Homo unoeconomicus

Den Homo oeconomicus gibt es nicht - ein Gespräch mit Matthias Sutter
Interview: Detlef Gürtler

Verhaltensökonomie und Spieltheorie haben es geschafft: Endlich werden sie vom Establishment als Gefahr gesehen! Ein Verhaltensökonom erklärt, warum seine Disziplin genau das Gegenteil dessen erreicht, was der Brachial-Feuilletonist Frank Schirrmacher ihr vorwirft - und was von ihr noch zu erwarten ist.

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Matthias Sutter ist Professor für experimentelle Ökonomie an der Universität Innsbruck. Der Österreicher forscht zum Thema "ökonomisches Entscheidungsverhalten von Individuen und Gruppen".
 

Okay, Herr Sutter, bringen wir es gleich am Anfang hinter uns: Sie sind Physiker, haben früher für die Rand Corporation gearbeitet, haben im Kalten Krieg die Spieltheorie erfunden und mit ihr die Sowjetunion besiegt. 

Nichts von alledem. Ich habe erst Theologie und dann Volkswirtschaft studiert, nie für die Rand Corporation gearbeitet, im Kalten Krieg war ich vorwiegend Schüler, und die Spieltheorie wurde natürlich schon vorher erfunden.
 

Aber hinterher haben Sie die Finanzmärkte erobert. Und Sie machen aus dem Menschen ein Ego-Monster, das keinen Gedanken mehr an Kooperation oder Gemeinwohl verschwendet. 

Nein, nein und nein. Sind Sie sicher, dass Sie mit der richtigen Person reden? Mein Name ist Matthias Sutter, ich lehre an der Universität Innsbruck Verhaltensökonomie …
 

… und Sie sind Spieltheoretiker. Und all das, was ich Ihnen eben an den Kopf geworfen habe, gehört zu den Vorwürfen, die Frank Schirrmacher, so eine Art Platzhirsch unter den deutschsprachigen Intellektuellen, in seinem neuen Buch Ego den Spieltheoretikern macht. 

Das wäre doch schön, wenn auf diese Weise das Interesse der Intellektuellen an Spieltheorie und Verhaltensökonomie geweckt würde. Ich sehe diese Attacke fast als eine Art Ritterschlag - wenn auch sehr undifferenziert geführt.
 

Welcher Schlag ging da denn am meisten am Ziel vorbei? 

Dass man mit der Spieltheorie die Menschen dazu zwingen würde, zu einem rein egoistischen Homo oeconomicus zu werden. Das ist doppelt falsch: Weil die Spieltheorie nicht verwendet wird, um Verhalten zu ändern, sondern um es zu beobachten - und weil die Verhaltensökonomie nachgewiesen hat, dass das Modell des Homo oeconomicus eben nicht der Realität entspricht.
 

Wie weist man das nach? 

Mit dem Ultimatumspiel - eines der einfachsten überhaupt. 100 Franken werden zwischen zwei Spielern verteilt. Der eine bestimmt die Verteilung, der andere kann das Ergebnis annehmen oder verwerfen - womit dann beide leer ausgingen. Spielen zwei Homines oeconomici dieses Spiel, kann das Ergebnis nur lauten: 99 zu eins. Spieler B müsste das annehmen, weil auch der eine Franken für ihn mehr ist als das Null-Ergebnis, das er erzielt, wenn er ablehnt.
 

Ich würde das trotzdem ablehnen - und kann mir auch niemanden vorstellen, der das annehmen würde. 

Stimmt. Faktisch hat sich überall auf der Welt gezeigt, dass Verteilungen, die schlechter als 80 zu 20 sind, so gut wie nie angenommen werden.
 

Werden solche schiefen Verteilungen denn überhaupt angeboten? Behandelt man so sein Gegenüber? 

Im Labor bieten wir natürlich auch extrem ungleiche Verteilungen an, um die Reaktion zu testen. Bei normaler Durchführung des Ultimatumspiels ist allerdings das häufigste Resultat 50 zu 50. Offensichtlich spielt bei bilateralen Verhandlungen Fairness eine wichtige Rolle.
 

Weltweit? 

Weltweit. Den durch und durch egoistischen Homo oeconomicus gibt es weder im Westen noch im Osten, weder bei Reichen noch bei Armen, weder bei Frauen noch bei Männern.
 

