erfassen sei. Der Sprung von Hegel zurück in die Jetztzeit soll hier anders gesetzt werden als im Buch, nämlich als Brückenschlag zu Jenny Odell. 

Seine Erkenntnisreise in Sachen Zuhören führte Pörksen auch zu der multidisziplinär arbeitenden Autorin, Künstlerin und Pädagogin Jenny Odell, Autorin des 2021 erschienenen Buches Nichts tun, deren "dritte Position zwischen Weltzuwendung und Weltflucht" ihm als gleichermaßen brisant und zukunftsträchtig erscheinen. Nichts tun heiße für Odell nur scheinbar, nichts zu tun. Sondern es bedeute, "der Welt zuzuhören, sich in einer Haltung des Wartenkönnens und Geschehenlassens zu schulen, um die Welt in ihrer Fülle, Verschiedenartigkeit und ihrem Nuancenreichtum überhaupt erst einmal wiederzuerkennen. Es gehe darum, "ein Leben jenseits der hastig konsumierbaren Schlüsselreize und der geglätteten, vermeintlich perfekten Fertigantworten zu entdecken" - das also, was auch Pörksen vorschwebt. Sein Buch schließt an die Überlegungen Odells an, es nimmt sie auf und führt sie weiter. Zuhören ist nicht nur ein Aufbegehren gegen vermeintliches Bescheidwissen und vorschnelles Urteilen. Es bietet auch eine Perspektive für eine andere Praxis des Zuhörens: behutsam, mit Blick auf den Kontext und dem Bemühen um Genauigkeit. 

Ein Zitat noch zum Schluss. Es unterstreicht die Radikalität der Abkehr von den überhitzten Formen des Diskurses. Es eröffnet behutsam den Blick nach vorn auf eine andere Praxis: "Eigentlich wäre es ... ein Gebot der Stunde, erst einmal innezuhalten, nachzufragen, zuzuhören, die konkreten Anlässe und die Details zu studieren, um dann, vielleicht unter Verzicht auf die großen, donnernden Worte, ein Urteil zu fällen, das für die je besonderen Verhältnisse gilt, konkret und nuanciert." 


Zitate


"Vorurteile, Vorannahmen und nur schwer erschütterbare Überzeugungen bestimmen, was Menschen hören können." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Ohne Kontext kann sich kein wirkliches Zuhören entwickeln, kein angemessenes Verstehen. Ohne Kontext, ohne die Betrachtung im Konkreten, ohne die Analyse einer je besonderen Situation können wir nicht zu einem gerechten Urteil gelangen und keine adäquate Position entdecken." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Im Zuhören, Weghören und Nicht-Hören realisiert sich die Freiheit des Menschen." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Es gilt, die Philosophie des Zuhörens als eine Heuristik anzulegen, sie als eine Kunst des Herausfindens auf dem Weg zu einer stimmigen Haltung zu begreifen." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Wirkliches Zuhören, das nicht nur eine Simulation von Zuwendung darstellt, ist nur in Freiheit denkbar." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Man kann Menschen zum Schweigen bringen, das ist möglich. Aber man kann sie nicht zum Zuhören zwingen." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Nur derjenige hört zu, der es wirklich will. Das Zuhören ist eine der wenigen freien Handlungen, die ein Mensch ausüben kann." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Es gilt, sich der Erfahrung des Zuhörens und des Ringens um das Gehörtwerden in konkreten Situationen zuzuwenden, diese Situationen in allen Nuancen und Details zu studieren." Bernhard Pörksen: Zuhören

"Am Ende dieser Erkenntnis- und Wahrnehmungsreise erscheint mir im Ringen um Offenheit die Absage an das Rezeptdenken als das entscheidende Rezept. Es gilt, sich vorsichtig, behutsam und mit allen Chancen des Scheiterns von den definitiven Urteilen, den wohlklingenden, aber wirklichkeitsfernen Idealen und den falschen Abstraktionen zu lösen, die Ruhebank eigener, fester Wahrheiten zu verlassen, immer und immer wieder neu, um den anderen irgendwann in seiner Andersartigkeit zu erkennen und ihn wirklich zu hören." Bernhard Pörksen: Zuhören

 

changeX 17.03.2025. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser Verlag, München 2025, 336 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-446-28138-7

Zuhören

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.

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