Wer bin ich, was kann ich, wohin will ich?

Ein Interview mit Rüdiger Preißer vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung.

Von Sylvia Englert

2,2 Milliarden Euro werden Jahr für Jahr in die fachliche Weiterbildung gesteckt. Für Rüdiger Preißer oft rausgeschmissenes Geld. Denn Hard-Skill-Trainings können die Arbeitsmarktfähigkeit nur kurzfristig steigern. Ein Gespräch über Selbsterkenntnis und Selbstmanagement.

Durch den schnellen Wandel müssen die Menschen immer häufiger den Job oder sogar den Beruf wechseln. Deshalb werden Transferqualifikationen, Fähigkeiten, die ihnen helfen, solche Übergänge zu meistern und sich beruflich umzuorientieren, immer wichtiger.
Rüdiger Preißer, Politikwissenschaftler, Pädagoge, Soziologe und Bildungsforscher am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) in Bonn hat diese Qualifikationen untersucht.

Durchschnittlich bleiben die Menschen heute nur noch vier Jahre in einem Job. Und immer mehr wechseln im Laufe ihres Lebens auch den Beruf. Wird sich dieser Trend fortsetzen? In Amerika bleiben viele Mitarbeiter gerade mal ein Jahr bei ihrem Arbeitgeber.
Das liegt auch daran, dass die Arbeitsschutzgesetze schlechter sind als bei uns. Was Vor- und Nachteile hat: Es führt dazu, dass der Arbeitsmarkt in den USA sehr viel flexibler ist und man in den Unternehmen häufiger Stellen neu besetzen kann.
Ganz so wie in Amerika wird es bei uns aber hoffentlich nicht werden, auch wenn bei uns die Menschen in der Zukunft häufiger den Job oder den Beruf wechseln werden als bisher. Die Zeiten, da jemand eine Lehre macht und dann bis zur Rente in demselben Beruf bleibt, sind vorbei. Für den Einzelnen und für die Gesellschaft ist es weder gut, wenn jemand sein ganzes Leben lang nur ein und dieselbe Tätigkeit ausübt, noch wenn er die Tätigkeiten so häufig wechselt wie sein Hemd.

Die "Transferqualifikationen", die Sie untersuchen, sind noch nicht sehr bekannt. Von Schlüsselkompetenzen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung ist überall die Rede - von der Fähigkeit, Übergänge zu meistern, kaum. Doch genau sie brauchen die Menschen, um in der heutigen Arbeitswelt bestehen zu können.
Ja, das stimmt. Das Schlagwort Schlüsselqualifikationen ist schon Ende der 60er Jahre in die Diskussion gekommen, heute heißen sie Soft Skills. Man meint damit in der Regel Flexibilität und Mobilität. Also eher reaktive Kompetenzen, die es einem erleichtern, sich an die Verhältnisse, so, wie sie sind, anzupassen. Aber heute wird mehr von den Individuen verlangt: eine aktivere Rolle gegenüber der Umwelt. Die Fähigkeit, eigene Ideen, Ziele und Pläne zu entwickeln, sich selbst und seinen Lebensverlauf zu entwerfen, zu planen und zu steuern, das alles geht weit über reine Soft Skills hinaus.

Aber auch das will gelernt und trainiert sein.
Das ist richtig. Beigebracht werden den Menschen in erster Linie fachliche Dinge. Aber die Kompetenz, die eigene Berufsbiographie und Karriere zu planen und zu steuern, vermitteln einem weder die Schule noch berufsvorbereitende Lehrgänge. Hinzu kommt: Viele Leute rechnen nicht damit, dass sie sich beruflich umorientieren müssen. Sie möchten Sicherheit und stellen sich darauf natürlich lieber ein als auf Diskontinuitität.