Dennoch wird er weiterhin verwendet. 

Als Modell. Oder als mögliche erste Annahme in einer Versuchsreihe, bei der es darum geht, das tatsächliche Verhalten von Menschen zu beschreiben. In diesem Spiel stellt er schlicht eine falsche Annahme des realen Verhaltens dar. Es geht den Menschen nicht nur um absolute, sondern auch um relative Verteilungen.
 

Wofür Sie dann eine zweite Annahme treffen und prüfen, wie sehr sie dem tatsächlichen Verhalten entspricht. 

Ja. Das bislang beste Modell hierfür stammt von Ernst Fehr und Klaus Schmidt. Es führt den Begriff der "Ungleichheitsaversion" ein. Menschen mögen ungleiche Behandlung nicht, lautet hier also die Annahme, und mit ihr lässt sich die Realität besser beschreiben.
 

Dabei kommt zwar ein deutlich freundlicheres Menschenbild heraus. Aber immer noch ein einheitliches. Obwohl doch manche Menschen mit Ungleichheit besser klarkommen als andere.  

Und überhaupt ist ja jeder Mensch anders und einzigartig …
 

… was auch die für alle gleiche Ungleichheitsaversion nicht widerspiegelt. 

Natürlich nicht. Das ist aber auch nicht der Sinn einer solchen Modellbildung. Umberto Eco hat einmal gefragt: Welchen Sinn hat eine Landkarte im Maßstab eins zu eins? Ob man mehr auf den (niemals perfekten) Überblick oder auf die Detailansicht aus ist, hängt sehr stark davon ab, was Sie beobachten oder untersuchen wollen.
 

Zum Beispiel? 

Unter welcher Bedingung sind die Menschen am ehesten bereit, zu kooperieren?
 

Und? Unter welcher? 

Ein ganz wichtiger Punkt ist es, ob jemand freiwillig mit gutem Beispiel vorangeht. Wenn einer so den ersten Schritt macht, kommen die anderen hinterher. Und wenn ein Leader diesen ersten Schritt unterlässt, wird ihn auch kein anderer machen.
 

Untersuchen Sie auch, wie man einen Leader dazu bekommt, mit gutem Beispiel voranzugehen? 

Wir verwenden die Spieltheorie nicht, um Menschen zu erziehen. Wir untersuchen aber, welche Anreize am ehesten zu einem erwünschten Verhalten führen.
 

Von Ihnen erwünscht? 

Gemäß den jeweiligen Spielregeln und sozialen Normen erwünscht. Dabei geht es insbesondere darum, verschiedene Anreizsysteme in ihrer Wirkung zu vergleichen.
 

Und was wirkt besser: Zuckerbrot oder Peitsche? 

Belohnungs- und Sanktionssysteme haben ähnliche Effekte. Allerdings wirkt die Bestrafung stärker. Vor allem aus zwei Gründen: Erstens muss eine Belohnung angewendet werden, um zu wirken. Bei einer Bestrafung reicht meistens die Drohung schon aus. Und zweitens gibt es bei der Anwendung Gewöhnungseffekte. Wenn Unternehmen erstmals ein Bonussystem einführen, steigt im Schnitt die Arbeitsproduktivität in der ersten Zeit stark an, sinkt aber nach ein paar Jahren auf den vorherigen Stand zurück. Dann erhält das Unternehmen also die gleiche Leistung wie früher, das aber zu deutlich höheren Kosten - denn den einmal eingeführten Bonus bekommen Sie so schnell nicht mehr los.
 

Vom Bonus ist der Weg ja nicht weit zu den Finanzmärkten. Sie erinnern sich, da behauptet gerade jemand, die Spieltheorie habe uns direkt in die globale Finanzkrise hineingestoßen. 

Das ist mir völlig unverständlich. In den Finanzmärkten ist die Spieltheorie üblicherweise nicht sehr einflussreich. Sie kann es schon von der ganzen Konzeption her nicht sein. In einem Markt mit einer großen Zahl von Anbietern und Nachfragern - und so sieht es an der Börse nun mal meistens aus - herrscht annähernd vollkommene Konkurrenz; dafür ist Spieltheorie nicht gemacht. Sie kommt eher dort zum Einsatz, wo es wenige Spieler gibt und jeder von ihnen durch seine Entscheidung den Gesamtverlauf des Spiels beeinflussen kann.
 

