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Vorausschau oder Zukunftsforschung?
Zukunft ist Nichtwissen. Zunächst. Obwohl wir grundsätzlich nicht wissen können, was kommen wird, gestalten wir mit unserem Handeln heute Zukunft mit. Und machen uns Bilder und Vorstellungen von der Welt von morgen. Welche Zugänge wir zur Zukunft entwickeln können, davon handelt diese Serie. In Folge vier fragt Kerstin Cuhls nach den Grundlagen der Disziplin und ihren Grenzen. Worum geht es: Vorausschau oder Zukunftsforschung?
Abstract: Vorausschau/Foresight und Zukunftsforschung sind mittlerweile etabliert. Dass die Diskussion über diese Begriffe nicht abreißt, ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Zukunftsforschung bislang keine anerkannte Wissenschaft ist - oder ist sie eher eine Kunst? Gespeist wird der Diskurs von einem starken Bedürfnis: Die Zukunft zu verstehen, um sich besser darauf vorbereiten zu können. Aber liegt in dem Nicht-Wissen nicht auch ein Stück Freiheit? Was wäre zum Beispiel, wenn man seine persönliche Zukunft kennen würde? Wäre es nicht langweilig, alles schon vorher zu wissen?
Auf dem Weg
Seit ich 1992 in die Vorausschau hineingestolpert bin, führe ich Debatten darüber, was man unter "Vorausschau" (englisch: "foresight") eigentlich versteht und ob der Begriff "Zukunftsforschung" der passende ist. Das mag spitzfindig klingen, ist aber notwendig, um zu verstehen, was Vorausschau oder Zukunftsforschung überhaupt leisten können - und was nicht.
Unser Wissen über die Zukunft ist beschränkt, das müssen wir akzeptieren. Aber ist das Wissen über die Vergangenheit nicht ebenso unvollständig? Während der Historiker immerhin auf Quellen verweisen kann, die für bestimmte Epochen einigermaßen vollständig und glaubwürdig sein können, hat der Zukunftsforscher in dieser Hinsicht nichts zu "erforschen". Quellen im eigentlichen Sinne gibt es in unserer Branche nicht. Vielmehr geht es darum, einen offenen Blick in die Zukunft oder auf unterschiedliche Zukünfte zu werfen, und zwar systematisch, um langfristige Problemlösungen zu erarbeiten beziehungsweise die Zukunft so gut wie möglich zu gestalten.
Wir können versuchen, positive Richtungen zu verstärken, negative abzuschwächen oder ganz zu verhindern, indem wir entsprechende Vorkehrungen treffen. Im Alltag erscheint uns das selbstverständlich: Wir erwarten wechselhaftes Wetter, also nehmen wir die Regenjacke oder den Schirm mit. Bei strahlendem Sonnenschein lassen wir Regenjacke und Schirm einfach zu Hause.
Nicht alles ist so trivial. Die Welt wird immer komplexer. Manches wissen wir schon recht genau - ein Rest Unsicherheit bleibt jedoch immer. Eben dies herauszufinden oder die Grenzen unseres Wissens einzuschätzen, darum geht es in der Vorausschau.
Noch mal genauer
Inzwischen sind Vorausschau/Foresight und Zukunftsforschung etabliert. Je nach Ziel und Fragestellung kommen unterschiedliche Methoden und Methodenkombinationen zum Einsatz. Zukunftsforschung kann man mittlerweile sogar in einem Masterstudiengang an der FU Berlin studieren. Dabei ist die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen fließend, gelegentlich werden die Worte synonym verwendet. In der Regel verläuft die Trennung zwischen dem wissenschaftlichen Angebot der Ausbildung, zum Beispiel an Universitäten, die ernsthafte "Forschung" im Namen für notwendig erachten, auf der einen Seite und den eher beratenden Aktivitäten, die unter Vorausschau/Foresight geführt werden, auf der anderen. Auch im deutschsprachigen Sprachraum wird in vielen Fällen das Wort Foresight verwendet, um international anschlussfähig zu sein (zum Beispiel BMBF Foresight). Für die praxisorientiert ausgerichteten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ist Vorausschau (Foresight) die "strukturierte Auseinandersetzung mit komplexen Zukünften".
