Leben im Schwarm
Ein neues Leitbild transformiert Gesellschaft und Märkte.
Ameisen und Bienen machen es vor: Auch wenn es keine zentrale Steuerung oder Intelligenz gibt, erledigen sie ihre Aufgaben hervorragend. Ein Erfolgsrezept, mit dem inzwischen auch Unternehmen und Organisationen experimentieren. Nach dem Netzwerk kommt der Schwarm!
"The "Killer-Apps" of tomorrow's mobile infocom industry
won't be hardware devices or software programs but social
practices."
(Howard Rheingold: Smart Mobs)
Vom Netzwerk zum Schwarm.
Spätestens seit den 80er Jahren ist
uns bewusst geworden, dass jeder von uns eingebunden ist in eine
unüberschaubare Vielzahl von sich ausbreitenden und verdichtenden
Netzwerken: technische, soziale, wirtschaftliche, politische. Das
Internet als "Netz der Netze" wurde zur technischen Metapher, die
unsere Vorstellung von der Welt und ihren Zusammenhängen geprägt
hat. Diese Netzwerk-Welt verändert ständig ihr Gesicht;
durchdrungen von Knoten und Links organisiert sie sich immer
wahrnehmbarer in Form lose verbundener Individuen und flacher
Hierarchien, von Communitys, Szenen und Clans. Sie baut auf
Selbstorganisationsprozesse und gefährdet sich selbst, indem sie
globale Verschwörungen fördert oder zumindest den Mythos ihrer
Existenz verbreitet. Netzwerklogik und Netzwerkmodelle finden
sich überall: in der Struktur von Denk- und
Entscheidungsprozessen ebenso wie in den Kommandostrukturen von
al Qaida und den mehr oder minder plausiblen Geschäftmodellen der
Net-Economy.
Das Netzwerk als Leitbild, aber auch als reale
sozio-technische Infrastruktur hat unsere Denkweisen und
gesellschaftlichen Organisationsformen in den vergangenen beiden
Jahrzehnten radikal verändert. Die neuen Möglichkeiten der
technischen Vernetzung von PCs und das Aufkommen des Internets
haben weltweit Millionen von Menschen fasziniert. Netzwerke
standen im Zentrum von technischen Innovationen und dem Entstehen
von neuen Märkten. Mit der Ablösung des PCs als zentrale
Access-Technologie durch mobile Breitband-Netze, Wearables und
ubiquitäres Computing in der kommenden Dekade wandelt sich auch
der Charakter der Netzwerke - und setzt eine neue
Innovationsdynamik in Gang. Im Zentrum dieser neu aufkommenden
Bewegung steht das Bild des
Schwarms als Metapher, technisches Paradigma und soziales
Organisationsprinzip.
Ein Schwarm kann als eine Gruppe von Individuen beschrieben
werden, die mittels direkter Kommunikation selbstorganisiert und
ohne zentrale Lenkung miteinander agieren und damit ihre
Effizienz steigern können. Die Besonderheit des Schwarms liegt in
seiner Fähigkeit, sich sehr schnell zu formieren und ohne
vorherige Planung flexibel und koordiniert zu handeln.
Schwarm-Intelligenz findet man in der Natur insbesondere
bei sozialen Insekten wie Ameisen, Bienen oder Termiten. In den
Kolonien dieser Insekten scheint jedes einzelne Tier seine
Aufgabe zu erfüllen, ohne dass es einer Überwachung bedarf.
Dennoch wirken diese Kollektive hoch organisiert. Das Geheimnis
hinter der Schwarm-Intelligenz heißt kollektive
Selbstorganisation. Die Koordination der Aktivitäten basiert in
starkem Maße auf ständiger Interaktion zwischen Individuen. Die
Schwarm-Intelligenz erlaubt den Tieren das schnelle Reagieren auf
Bedrohungen oder die Lösung komplexer Optimierungsprobleme (zum
Beispiel das Auffinden des kürzesten Weges zu einer
Futterquelle). Wissenschaftler versuchen schon seit einigen
Jahren diese kollektiven Handlungsstrategien zu modellieren, um
etwa Software-Agenten zu entwickeln, die miteinander interagieren
können, um komplexe Problemstellungen oder Optimierungsaufgaben
wie eine verbesserte Auslastung von Telekommunikations-Netzen zu
meistern. Auch die Robotik hat sich das Schwarm-Prinzip bereits
zu eigen gemacht, etwa beim Bau autonomer, adaptiver
"Schwarm-Roboter" (zum Beispiel
www.swarm-bots.org) oder auch bei der Entwicklung von
kollektiven Nano-Robotern, so genannten Smart Dusts (
http://nanotech-now.com/smartdust.htm). Diese Beispiele
deuten bereits an, dass Schwarm-Modelle für die zukünftige
Technologie-Entwicklung eine zentrale Rolle spielen werden. Die
wahre Sprengkraft des Schwarm-Phänomens liegt dennoch nicht
primär im wissenschaftlich-technischen Bereich, sondern in seiner
Funktion als Metapher bei der Reorganisation sozialer
Prozesse.