Und was ist mit den mathematischen Algorithmen, mit denen die Computer gefüttert werden, die dann im Hochfrequenzhandel gegen ihresgleichen anzocken? 

Dieser hochfrequente Computerhandel ist in weiten Teilen ein Arbitragegeschäft. Dabei werden winzige und nur sehr kurzfristig auftretende Preisdifferenzen zwischen einzelnen Handelsplätzen ausgenutzt. Das ist sicherlich sehr aufwendig zu programmieren - aber nun wirklich nicht sehr aufregend.
 

Könnte sich denn die Spieltheorie auch mit dem Verhalten von Algorithmen beschäftigen? Oder funktioniert das nur bei Menschen? 

Algorithmen werden ja immer noch von Menschen gemacht. Also sind es deren Annahmen und Strategien, die wir dort bei der Arbeit beobachten können.
 

Wenn im Computerhandel irrationales Verhalten festgestellt wird, dann liegt das also nicht daran, dass Computer eine Seele bekämen, sondern daran, dass der Programmierer eine irrationale Strategie verfolgt. 

Von einer speziellen Computerverhaltensökonomie ist mir jedenfalls nichts bekannt. Aber lassen Sie mich noch einmal bei dem Begriff des "irrationalen Verhaltens" einhaken. So wie Sie ihn verwenden, und wie er in der Regel auch im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, lehnt sich der Begriff tatsächlich stark an das Modell des Homo oeconomicus an: Rational ist ein Verhalten, das den eigenen Profit maximiert, irrational eines, das das nicht tut.
 

Und das ist verkehrt? 

Das ist jedenfalls nicht mein Verständnis. Rationales Handeln muss nicht unbedingt Profitmaximierung bedeuten - sondern Nutzenmaximierung. Und solch ein Nutzen kann sowohl monetär als auch nicht monetär sein, als auch eine Kombination aus beiden Elementen. Einem Philanthropen, der seinen Nutzen maximiert, indem er sein Geld dafür ausgibt, anderen zu helfen, unterstelle ich kein irrationales Handeln - es ist nur eine andere Rationalität als bei einem Egoisten, der seinen persönlichen Profit maximieren will. Auch das erwähnte Fehr-Schmidt-Modell unterstellt, dass sich alle Beteiligten diesem Verständnis entsprechend rational verhalten.
 

Wenn Sie das so hervorheben, gibt es wohl auch Modelle, welche die Annahme des rationalen Verhaltens aufgeben. 

Die gibt es in der Tat. Andere Modelle, von Reinhard Selten oder Daniel Kahneman zum Beispiel, halten die Rationalität des menschlichen Verhaltens für sehr begrenzt.
 

Was begrenzt sie? 

Vor allem zweierlei. Erstens, dass wir nicht alles wissen können. Wenn Sie etwa vor der Berufswahl stehen, prüfen Sie viele Alternativen und haben auch viel mehr Informationen verfügbar als Berufseinsteiger früherer Generationen - aber vielleicht wissen Sie trotzdem nicht, dass Sie auch eine Ausbildung als Geigenbauer beginnen könnten. Rationalität bedeutet die Auswahl der nutzenmaximierenden Option unter mehreren genau bekannten Varianten. Im Labor kann man das so einrichten - aber wann hat man das schon mal im wahren Leben?
 

Und die zweite Rationalitätsgrenze? 

Rationalität des menschlichen Verhaltens kann dadurch begrenzt sein, dass diejenige Person, um die es geht, gar nicht optimieren will.
 

Sondern sich mit dem zufriedengibt, was sie bereits erreicht hat. Wie Goethes Faust am Ende des zweiten Teils dem Augenblicke sagt: "Verweile doch, du bist so schön" - anstatt einen noch schöneren zu suchen. 

Es muss nicht um "schön" gehen; es kann auch ein "Okay" sein oder ein "gerade noch erträglich". In vielen Situationen und bei vielen Personen gibt es ein Anspruchsniveau, das man erreichen möchte - aber wenn diese Latte einmal übersprungen ist, bemüht man sich nicht weiter.
 

Das ist doch realistisch, oder? 

Natürlich ist auch uns bewusst, dass der Mensch nicht immer maximiert und optimiert. Und theoretisch könnte man auch für jeden einzelnen Menschen herausfinden, ob er sich die Latte eher auf 1,10 Meter oder auf 2,20 Meter legt. Im Labor allerdings bleiben wir dennoch bei der Annahme rationalen Verhaltens.
 