Foresight ist ein systematischer Ansatz, der sich aller Methoden der Zukunftsforschung bedient. Vorausschau und Zukunftsforschung sind keine eigenständigen Wissenschaften, sondern nutzen nachvollziehbare Methoden unterschiedlicher Disziplinen; deshalb wird die Vorausschau oft als eine "Kunst" angesehen, auch weil sie viel implizites Wissen erfordert. Vorausschau ist prospektiv, ein Anspruch auf determinierte Voraussagen besteht jedoch nicht, vielmehr trägt sie sowohl normative wie auch explorative Züge. Daher wurde der Begriff gezielt im Sinne von "einen offenen Blick in die Zukunft werfen" gewählt. Die Perspektive ist dabei grundsätzlich langfristig, auch wenn viele der Ableitungen mittel-, kurzfristig oder sogar gegenwartsbezogen sein können. Die Vorausschau ist keine Planung, sondern nur ein Schritt hin zu einer Planung (1), der viele Informationen liefern kann. Der japanische Zukunftsforscher Inoue hat 1965 die (Technik-)Vorausschau folgendermaßen definiert (2): Sie soll
1. systematisch organisieren, was man nicht weiß,
2. feststellen, was man wissen muss,
3. den Sinn dessen, was man nicht weiß, diskutieren,
4. herausfinden, warum man etwas nicht weiß, und diese Arbeit organisieren,
5. erforschen, welches neue Wissen notwendig ist, und
6. durch neue Ideen "aufräumen".
Zukunftsforschung wird zwar unterrichtet, aber eine anerkannte Wissenschaft ist sie bisher nicht. Die Frage, ob Vorausschau und Zukunftsforschung eine Wissenschaft oder eher eine Kunst sind, so Bertrand de Jouvenel 1967, ist nach wie vor unbeantwortet.
Ein Werkzeugkasten
Das Spektrum an Methoden ist beträchtlich, es reicht von (Delphi-)Befragungen über Workshops bis zu Szenarien, kreativen Ansätzen oder einfach nur "aufschreiben". Je nach Fragestellung und Ziel gilt es, die adäquate Methode zu wählen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung lässt beispielsweise einen "Erfahrungsschatz" erarbeiten, um zu dokumentieren, wer in welchem Fall mit welcher Methode gearbeitet hat. Thesen in Delphi-Verfahren (ein mehrstufiger Befragungsansatz der Vorausschau) werden grundsätzlich positiv formuliert. Dies hat mehrfach den Vorwurf nach sich gezogen, "die Welt durch eine rosarote Brille zu sehen". Auch im internationalen Kontext werden unterschiedliche Herangehensweisen erprobt. (3)
Zukunftsforschung speist sich aus unterschiedlichen Disziplinen, die von Geschichts- bis zu Naturwissenschaften reichen können. Die Methoden stammen teilweise aus der Volkswirtschaft, dem Operations Research oder den Sozialwissenschaften beziehungsweise der Soziologie, wenn es um quantitative Verfahren geht. Mathematik und Statistik sind oft ebenso notwendig wie geschichtliche Einordnungen. Die eine "Theorie" der Vorausschau existiert (noch) nicht, wenngleich die Werke von Wendell Bell oder Bertrand de Jouvenel erste Ansätze bieten.
Entscheiden viele besser als Einzelne? Gibt es so etwas wie "Schwarmintelligenz"? Dies ist eine der grundlegenden Annahmen bestimmter Methoden (zum Beispiel bei Delphi-Verfahren, Prediction Markets, Auswertungen in sozialen Medien, Meinungsbefragungen et cetera). Empirische Untersuchungen belegen dies. Andere sprechen eher dagegen. Für Innovationen (also Neues, das markttauglich und umsetzbar ist) und ihre Entwicklung sind dagegen häufig geniale Einzelerfindungen oder Grundlagenforschung verantwortlich, zuzüglich eines erfolgreichen Unternehmergeistes für die Umsetzung. Die genannten Methoden können Einschätzungen zu Entwicklungen (auch Innovationen) hinsichtlich bestimmter Kriterien liefern. Sie sind jedoch nicht dazu angetan, Neues zu schaffen. Im letzten nationalen Foresight-Prozess von 2009 (4) lag der Charme darin, unterschiedliche Themen zu verbinden und aufzuzeigen, wie an Schnittstellen Neues entstehen kann. Freilich braucht es immer Führungspersönlichkeiten, die sich um die Umsetzung der Erkenntnisse bemühen.
