Völlig losgelöst
Im Blick des Westens erscheint China gleichermaßen als Faszinosum und als Bedrohung. Zusammen mit seiner Frau beschreibt Trendforscher John Naisbitt den unerklärlichen Aufstieg des Landes nun aus der Binnensicht: als Entstehung eines völlig neuen Gesellschaftsmodells.
Das Bild, das man im Westen vom politischen China zeichnet, ist düster. Da ist von Einparteienherrschaft die Rede, von fehlender Meinungs- und Pressefreiheit, von Unterdrückung, Gewalt und Willkür. Das Ereignis, das diese Sichtweise prägt, ist das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989. Verstärkt wird sie durch Chinas Vorgehen gegen die Proteste der tibetischen Mönche. Gleichzeitig aber gibt es ein zweites Bild von China, das Seite an Seite neben dem ersten steht. In dieser Erzählung geht es um das China des wirtschaftlichen Wachstums: das China des zunehmenden Wohlstands, mit dem außenpolitisch als Machtfaktor zu rechnen ist. Sieht man China durch die Brille dieser beiden Bilder, entsteht eine beängstigende Vision von China als zukünftiger weltpolitischer Macht.
In ihrem Buch Chinas Megatrends. Die 8 Säulen einer neuen Gesellschaft wechseln der amerikanische Zukunftsforscher John Naisbitt und seine österreichische Frau Doris Naisbitt die Perspektive – und erzählen Chinas Entwicklung von innen heraus. Die Basis dafür sind eine Auswertung und Analyse der lokalen Presseberichterstattung in sämtlichen Provinzen Chinas durch das 2007 gegründete Naisbitt China Institute in Tianjin sowie zahlreiche Interviews mit Führungskräften aus Wirtschaft und Politik. Die Ergebnisse ihrer Content-Analyse und Interview-Auswertung wirbeln die westliche Erzählung von China kräftig durcheinander. Allerdings stellen die Naisbitts diese nicht ungefiltert dar. Der Erzählrahmen, den sie für ihr Buch gewählt haben, präsentiert China als ein Unternehmen, das sich von einer „alten, diktatorisch gelenkten Firma China in ein modernes Unternehmen des 21. Jahrhunderts verwandelt“. Als visionären Unternehmenslenker, der hinter diesem Wandel steht, sehen sie dabei Deng Xiaoping. Er – und in seiner Nachfolge der jetzige Präsident Hu Jintao – wird bei ihnen zum Helden und Übervater.
Emanzipation des Denkens.
Die Schlussfolgerung und zugleich Hauptthese ihres Buchs: China ist „im Begriff, ein völlig neues soziales und wirtschaftliches System zu schaffen“, das ein „alternatives Modell zur modernen Demokratie“ werden könne. Bisher kursierende Begriffe wie „chinesischer Kapitalismus“, „sozialistische Marktwirtschaft“ oder auch „Sozialismus mit chinesischen Charakteristika“, wie es die chinesische Führung selbst nennt, treffen den Kern dieses sich herausschälenden neuen Systems nicht, meinen die Naisbitts. Denn ein neues System lasse sich nicht mit dem Vokabular des alten fassen. Das neue Vokabular muss sich erst entwickeln – und zwar aus dem entstehenden neuen Denken heraus, das sie in China ausmachen und als ein Resultat einer „Emanzipation des Denkens“ beschreiben: In dieser sehen sie die erste der acht Säulen von Chinas rasantem Wandel. Weitere Säulen fassen den tief greifenden Wandel in Chinas Wirtschafts-, Sozial- und Wissenschafts- und Außenpolitik: „der Balanceakt zwischen Spitze und Basis“; „dem Wald grenzen setzen, doch die Bäume wachsen lassen“; „von Stein zu Stein ertasten wir unseren Weg durch den Fluss“; „künstlerische und intellektuelle Inspiration“; „ein Teil der Weltgemeinschaft“; „Freiheit und Fairness“ sowie „von olympischem Gold