Im Kontext von Komplexität
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Thomas Michl, agiler Organisationsscout in Stuttgart.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Thomas Michl.
Thomas Michl ist Agile Coach, Organisationsscout und Veränderungsbegleiter. Der ausgebildete Verwaltungswissenschaftler (Dipl. und MBA) ist Mitinitiator des Forums Agile Verwaltung und Mitherausgeber des gleichnamigen Buchs (2018). Er arbeitet bei dem Consulting-Unternehmen EXXETA AG.
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Die Frage lässt sich relativ einfach beantworten, weil die Antwort im Begriff selbst steckt. Es geht um Selbst-Organisation. Selbst bedeutet, dass wir uns als einheitliches, autonom denkendes und handelndes Wesen wahrnehmen, als Persönlichkeit. Organisation leitet sich von organisieren, laut Duden planmäßig ordnen, gestalten, einrichten und aufbauen ab. Es geht immer um Menschen und Persönlichkeiten, die gestalten und eigenverantwortlich handeln. Beständige kritische (Selbst-)Reflexion, Eigenverantwortung, der Wille zur Zusammenarbeit sind Kernelemente der Selbstorganisation.
Was verstehen Sie unter Selbstorganisation?
Unter Selbstorganisation verstehe ich ein System, welches in der Lage ist, sich eigenständig und in eigener Verantwortung Strukturen zu geben beziehungsweise zu schaffen, innerhalb derer dieses System agiert. Es tut dies, ohne von außen vorgegeben zu bekommen, wie diese Strukturen auszusehen haben. Das System gestaltet selbst und entscheidet für sich, wie diese Strukturen aussehen sollen.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Ich bin bei dem Begriff ambivalent. Grundsätzlich ist aus soziologischer Sicht nahezu jedes System ein selbstorganisiertes System, sobald es sich selbst Strukturen setzt. Der Begriff sagt aber nichts über die Qualität und die Art der Organisation aus. Das ist mit auch ein Grund, warum im letzten Update des Scrum-Leitfadens nicht mehr von selbstorganisierten Teams, sondern von "selfmanaged" Teams die Rede ist. Selbststeuerung trifft es gefühlt in meinen Augen besser, weil der Begriff deutlich macht, dass es hierbei auch um Eigenverantwortung geht.
In welchen Kontexten wird Selbstorganisation thematisiert und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Selbstorganisation findet sich - nach meiner persönlichen Beobachtung - in vielen Kontexten wieder, die sich grob in drei Kategorien einteilen lassen:
Erstens: Ebene des Individuums (Zeit- und Selbstmanagement)
Zweitens: Ebene der Teams
Drittens: Ebene der Organisation
Nach dem Grundsatz "nur wer sich selbst führen kann, der kann auch andere führen" ist die individuelle Ebene für mich die Grundlage, damit Selbstorganisation in der Zusammenarbeit mit anderen funktioniert. Hier werden quasi die "Basisfähigkeiten" trainiert und entwickelt, die es für Selbstorganisation im Team und am Ende auch in der Gesamtorganisation braucht.
Spannend finde ich persönlich, dass es kaum eine Branche oder einen Bereich gibt, wo sich keine Formen der Selbstorganisation finden. Es gibt Beispiele aus nahezu allen Bereichen. Ob im Militär, der Produktionswirtschaft oder im Dienstleistungsbereich, wir finden Selbstorganisation in nahezu allen Branchen und Bereichen mit unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen wieder. Selbst vermeintlich hierarchische Organisationen, denen man das Attribut der Selbstorganisation auf den ersten Blick nicht zuschreiben würde, zeigen Elemente der Selbstorganisation in sich, sobald es um Interaktion geht.