Gibt es bei diesem Drang - oder eben Nicht-Drang - nach Maximierung eigentlich einen Unterschied der Geschlechter? 

Für Wettbewerbssituationen habe ich das im Labor erforscht - und dabei auch Lösungen wie die derzeit wieder heiß diskutierte Frauenquote in Unternehmen im Labor überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass in Situationen ohne Quote auch sehr leistungsfähige Frauen häufig davor zurückscheuten, sich dem Wettbewerb überhaupt auszusetzen. Das ist sowohl ein betriebswirtschaftliches als auch ein volkswirtschaftliches Problem - weil große produktive Potenziale nicht genutzt werden. Wenn hingegen in einer solchen Wettbewerbssituation Geschlechterquoten eingeführt werden, kann das im Test die besten Frauen dazu motivieren, mehr zu leisten.
 

Sodass eine Frauenquote volkswirtschaftlichen Nutzen bringt? 

Die Laborergebnisse sprechen dafür. Es können sich aber in der Realität auch durchaus andere Ergebnisse einstellen.
 

Weil dann doch ein Krieg zwischen den Geschlechtern ausbricht? 

Das dann doch nicht. Aber zum Beispiel, weil sich langfristige Auswirkungen ergeben können, die ich im Labor nicht prüfen konnte. Eine Frauenquote für Führungspositionen könnte auf lange Sicht dazu führen, dass bei den Männern die Leistungsbereitschaft sinkt.
 

Oder steigt.  

Oder unverändert bleibt. Wir wissen es nicht. Ich kann aus der Grundlagenforschung Erkenntnisse gewinnen, die in der Praxis anwendbar sind. Aber diese Anwendung kann immer in beide Richtungen gehen, kann Gutes und Schlechtes bewirken. Da unterscheidet sich die Verhaltensökonomie nicht grundsätzlich von Disziplinen wie Psychologie, Genetik oder Kernphysik.
 

Eine Atombombe wird man aus Ihren Forschungsergebnissen wohl kaum konstruieren können. 

Kaum. Aber nehmen Sie ein uns etwas näherliegendes Beispiel. Verhaltensökonomen sammeln Erkenntnisse darüber, was Menschen bei der Arbeit zufriedener macht. Diese Erkenntnisse der Grundlagenforschung kann ein Betrieb so anwenden, dass er die Zufriedenheit seiner Beschäftigten erhöht - oder so, dass er es schafft, bei gleichem Zufriedenheitslevel die Löhne zu senken, also seine Beschäftigten auszubeuten.
 

In einem solchen Fall könnte wiederum die Unzufriedenheit in der Gesellschaft steigen … 

… das wäre dann wohl wieder einer dieser Effekte, die nicht im Labor überprüft werden konnten …
 

… was insbesondere dann gefährlich werden kann, wenn Ihre Zunft es mit irrationalen Feinden zu tun hat. "Digital luddite" nannte der US-Publizist Jeff Jarvis den Ego-Schreiber Schirrmacher. 

Maschinenstürmerei wie bei den Ludditen vor 200 Jahren? Diese Möglichkeit halte ich, leider, für real.
 

Das Interview ist erschienen in GDI Impuls 1/13, S. 74-79


Zitate


"Den durch und durch egoistischen Homo oeconomicus gibt es weder im Westen noch im Osten, weder bei Reichen noch bei Armen, weder bei Frauen noch bei Männern." Matthias Sutter: Homo unoeconomicus

"Rationalität des menschlichen Verhaltens kann dadurch begrenzt sein, dass diejenige Person, um die es geht, gar nicht optimieren will." Matthias Sutter: Homo unoeconomicus

 

changeX 22.03.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Detlef Gürtler
Gürtler

Detlef Gürtler, Jahrgang 1964, ist Senior Researcher am Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut und war bis 2016 Chefredakteur des Zukunftsmagazins GDI Impuls. Gürtler ist Autor erfolgreicher Wirtschaftssachbücher (Die Dagoberts, Die Tagesschau erklärt die Wirtschaft), Kolumnist ("Gürtlers gesammelte Grütze" in der Welt Kompakt) und Blogger (tazblog Wortistik).

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