Ab in die Praxis
Die Erwartungen an die Zukunftsforschung sind hoch. Immer wieder wollen Innovationsmanager und strategische Planer wissen, wie denn die Zukunft werden wird. Persönlich mag ich den Begriff Zukunftsforschung deshalb nur bedingt, suggeriert er doch, dass man Zukunft erforschen könne. Andererseits will "Forschung" ja auch wissenschaftlich anerkannt sein. Manchmal wissen wir recht genau, was die Zukunft bringen kann. In anderen Fällen kennen wir die Zukunft sicherlich nicht und schon gar nicht punkt- und zeitgenau. Dass wir nicht wissen, was genau am 14. September 2053 geschehen wird, sollte jedem klar sein. Dass sich aber jeder unterschiedliche Bilder ausmalen kann, wie die Welt im Jahr 2053 aussehen könnte, sich die positiven Aspekte vor Augen führt, um sie möglich zu machen, und genauso die negativen Aspekte bedenkt, um sie gegebenenfalls zu verhindern oder abzumildern, sollte selbstverständlich sein. Ist es aber nicht.
Die Zukunft im Bereich von Wissenschaft und Technik ist zum großen Teil gestaltbar, da Technik per definitionem von Menschen gemacht wird. Trotzdem wirken auch hier viele unterschiedliche Faktoren in die Entwicklung hinein, etwa die Verfügbarkeit von Wissen, Personal, Kapital und so weiter. In gesellschaftlichen Bereichen fällt die Gestaltung der Zukunft noch deutlich schwerer, da hier besonders viele Faktoren zur Wirkung kommen: Das Verhalten der Menschen ist selten rational, daher können die Einschätzungen hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen nicht kausal vorgenommen werden und bleiben sehr unsicher. Dies gilt übrigens auch für den Einsatz von Technik.
Für die Gestaltung der Zukunft ist eine "Vision" oder ein "Leitbild" entscheidend. Nur wenige Menschen wissen auf Anhieb, was sie wirklich wollen. Dazu die richtigen Fragen zu stellen, sie auch langfristig zu durchdenken, das ist der Beitrag von Vorausschau und Zukunftsforschung.
Und nun?
Kassandra-Rufe will niemand hören, Bedenken auch nicht. Positive Ideen fallen deshalb eher auf fruchtbaren Boden. Trendforscher mit ausgeprägtem Sinn für (Selbst-)Marketing sind da im Vorteil. Einfache Lösungen, Bilder oder Slogans sind zwar nicht unbedingt nachhaltig - vielleicht ist das aber auch nicht immer gewollt. In jedem Fall spielt das "Timing", wann Publikationen lanciert werden, heute eine große Rolle.
Schnelle Information ist Trumpf, aber leider oft nicht wirklich gut oder zu Ende durchdacht. Was lange währt, wird häufig auf die sprichwörtlich lange Bank geschoben. In der Zukunftsforschung geht es aber vielfach um schleichende Prozesse, die sich über eine längere Zeit entwickeln, anfangs "harmlos" sind, aber plötzlich "kippen" und akut werden - wie in dem Bild des Frosches im Topf, der die langsame Erwärmung seiner Umgebung nicht registriert und regelrecht zu Tode gekocht wird.
Auch deshalb ist business as usual in der Regel keine gute Option, denn nur der Wandel ist beständig. Im Klartext heißt das, wir müssen uns immer an die sich verändernde Umwelt anpassen. Dennoch ist es möglich, die Zukunft zu gestalten. Die entsprechenden Möglichkeiten sollten wir nutzen und gezielt anwenden - uns aber immer bewusst sein, dass wir die Zukunft nicht kennen und weiter mit Unsicherheiten leben und unter Unsicherheit unsere Entscheidungen treffen müssen.