Das beste Beispiel ist für mich die freiwillige Feuerwehr. Sie trägt all die Elemente in sich, die wir heute als modern betrachten, aber dies bereits seit über 150 Jahren und als öffentliche Aufgabe. Es gibt zwar eine klare Hierarchie. Die Organisation ist extrem lean, im Einsatz aber deutlich agil und trägt am Ende sogar unternehmensdemokratische Züge, da der Kommandant im Einvernehmen der Feuerwehrkameradschaft mit dem Gemeinderat ernannt wird. Ein Beispiel, wie sich hier Selbstorganisation und formale Organisation sogar im Sinne einer beidhändigen Organisation ergänzen.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Selbstorganisation bietet sich immer dann an, wenn ich eine hohe Adaptionsfähigkeit brauche oder - das dürfte im unternehmerischen Umfeld eher selten sein - es darum geht, Akteure zu emanzipieren, weil dies einem anerkannten Ideal entspricht: dem der Demokratie. Selbstorganisation ermöglicht die rasche Adaption an die Ereignisse, neue Erkenntnisse und schnelle Anpassung innerhalb eines gesetzten Rahmens und eröffnet unterschiedliche Lösungswege, die auf dem Wege empirischer Überprüfung weiterentwickelt und angepasst werden können. Selbstorganisation ist die präferierte Lösung für komplexe Fragestellungen, die das Erkunden von "unbekanntem" Terrain voraussetzt, aber auch, wenn es um die Frage der Verteilungsgerechtigkeit geht.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Fremdbestimmung durch klares Reglement, das keinerlei Abweichung duldet.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Selbstorganisation braucht einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich bewegen kann und der Orientierung schafft. Ohne einen Rahmen als Referenz kann Selbstorganisation sich nicht entfalten, weil sie dann damit beschäftigt ist, sich selbst einen Rahmen zu schaffen, und permanent neu definieren muss, was reproduzierbar und wiederholbar ist. Ohne einen stabilen Unterbau kann Selbstorganisation daher nicht funktionieren.
Auch bin ich der Meinung, dass ab einer bestimmten Gruppengröße selbstregulierende Systeme formale Strukturen brauchen, um nicht immer wieder bereits getroffene Entscheidungen neu zu fällen, und entsprechende Institutionen, die dabei helfen, die Ausgewogenheit zwischen Stabilität und Agilität herzustellen. Es braucht dann so etwas wie Regeln und Schiedsrichter, die die Rahmenbedingungen abstecken.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Selbstorganisation setzt eine gewisse Haltung voraus, die nicht selbstverständlich ist. Wenn man genau hinsieht, braucht es für Selbstorganisation ein positives Menschenbild, das auf Vertrauen, Offenheit, gegenseitigem Respekt basiert. Es ist eine Kultur des Vertrauens und respektvollen Umgangs erforderlich. Eine solche Kultur findet sich nicht immer und überall. Fehlt diese Kultur, kann sich Selbstorganisation nicht entfalten.
Ein zentrales Hemmnis aus meiner Sicht - auch in Organisationen, die sich vermeintlich der Selbstorganisation verschrieben haben - ist das Fehlen klarer Leitplanken und eines Referenzpunktes, an dem sich Selbstorganisation messen kann und muss. Es braucht klare Rahmenbedingungen und einen Navigationspunkt, der Orientierung bietet. Dies ist eine klare Managementaufgabe innerhalb einer Organisation.
Können Menschen Selbstorganisation?
Ja, und zwar schon sehr lange. Selbstorganisation ist Teil des menschlichen Sozialverhaltens. Der Mensch erschafft seine Gemeinschaften und gibt ihnen den Rahmen und die Struktur, innerhalb derer sie funktionieren. Selbstorganisation gibt es nachweislich bereits seit der Antike in den griechischen Stadtstaaten, in den Städten des Mittelalters, der Allmendewirtschaft in den abgelegensten Regionen der Welt, und sie ist sogar als kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 II GG) im Grundgesetz verankert. Der Mensch hat sich immer schon selbst organisiert.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Sie erfreut sich zumindest einer Renaissance. Die Bedeutung nimmt aktuell immer noch zu. Aus verschiedenen Gründen. Auf der einen Seite können wir immer mehr "standardisierbare" und "reproduzierbare" Arbeit mithilfe von Automation durchführen, sodass wir uns zunehmend auf die komplexen Fragestellungen konzentrieren. Zum anderen kommen immer mehr Themen auf die Agenda, deren Komplexität mit starren und "hierarchischen" Denkweisen nicht gelöst werden kann, sondern die Beteiligung möglichst breiter Disziplinen erfordern.
Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?