Die Menschen müssen sich in eine aktivere Rolle begeben - und fühlen sich erst einmal orientierungslos, weil niemand sie dabei unterstützt.
Ja. Dabei stehen Jugendliche beim Berufsstart und Erwachsene beim Berufswechsel vor einer ähnlichen Situation. Sie fragen sich: Was kann ich tun, welchen Beruf sollte ich ergreifen, was ist das Richtige für mich? Viele schauen dann auf den Arbeitsmarkt, aber zu wenig auf das, was sie selbst können, auf ihr eigenes Potenzial. In den USA wird man, wenn man sich auf eine Stelle bewirbt, gefragt: "Was möchtest du zu unserer Firma beitragen und was ist dein Profil?" Das heißt, es wird die Gestaltungsfähigkeit und der Gestaltungswunsch abgefragt. Wenn man die meisten Arbeitskräfte in Deutschland mit dieser Frage konfrontiert, antworten sie gewöhnlich: "Das weiß ich nicht", weil sie so etwas nie gefragt worden sind und es sich dadurch auch nie überlegt haben. Ich glaube, wenn man diese Menschen dabei unterstützt, herauszufinden, wo ihr Potenzial liegt, und ihnen hilft, es bei sich selbst zu erschließen, übernehmen sie bereitwilliger Verantwortung für ihr eigenes Leben und sind auch motivierter.

Wer kann sie dabei unterstützen? Coaches? Das Arbeitsamt?
Manager bekommen im Rahmen von Outplacement-Maßnahmen solche Coachings. Manchmal so lange, bis sie eine neue Stelle gefunden und die Probezeit überstanden haben. Das ist natürlich sehr teuer, und für Leute wie Sie und ich wird so etwas auch nicht angeboten. Deshalb haben wir an unserem Institut Kurse entwickelt, die zum Beispiel das Arbeitsamt finanzieren könnte. Doch im Moment fixiert man sich dort noch zu sehr auf die fachliche Weiterbildung. Beispiel: In den Neuen Bundesländern sind nach der Wende Arbeitslose im Baugewerbe weitergebildet worden. Heute steckt die Branche in der Krise, die Maßnahmen waren für die Katz. Statt die Leute fachlich zu schulen, sollte das Arbeitsamt die Menschen dazu befähigen, selbst zu entscheiden, wie der Lebensweg - auch der fachliche und berufliche - für sie weitergeht.

Zeigen denn die Konzepte der Hartz-Kommission diese neue Haltung?
Nein. In diesen Konzepten und auch schon im Job-Aqtiv-Gesetz wird der entgegengesetzte Weg beschritten. Er sieht vor, dass die Arbeitslosen ein Assessment-Verfahren - das so genannte Profiling - durchlaufen sollen; damit will man die Wahrscheinlichkeit einschätzen, ob jemand eine gute Chance hat, wieder Arbeit zu finden. Bei solchen Assessments entdeckt der Kandidat nicht selbst sein Potenzial, sondern wird von außen begutachtet und bekommt dann irgendwelche Dienstleistungen verordnet. So werden die Leute verwaltet statt befähigt. Letztlich wird damit genau das erzeugt, was man angeblich am wenigsten will: Konsumhaltung statt Eigenverantwortung. Aber wenn man mit den Leuten redet, merkt man, was die alles noch in ihrer Freizeit machen und über wie viel Fähigkeiten und Erfahrungen die tatsächlich verfügen, die aber gar nicht zur Kenntnis genommen werden und ihnen auch selbst oft gar nicht bewusst sind.

Also müsste ein grundlegendes Umdenken stattfinden.
Man müsste in der Zukunft stärker darauf hinarbeiten. Beispiel: PISA. Auch dort hat sich herausgestellt, dass es wichtig ist, bei den fachlichen Lernzielen zu entrümpeln und stattdessen zu lehren, wie man lernt, wie man mit dem Gelernten umgeht und es auf andere Bereiche transferiert. Im Moment gibt es beim Arbeitsamt einen Zielkonflikt: Man will die Arbeitsuchenden rasch aber auch nachhaltig vermitteln. Die Arbeitsmarktpolitik ist aber zu sehr auf das kurzfristige Ziel ausgerichtet, Statistiken zu bereinigen. Dafür werden jährlich 2,2 Milliarden Euro investiert - wie gesagt: in fachliche Weiterbildung, nicht in die Förderung vorhandener Potenziale und Selbstmanagement-Kompetenzen.