Vielleicht sollten wir Menschen nicht versuchen, alles exakt zu planen. Nur bei ausreichenden Freiräumen bleiben wir flexibel und anpassungsfähig. Und wenn wir die Zukunft vorhersagen könnten, ganz exakt - mal ehrlich -, wie sähe denn Ihr persönliches Szenario aus? Wie gehen Sie damit um? Was machen Sie mit dem Wissen? Und: Wäre es nicht langweilig, alles schon vorher zu wissen?
Quellen
(1) Siehe Coates 1985
(2) Inoue 1965, eigene Übersetzung und Zusammenfassung
(3) Für Zusammenstellungen siehe Cuhls 2008 oder auch die European Foresight Platform
(4) Cuhls/Ganz/Warnke 2009
Literatur
Bell, Wendell (Hg.): Foundations of Futures Studies: Human Science for a New Era: History, Purposes, and Knowledge, Band 1, Transaction Publishers 2003, und Band 2, Transaction Publishers 2004
Coates, Joseph F.: "Foresight in Federal Government Policymaking", in: Futures Research Quarterly, Sommer 1985, S. 29-53
Cuhls, Kerstin: Methoden der Technikvorausschau - eine internationale Übersicht, IRB Verlag, Karlsruhe/Stuttgart 2008
Cuhls, Kerstin; Ganz, Walter; Warnke, Philine (Hg.): Foresight-Prozess im Auftrag des BMBF. Etablierte Zukunftsfelder und ihre Zukunftsthemen, IRB Verlag, Karlsruhe/Stuttgart 2009, www.isi.fraunhofer.de/bmbf-foresight.php
Cuhls, Kerstin; Ganz, Walter; Warnke, Philine (Hg.): Foresight-Prozess im Auftrag des BMBF. Zukunftsfelder neuen Zuschnitts, IRB Verlag, Karlsruhe/Stuttgart 2009, www.isi.fraunhofer.de/bmbf-foresight.php
European Foresight Platform: http://www.foresight-platform.eu/ (Zugriff 10.02.2012)
Inoue, Takeo: Gijutsu Yosoku, Tokyo 1965, eigene Übersetzung und Zusammenfassung
Jouvenel, Bertrand de: Die Kunst der Vorausschau, Luchterhand, Neuwied/Berlin 1967
Sinclair, Marta (Hg.): Handbook of Intuition Research, Edward Elgar, Cheltenham/Northampton 2011
Links siehe rechte Spalte
Zitate
"Die Frage, ob Vorausschau und Zukunftsforschung eine Wissenschaft oder eher eine Kunst sind, so Bertrand de Jouvenel 1967, ist nach wie vor unbeantwortet." Kerstin Cuhls: Vorausschau oder Zukunftsforschung?
"Nur wenige Menschen wissen auf Anhieb, was sie wirklich wollen. Dazu die richtigen Fragen zu stellen, sie auch langfristig zu durchdenken, das ist der Beitrag von Vorausschau und Zukunftsforschung." Kerstin Cuhls: Vorausschau oder Zukunftsforschung?
"Wäre es nicht langweilig, alles schon vorher zu wissen?" Kerstin Cuhls: Vorausschau oder Zukunftsforschung?
changeX 06.06.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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European Foresight Platformwww.foresight-platform.eu
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Übersicht über die bisher erschienenen Folgen der Serie "Zukunft der Zukunft"Zukunft der Zukunft
Autorin
Kerstin CuhlsDr. Kerstin Cuhls ist seit 20 Jahren am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) als Projektleiterin tätig. Sie hat dort den Forschungsbereich Vorausschau und Zukunftsforschung mit aufgebaut und von 2008 bis 2010 ein entsprechendes Geschäftsfeld geleitet. Seit 2011 ist Kerstin Cuhls Vertretungsprofessorin für Japanologie an der Universität Heidelberg, Zentrum für Ostasienwissenschaften, und hat seit 2010 einen Lehrauftrag im Masterstudiengang Zukunftsforschung der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsgebiete sind moderne Japanologie inklusive der Zukunft Japans sowie Methoden der Zukunftsforschung, insbesondere Delphi-Befragungen und Workshop-Kombinationen.