Ich mache dies fest am Bedeutungsgewinn von Ansätzen, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit befördern, sowie dem wachsenden Ruf nach solchen Ansätzen in Gesellschaft, Wissenschaft und Forschung. Es wird nach mündigen, eigenverantwortlichen Strukturen verlangt. Man kann es auch am Erfolg entsprechender Bücher ablesen. Der Buchmarkt ist ein guter Indikator, um abzulesen, was die Menschen umtreibt.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Mit wachsender Erkenntnis, dass die Welt, in der wir leben, hochgradig komplex ist - ja. Aber immer austariert, mit Augenmaß. Selbstorganisation hat wie gesagt ihre Grenzen.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Wenn Selbstorganisation zum Selbstzweck wird und damit ihre Legitimität verliert. Selbstorganisation ist ein Mittel, nicht der Zweck. Ein Mittel, um bessere Ergebnisse im Kontext von Komplexität zu erzeugen und adaptiv, passgenau auf Veränderungen reagieren zu können.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für Sie und Ihre Arbeit?
Für mich ist Selbstorganisation fester Bestandteil meines Lebens und Erlebens. Wer Mündigkeit fordert und fördert, muss ihr auch den Raum lassen, sich zu entfalten und zu entwickeln. Das geht nur dort, wo die Freiheit besteht, sich im gesetzten Rahmen selbst zu organisieren. Und da es mein Job als agiler Organisationsscout ist, Menschen dabei zu unterstützen, ist Selbstorganisation fester Bestandteil meiner Arbeit.
Welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation?
Wo sind die Grenzen der Selbstorganisation? Wie verhindert man, dass Selbstorganisation zum Selbstzweck wird? Woran bemessen wir, ob Selbstorganisation effektiv und effizient ist? Wie legitimieren wir Selbstorganisation darüber hinaus? Wie schaffen wir ein ausgewogenes Verhältnis im Sinne von Beidhändigkeit zwischen Agilität/Selbstorganisation auf der einen Seite und Stabilität/Struktur auf der anderen Seite?
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen.
Zitate
"Beständige kritische (Selbst-)Reflexion, Eigenverantwortung, der Wille zur Zusammenarbeit sind Kernelemente der Selbstorganisation." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Unter Selbstorganisation verstehe ich ein System, welches in der Lage ist, sich eigenständig und in eigener Verantwortung Strukturen zu geben beziehungsweise zu schaffen, innerhalb derer dieses System agiert. Es tut dies, ohne von außen vorgegeben zu bekommen, wie diese Strukturen auszusehen haben. Das System gestaltet selbst und entscheidet für sich, wie diese Strukturen aussehen sollen." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Beim Begriff Selbstorganisation bin ich ambivalent. Selbststeuerung trifft es gefühlt in meinen Augen besser, weil der Begriff deutlich macht, dass es hierbei auch um Eigenverantwortung geht." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Wir finden Selbstorganisation in nahezu allen Branchen und Bereichen mit unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen wieder. Selbst vermeintlich hierarchische Organisationen, denen man das Attribut der Selbstorganisation auf den ersten Blick nicht zuschreiben würde, zeigen Elemente der Selbstorganisation in sich, sobald es um Interaktion geht." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Selbstorganisation ermöglicht die rasche Adaption an die Ereignisse, neue Erkenntnisse und schnelle Anpassung innerhalb eines gesetzten Rahmens und eröffnet unterschiedliche Lösungswege, die auf dem Wege empirischer Überprüfung weiterentwickelt und angepasst werden können. Selbstorganisation ist die präferierte Lösung für komplexe Fragestellungen." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Ohne einen Rahmen als Referenz kann Selbstorganisation sich nicht entfalten." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Für Selbstorganisation braucht es ein positives Menschenbild, das auf Vertrauen, Offenheit, gegenseitigem Respekt basiert." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Selbstorganisation ist Teil des menschlichen Sozialverhaltens. Der Mensch hat sich immer schon selbst organisiert." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
"Selbstorganisation ist ein Mittel, nicht der Zweck. Ein Mittel, um bessere Ergebnisse im Kontext von Komplexität zu erzeugen und adaptiv, passgenau auf Veränderungen reagieren zu können." Thomas Michl: Im Kontext von Komplexität
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Martin Bartonitz, Veronika Lévesque, Thomas Michl, Wolf Steinbrecher, Cornelia Vonhof, Ludger Wagner (Hg.): Agile Verwaltung. Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann. Verlag Springer Gabler, Berlin 2018, 270 Seiten, 49.99 Euro (D), ISBN 978-3-662576984
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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