Wie wird denn in anderen Ländern die Fähigkeit vermittelt, Übergänge zu meistern? Gibt es Vorbilder für Deutschland?
Da kann ich nur Vermutungen anstellen, denn wir sind erst dabei, internationale Kooperationen aufzubauen. Es gibt in Ländern ohne ein duales Berufsbildungssystem, in denen außerdem der Arbeitsmarkt nicht durch so viele Bestimmungen reguliert ist wie in Deutschland, wahrscheinlich mehr Diskontinuität in den Erwerbsbiographien. Deshalb haben diese Länder mehr Erfahrungen mit solchen Übergängen, und es gibt mehr unterstützende Institutionen. In den USA zum Beispiel hat jede Hochschule einen "Career Service", der den Absolventen hilft, in den Arbeitsmarkt einzusteigen. In Deutschland kümmern sich die Hochschulen nicht um ihre Absolventen, weil bei uns Freiheit von Forschung und Lehre obenan steht, aber nicht die Verpflichtung auf gesellschaftliche Erfordernisse.

Ist es für den Einzelnen schwer, selbst solche Transferqualifikationen aufzubauen?
Die besten Chancen haben dabei natürlich diejenigen, die eine gute Erstausbildung haben. Je besser die Ausbildung, desto größer ist die Lernbereitschaft und natürlich die Lernfähigkeit. Lernen schließt ja immer auch eine Irritation ein. Ich lerne, weil ich etwas nicht weiß. Diese Irritation des zeitweiligen Nicht-Wissens oder Nicht-Könnens auszuhalten, fällt manchen Menschen schwer, vor allem jenen, die erniedrigende oder beschämende Erfahrungen in der Schule gemacht haben. Die geben dann sofort auf. Wer mit Lernen gute Erfahrung gemacht hat, also diese notwendigen Grenzen des Nicht-Wissens überwunden hat, ist nicht irritiert oder schämt sich, weil er etwas nicht weiß, sondern ist neugierig - und entwickelt eine zukunftsgerichtete Energie.
Entscheidend ist aber auch der Job. Je interessanter die Tätigkeit, die ich verrichte und je größer mein Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum, umso eher bleibe ich geistig rege und desto kontinuierlicher lerne ich, wenn auch oft beiläufig. Durch Situationen, in denen ich mich bewähren muss, in denen ich an meine Grenzen stoße und sie überwinden muss.

Hat man diese Herausforderungen nicht, leidet also die Flexibilität.
Richtig. Menschen, die eine sehr einseitige oder sogar stupide Tätigkeit verrichten, können ihr vorhandenes Potential nicht ausnutzen. Im Gegenteil, sie müssen sich in einer gewissen Weise klein machen, um diese Arbeit überhaupt ausführen zu können. Wenn solche Leute entlassen werden, haben sie Angst vor neuen Herausforderungen und sich auf etwas Neues einzulassen, weil sie nicht wissen, wo ihre Grenzen sind, und sich dementsprechend nicht viel zutrauen.