Networks of Action: Smart Mobs.
Zur Zeit macht der Begriff des
"Social Swarming" die Runde. Social Swarming meint: Mittels
neuer, mobiler und ubiquitärer Technologien wird es möglich (und
für den Einzelnen attraktiv), selbst mit einer großen Gruppe von
Unbekannten gemeinsam und koordiniert zu handeln. Kult-Autor
Howard Rheingold, der auch schon den Begriff der
Virtual Community geprägt hat, nennt solche nach dem
Prinzip des
Social Swarming funktionierende Gruppen- und
Massenphänomene Smart Mobs.
Smart Mob-Prozesse und neue Formen mobiler, anonymer
Kooperation lassen sich schon heute an unterschiedlichen Orten
beobachten. Hierzu gehören die Mitfahrer-Börsen (zum Beispiel
www.mitbahnen.de) zur Ausnutzung des neuen Preissystems
der Bahn ebenso wie die Fahrrad-Demonstrationen der
Critical Mass-Bewegung, die mittlerweile in vielen Städten
weltweit in regelmäßigen Abständen den Autoverkehr lahm legen:
"Critical Mass is not an organization, it's an unorganized
coincidence. It's a movement ... of bicycles, in the streets" (
www.critical-mass.org). Es sind natürlich insbesondere
Jugendliche in den internationalen Metropolen, die das
Social Swarming für sich entdeckt haben und schon heute
per SMS ständig mit ihrem Schwarm in Verbindung stehen. Wird die
Eröffnung eines neuen Clubs in Tokio oder ein interessanter Event
in Helsinki entdeckt, schwärmen die Kids innerhalb kürzester Zeit
zu diesen Orten und ebenso schnell wieder zum nächsten Event. Das
scheint zunächst nichts besonders Aufregendes zu sein. Schon
immer haben Gruppen von Menschen gemeinsam gehandelt. Qualitativ
neu sind die Geschwindigkeit und die Flexibilität der
Gruppenprozesse, die durch die instantane Interaktion mittels
mobiler Kommunikations- und Computing-Devices erst ermöglicht
werden.
Mit den Smart Mobs entsteht damit auch eine neue Spielart
der Ausübung sozialer Macht. Zu den populären Opfern eines Smart
Mob gehört etwa der britische Prinz William: Wo auch immer er in
London gesichtet wird, haben sich innerhalb von Sekunden die
meist weiblichen Fans per SMS im Schneeballprinzip über den
Aufenthaltsort des schönen Prinzen informiert und schon nach
einigen Minuten sind oft über 100 Mädchen an dem besagten Ort
versammelt. Doch es geht bei dem Thema keinesfalls nur um die
schwärmerischen Verrücktheiten verliebter Jugendlicher. Smart
Mobs markieren auch eine neue Form des politischen Aktivismus.
Mobile Kommunikation, so Rheingold, verstärkt die menschliche
Fähigkeit zur Kooperation. Dies haben auch die
Globalisierungsgegner erkannt. Ihre großen Protestaktionen, etwa
beim G8-Gipfel in Genua, wurden nur über Handys und dynamische
Websites koordiniert - ohne eine übergeordnete Steuerungsinstanz.
Auch der Sturz des früheren philippinischen Präsidenten Joseph
Estrada wäre ohne die Koordination der Proteste über Handy und
SMS kaum möglich gewesen. Smart Mobs ermöglichen nicht nur eine
neue Form des Protests, sondern bringen auch eine neue Art von
Demonstranten hervor: "They don't have to spend all day
protesting. They just get a message telling them when it's
starting, and then they take the elevator down the street. They
can be seen, scream a little and then go back to work."
Vom Krieg der Schwärme zur "Swarming Organization".
Auch im militärischen Bereich wird
über Schwarm-Strategien nachgedacht. Schon vor zwei Jahren
veröffentlichte die RAND-Corporation ein Papier über "The future
of conflict" und stellte
Swarming als neue militärische Doktrin zur Diskussion.
Grundidee dieses Konzepts ist der Einsatz kleiner, autonomer
Kampfeinheiten ("pods" und "cluster"), die sehr schnell und
selbstorganisiert zuschlagen können. Mit dem Kampf gegen den
internationalen Terrorismus hat dieser Ansatz weiter an Bedeutung
erlangt, da immer deutlicher wird, dass gegen einen flexiblen und
vernetzt agierenden Feind die klassischen Militärstrategien nicht
mehr wirksam eingesetzt werden können. In zukünftigen
militärischen Schwarm-Kampagnen werden die Generäle nur noch eine
Liste mit festen und mobilen Zielen definieren und die flexiblen
Kampfeinheiten werden die Angriffe autonom planen und
durchführen.