zu Nobelpreisen“. Der strittigste Punkt im Buch ist aber Säule Nummer zwei: Bei diesem Balanceakt entsteht ein Gebilde, das die Autoren „vertikale Demokratie“ nennen. Damit bezeichnen sie die „Dynamik“, die sich aus den „von der Spitze vorgegebenen Richtlinien“ und den „Initiativen der Basis“ ergibt. Die Demokratie in dieser „vertikalen Demokratie“ hat aber nichts mit freien Wahlen zu tun. Sondern mit Kommunikation zwischen den Mächtigen und dem Volk. „Vertikale Demokratie“ bezeichnet „vertikale Strukturen, die einen ständigen Strom von Ideen, Initiativen und Erfahrungen durch alle Hierarchien hinauf und wieder hinunter gewährleisten“. Zweifellos ist eine Führung, die „den Stil kontextorientierter Führung“ pflegt und Initiativen von unten erlaubt, ein großer Fortschritt gegenüber dem China der 70er-Jahre. Und es ist schön, wenn „die Macht der Basis wächst“. Demokratisch macht das China aber noch nicht. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass die Chinesen Freiheit anders definieren, wie die Naisbitts behaupten: nämlich als Bewegungsfreiheit in einem vorgegebenen Rahmen. Es mag zwar sein, dass die chinesische Bevölkerung in diesem Sinne „frei“ ist. Und es passt auch gut in den Erzählrahmen der Naisbitts: das Staatsgebilde Chinas als ein Unternehmen zu beschreiben. Gleichzeitig wird hier die Grenze dieses Ansatzes deutlich. „Freiheit“ ist eben nicht gleichbedeutend mit Demokratie, Unternehmen sind nicht das Gleiche wie Staaten – sie haben weder die gleiche Funktion noch das gleiche Ziel. Demokratie als politische Ordnung setzt – wie holprig das in der Praxis auch manchmal funktionieren mag – das Volk als Souverän und Gleichheit vor Recht und Gesetz sowie Gewaltenteilung voraus.
Kritik am westlichen Blick auf China.
Chinas Megatrends ist ein interessantes und informatives Buch. John und Doris Naisbitt entwerfen das Bild eines pluralistischen, dynamischen Staats im Wandel mit einer expandierenden Presselandschaft und kritisieren berechtigterweise den einseitigen westlichen Blick auf China. Sie thematisieren auch Kritikpunkte wie die weitverbreitete Korruption, bleiben dabei jedoch stets diplomatisch und vorsichtig im Ton. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass sie von chinesischen Freunden zum Schreiben des Buchs aufgefordert wurden und Kontakte zu politischen und wirtschaftlichen Führungskräften haben, die ausführlich zu Wort kommen. Möglicherweise ist dies auch der Grund dafür, dass das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens nur en passant und Tibet und Taiwan unter dem Titel „Streitfragen“ auf wenigen Seiten beinahe als Anhang an den eigentlichen Textkorpus behandelt werden.
changeX 15.09.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Carl Hanser Verlag
Weitere Artikel dieses Partners
Warum wir es gerne einfach hätten und alles immer so kompliziert ist - das neue Buch von Peter Plöger zur Rezension
Biohacking - das neue Buch von Hanno Charisius, Richard Friebe, Sascha Karberg zur Rezension
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Finanzbuchpreis 2013: Geld denkt nicht von Hanno Beck zur Rezension
Ausgewählte Links zum Thema
-
Verlagsseite mit Inhaltsverzeichnis, Vorwort und einer Leserprobe als PDF zum Downloadwww.hanser.de/buch ...
Zum Buch
John & Doris Naisbitt: Chinas Megatrends. Die 8 Säulen einer neuen Gesellschaft. Carl Hanser Verlag, München 2009, 306 Seiten, ISBN 978-3-446-41959-9
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon