Kleine flexible Gemeinschaften
Die Z_punkt-Trendkolumne: Die europäische Integration steht an einer historischen Weggabelung. | Folge 1 |
Welche schwachen Signale deuten schon heute auf einen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft? Welche denkbaren Konsequenzen werden sie mit sich bringen und was kann das für eine mögliche Zukunft bedeuten? Antworten auf diese Fragen liefert die neue monatliche Trendkolumne von changeX und Z_punkt GmbH The Foresight Company. Sie greift aktuell relevante Entwicklungen und Themen auf, die Hinweise auf einen langfristigen Wandel geben, und analysiert Trends aus allen gesellschaftlichen Bereichen, von der europäischen Integration und der künstlichen Intelligenz über die Nanotechnologie bis hin zum ökonomischen Aufstieg Asiens und einer neuen Konsumentenwelt. Basis dieser Kolumne ist die umfangreiche und systematisch gepflegte Z_trenddatenbank, ein von Z_punkt entwickeltes innovatives Wissenstool.
Mit dem Beitritt der zehn mittel-
und osteuropäischen Staaten im Mai 2004 werden grundlegende
Fragen der institutionellen Struktur wie auch der inhaltlichen
Aufgaben der Europäischen Union aufgeworfen. Der Prozess einer
einheitlichen Integration wird zusehends von differenzierten
Integrationsmechanismen abgelöst.
Die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union
verlangt nach durchgreifenden Reformen auf allen Ebenen. Sowohl
inhaltlich als auch prozessual-strukturell scheint sich momentan
in Brüssel nicht all zu viel zu bewegen. Der Irak-Konflikt hat
die außenpolitischen Divergenzen zwischen dem "alten" und dem
"neuen" Europa zu Tage gefördert. In der Verfassungsdebatte
stehen sich die großen, mittleren und kleinen Staaten bei der
Frage der institutionellen Neugestaltung beharrlich gegenüber.
Der Stabilitätspakt scheint das Papier nicht wert, auf dem er
unterzeichnet wurde. Generell deuten viele ökonomische
Indikatoren auf einen weiteren Stillstand hin. Die mittelfristige
Finanzplanung (2006-2013) für die Agrar- und Strukturpolitik wird
zum ersten Lackmustest einer erfolgreichen Osterweiterung. Und
die politische Herkunft der Regierenden revidiert über Nacht -
wie aktuell in Spanien zu erleben - die starre
Verhandlungsposition von Staaten.
Keiner dieser Punkte kommt einer Lösung durch die
Osterweiterung näher. Im Gegenteil ist punktuell mit einer nicht
unwesentlichen Verschärfung der Konfliktlinien zu rechnen.
Experimentieren für ein effektives Europa.
Das fein austarierte
Aushandlungssystem zwischen nationaler und europäischer Ebene
produziert immer seltener wünschenswerte Ergebnisse. Der
"Brüsseler Basar" stößt bei 25 oder mehr Mitgliedern aber
unweigerlich an seine logistischen Grenzen. Handlungsfähigkeit
gewinnen oder behalten kann die Union daher nur, wenn sie
partiell auf flexible Integrations- und Kooperationsmodelle
zurückgreift. So wird in der europapolitischen Praxis bereits
heute verstärkt auf das rechtlich unverbindliche Instrument der
"offenen Koordinierung" zurückgegriffen. Diese Methode basiert
beispielsweise auf einem Benchmarking-Prozess nationaler
Initiativen und soll den politischen Handlungsspielraum sowie
flexible, effektive Problemlösungen gewährleisten.
Die hohe Komplexität der politisch-rechtlich zu
behandelnden Sachverhalte ist zukünftig nur noch steuerbar, wenn
Experimentierklauseln häufiger genutzt werden. Grundsätzlich
besteht das Dilemma darin, dass Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge
nur selten vorausgesagt werden können. Durch die rechtliche
Fixierung von gesellschaftlichen, ökonomischen oder technischen
Sachverhalten drehen bei Fehlentwicklungen die Mühlen der
Legislative und Exekutive zu lange, um adäquat und schnell
reagieren zu können. Hier schaffen flexible Lösungsansätze eher
Abhilfe.
Einheit durch Vielfalt.
Ganz langsam zeichnen sich auch Konturen einer gemeinsamen europäischen Identität ab. Symbolträchtige Ereignisse wie die europaweiten Demonstrationen gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003, aber auch die Solidaritätsbekundungen mit den Opfern der Terroranschläge von Madrid am 11. März 2004 sind erste schwache Signale dieser Entwicklung. Es gibt trotz aller erhaltenswerten kulturellen Vielfalt einen harten Kern paneuropäischer Werte. Die kulturellen Barrieren, die sich noch Jahrzehnte entlang nationaler Grenzen erhalten konnten, werden zunehmend durchbrochen. Transnationales Bewusstsein entsteht durch regen sozialen Kontakt in den so genannten Euregios. Innerhalb eines sich integrierenden Europas nehmen einzelne, auch grenzüberschreitende Regionen eine wachsende Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinschaft, aber auch für die Gewinnung der Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung ein. Ihre Relevanz wird im Zuge der Osterweiterung weiter steigen.
Euregios als dynamische Wirtschaftsräume.
Die Euregios bilden regionale Integrations- und Wachstumskerne für die europäische Wirtschaft. Unternehmen, die sich in diesen Regionen engagieren, werden von Vorteilen durch den Ausbau der Infrastruktur und den Abbau der Bürokratisierung profitieren. Zusätzlich lassen sich höhere Lerneffekte durch den stärkeren Austausch zwischen den verschiedenen Märkten erzielen. Dabei sind die Euregios auch als Brückenköpfe zur regionalen Integration der Arbeitsmärkte anzusehen. Der Wettbewerb zwischen diesen Regionen wird auch eine neue europäische Innovationskultur stimulieren.