Vom Management wird diese Idee der
Swarming Organization bereits für das Business der Zukunft
adaptiert. Ziel einer "schwärmenden Organisation" ist die
Schaffung der Infrastrukturen zur Unterstützung der
selbstorganisierten und sehr schnellen Bildung von entscheidungs-
und handlungsfähigen Teams, die sich nach Erfüllung der Aufgabe
wieder auflösen. Die
Swarming Organization steigert damit die Idee der
virtuellen Unternehmung durch den Einsatz von
Swarming Technology: hoch-dezentralisiert, dynamisch,
pulsierend, nichtlinear und adaptiv. Die Teams in einer solchen
Organisation bilden sich eigenverantwortlich und wählen auch die
Tools aus, die sie in der konkreten Situation zur Erfüllung ihrer
Ziele brauchen. Swarming, so kann man mit einiger Sicherheit
prophezeien, wird in den kommenden Jahren zu einer wichtigen
Business-Strategie werden. Erste Ansätze werden schon heute
beschrieben: Als die mexikanische Fertigbetonfirma Cemex vermehrt
mit Terminproblemen zu kämpfen hatte, brachte Schwarm-Logik den
Erfolg zurück. Statt einer zentralen Lenkung der Lieferfahrzeuge
bekamen die einzelnen Fahrer mehr Freiheit. Sie erhielten nun
keine genauen Anweisungen mehr, sondern lediglich die Aufgabe,
die Ware pünktlich zum Kunden zu transportieren. Zusätzlich wurde
die direkte Kommunikation zwischen den Fahrern unterstützt, so
dass diese sich untereinander verständigen konnten, sobald
Verzögerungen auftraten. Der Fahrer, der dem Zielort am nächsten
war, übernahm dann die Auslieferung. Durch den Wegfall einer
übergeordneten Organisation konnten die Verzögerungen minimiert
werden. Swarm intelligence goes daily business!
Ausblick in die Zukunft der Schwärme.
Bei den mobilen Netzwerken der
Zukunft, und dies ist der entscheidende Perspektivwechsel, geht
es im Kern nicht um Austausch oder Kommunikation, sondern es geht
um Kooperation. Aus den Kommunikationsnetzen werden
Networks of Action. Diese neuen Perspektiven und Optionen
setzen soziale und technische Kreativität frei. Am Horizont
leuchtet hier eine neue Kultur der Zusammenarbeit auf, ein
sozio-technologischer Wandel, von dem Berufsvisionär Sir Arthur
C. Clarke behauptet, dass es sich dabei um "one of the greatest
transformations of human society - perhaps even more profound
than the development of writing" handelt. Auch wenn man nicht so
weit gehen möchte: Evident ist ein sich langfristig vollziehender
Transformationsprozess in der gesellschaftlichen Tiefenstruktur
durch die zunehmende Allgegenwart mobiler Netzwerk-Technologien.
Dieser Transformationsprozess wird Beziehungen und
Gemeinschaftsformen ebenso verändern wie Unternehmen und Märkte.
Gerade Unternehmen werden gut daran tun, die beschriebenen
Entwicklungen gut im Auge zu behalten, insbesondere da der
Wandel, den wir erleben, nicht primär technischer Natur sein
wird, sondern die innovative Kraft vielmehr in der überraschenden
Art und Weise liegt, mit der Technologien genutzt und in soziale
Praktiken eingebunden werden.
Klar ist:
Social Swarming macht die Welt einerseits schneller und
unübersichtlicher, auf der anderen Seite verschiebt es die
Machtverhältnisse hin zu den Bürgern. Viele der heute noch
zentralistisch organisierten gesellschaftlichen Funktionen werden
in der Welt der Smart Mobs obsolet. Wird es in einigen Jahren
vielleicht bereits virtuelle Unternehmen geben, die nur ein paar
Stunden oder gar Minuten existieren? Oder werden die
"Hartz-Konzepte" der Zukunft Arbeitsvermittlungen überflüssig
machen, da sich die Arbeitssuchenden mittels Selbstorganisation
und "Mob Power" bald selbst vermitteln? Werden Kunden sich
vermehrt ad hoc zusammenschließen, um Unternehmen zu boykottieren
oder ihnen ihre Interessen massiv aufzuzwingen? Die "nächste
soziale Revolution" (Rheingold) kommt mit Sicherheit. Nutzen wir
die Chance, sie mitzugestalten.
Andreas Neef ist Geschäftsführer von Z_ punkt, dem Essener Büro für Zukunftsgestaltung.
Kontakt:
neef@z-punkt.de
www.z-punkt.de
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Andreas NeefAndreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.