Aber viele haben mehr Fähigkeiten, als sie denken - nur eben nicht in einer offiziellen Ausbildung erworben, sondern autodidaktisch, im Alltag oder in der Freizeit. Welche Bedeutung hat in Zukunft dieses "informelle Wissen"?
Man verspricht sich zur Zeit viel davon. Denn schließlich lernt jeder informell. Bei unserem kleinen Kind kann man das sehr gut beobachten. Es lernt beiläufig ungeheuer schnell und viel. In etwas gedrosselter Geschwindigkeit geschieht das im Grunde während des ganzen Lebens. Diese großen Potenziale sind den meisten Menschen gar nicht bewusst, deshalb werden sie auch selten erschlossen und schon gar nicht strategisch eingesetzt, beispielsweise in Bewerbungssituationen. In unserer Untersuchung haben wir beispielsweise Arbeiter im gewerblichen Bereich nach ihren Kenntnissen und Kompetenzen gefragt - sie haben sie in der Regel gar nicht gekannt, oder wenn, höchstens auf berufsfachliche Bereiche bezogen. Dass sie vielleicht im Sportverein Erfahrungen gesammelt haben, wie man Jugendliche coacht, oder nebenbei eine Familienfeier mit 100 Personen organisiert, und damit organisatorisches Geschick bewiesen haben, oder dass eine Mutter mit zwei Kindern hohe Kompetenzen im Zeitmanagement braucht - darauf wären sie nie gekommen. Deshalb geht es bei solchen Unterstützungsmaßnahmen, wie wir sie in unserem Projekt entwickelt haben, zunächst darum, dass die Menschen entdecken, was bereits alles in ihnen steckt. Das stärkt auch das Selbstbewusstsein, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für Lernbereitschaft und Zukunftsfähigkeit ist.

Hat das etwas mit dem Verschmelzen von Arbeit und Freizeit zu tun, das Forscher beobachten?
Wenn Sie eine Arbeit mit großen Gestaltungspotenzialen haben, mag das durchaus sein. Aber ob bei einem Arbeiter, der am Fließband steht, Arbeit und Freizeit verschmelzen, wage ich zu bezweifeln. Man muss auch sehr stark zwischen Männern und Frauen unterscheiden. Das konventionelle männliche Modell ist, dass beide Bereiche stark getrennt werden. Man kommt von der Arbeit und redet wenig darüber, weil man nun Freizeit hat. Frauen haben in der Regel daheim keine Freizeit, sondern erledigen Familienarbeit wie Kochen und Kinderbetreuen. Deshalb arrangieren sie das Verhältnis zwischen beruflicher und außerberuflicher Sphäre ganz anders als Männer - auch wenn bei jüngeren Männern die Trennung im Auflösen begriffen ist.

Das Problem ist nur - und das betrifft vor allem Frauen -, dass informell erworbene Kompetenzen von den Unternehmen nicht oder nur kaum anerkannt werden.
Das Paradoxe ist tatsächlich, dass Frauen aufgrund ihrer Verantwortlichkeit für Beruf und für Freizeit häufig vielfältigere Kompetenzen haben als Männer, gewissermaßen breiter angelegt sind, vielleicht weniger linear denken, aber mehr Gesichtspunkte in ihre Überlegungen einbeziehen. Das betrifft vor allem den Bereich der sozialen Kompetenzen, die angeblich in der Wirtschaft so stark gefragt sind. Aber dennoch werden sie gegenüber Männern, die darüber weniger verfügen, benachteiligt. Das wird sich jedoch, glaube ich, in der Zukunft teilweise ändern. Zumindest in der Erwachsenenbildung gibt es immer mehr Bemühungen, solche Kompetenzen zu dokumentieren und zu zertifizieren. Zum Beispiel hat die Bundesregierung vor, einen Weiterbildungspass einzuführen, bei dem im Alltag und informell erworbene Fähigkeiten dokumentiert und damit anerkannt werden. Ein gutes Konzept -auch wenn wir uns die zwei Seiten vor Augen halten müssen: Einerseits wird all das, was ich mir als Autodidakt angeeignet habe, endlich anerkannt. Andererseits besteht die Gefahr der gläsernen Arbeitskraft.

Sylvia Englert, Journalistin und Buchautorin, ist Redakteurin bei changeX.

preisser@die-bonn.de
www.die-frankfurt.de

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