Europas Rolle in der künftigen Welt muss definiert werden.
Eine weitere neue Aufgabe, nämlich der Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und damit auch der gemeinsamen Verteidigungspolitik (ESVP), steht angesichts veränderter internationaler Konstellationen aufgrund der Risiken des Terrorismus und der Anforderungen an weltweite Friedenspolitik stärker im Mittelpunkt. Ob dieser gravierende Einschnitt in die nationale Souveränität tatsächlich vollzogen wird, ist aus heutiger Sicht nach wie vor fragwürdig. Hier zeigt sich ein Hauptmanko des vereinten Europas: Wie ist es zu erreichen, dass die Europäische Union, bestehend aus bald 25 Mitgliedstaaten, außenpolitisch mit einer Stimme spricht? Will man auf der einen Seite das außenpolitische Gewicht Europas trotz des hemmenden Einstimmigkeitserfordernisses weiter vorantreiben, auf der anderen Seite aber militärische Ad-hoc-Koalitionen außerhalb des Vertragsrahmens vermeiden, so ist der Weg der differenzierten Integration unumgänglich.
Leitbild flexible Integration.
Selbst eine Union mit 35 und mehr
Ländern ist nicht gänzlich ausgeschlossen. Europa wird sich in
weiteren Erweiterungsschritten im kommenden Jahrzehnt auf
Bulgarien, Kroatien, Rumänien (Beitritte für 2007/2008 zu
erwarten), die weiteren Balkan-Staaten, eventuell die Schweiz und
Norwegen sowie die Türkei konzentrieren. Für Letztere sieht die
Beitrittsperspektive trotz eingeleiteter nationaler Reformen
(unter anderem im Menschenrechtsbereich) in diesem Jahrzehnt
ungünstig aus. Dabei wird die EU mittel- bis langfristig nicht
umhinkommen, in einigen, vor allem wirtschaftlichen
Politikfeldern eine partielle Integration zuzulassen.
Eine "EU der 30+" wird mit Einstimmigkeitsprinzip nicht
mehr funktionsfähig sein und sich nicht auf ein für alle
Mitglieder zufrieden stellendes Mehrheitsprinzip einigen können.
Die Inhalte der Politik würden dann voraussichtlich innerhalb
radikal geänderter Prozesse und Strukturen entschieden und
umgesetzt werden. Von daher etablieren sich wahrscheinlich viele,
teilweise auch temporäre "kleine Gemeinschaften", die auf dem
Prinzip der differenzierten (oder flexiblen) Integration beruhen.
Differenzierte Integration bedeutet, dass die Staaten, die fähig
und willig sind, weitergehende Integrationsschritte zu
vollziehen, für ein bestimmtes klar definiertes Politikfeld von
dieser Möglichkeit Gebrauch machen, ohne dass es ein Vetorecht
für nicht teilnehmende Staaten gibt. Allen später
Beteiligungswilligen steht mittels einer Opt-in-Klausel die
Teilnahme weiterhin offen. Zustimmung kommt zum Beispiel von der
Bertelsmann-Stiftung in Bezug auf die Bildung einer
Verteidigungsunion aus kooperationswilligen Mitgliedstaaten: "Es
ist besser, im kleinen Kreis einen entscheidenden Schritt
voranzukommen, als im großen Kreis auf kleine Schritte zu
warten." Dieses Prinzip könnte sich zum künftigen Leitbild
Europas entwickeln.
Ein positives Szenario.
Die EU als Ganzes wird auch
zukünftig eher eine wirtschaftliche Freihandelszone mit
einheitlichem Binnenmarkt denn eine politische Union darstellen.
Trotzdem besteht aufgrund der differenzierten Integrationsregeln
mit einer absoluten Opt-in-Option die Chance auf eine positive,
freundschaftliche Atmosphäre. Der EU-Raum kann wieder zu einer
der prosperierendsten Wirtschaftsregionen der Welt aufsteigen und
eventuell die USA in der absoluten Leistung hinter sich lassen.
Sollte sich kooperatives Verhalten als gesellschaftliche
Kulturnorm durchsetzen, verstehen sich Bürger, Staat und
Wirtschaft als Partner, nicht als Gegner. Der Staat wird sich
weiter auf seine Kernkompetenzen zurückziehen, wobei er in der
Breite noch in alle Lebensbereiche eingreift, aber in der Tiefe
wesentlich verschlankt wird. So ist zum Beispiel eine starke
Entbürokratisierung durch ein flächendeckendes E-Government
denkbar. Die Bereitschaft zum politischen Engagement kann
europaweit - auch auf europäischer Ebene - wieder steigen, wenn
die starren Organisationsprinzipien von Parteien, Gewerkschaften,
Verbänden et cetera überwunden werden und stattdessen eine
Vielzahl von "communities of interest" entstehen, die sich in den
unterschiedlichsten Formen sozial organisieren (Swarming,
Networking et cetera).
Europa muss sich, um im internationalen Vergleich zu
bestehen, flexibilisieren. Dann bestehen große Chancen, eine
dynamische und innovative Wirtschaftsregion zu bilden, aber auch
einen einflussreichen politischen Akteur auf dem Spielfeld der
internationalen Politik.
Holger Glockner ist verantwortlicher Projektleiter der Z_trenddatenbank bei der Z_punkt GmbH The Foresight Company.
Die Z_trenddatenbank bietet qualifizierte Basisinformationen für die strategische Zukunftsarbeit in Unternehmen und Institutionen ( www.trenddatenbank.de).
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Holger GlocknerHolger Glockner ist Director Foresight Consulting / Member of the Management von Z_punkt.