Bilder aus dem Alltagsleben.
Er versammelt Bilder von einer fotografischen Reise durch den Westen des geteilten Deutschlands, zu der Darchinger 1952, wenige Jahre nach der Stunde null, aufbrach. Sie führte ihn quer durch die Republik, und Darchinger dokumentierte, was er sah, schnörkellos und direkt, stets auf das Entscheidende fixiert. Das Entscheidende, das sind in Darchingers Bilder die Menschen. Sie stehen im Mittelpunkt, auch wenn sie manchmal eher wie Statisten in einer großen Szenerie wirken, wie die Gruppe von Kindern in einer Hamburger Straßenszene, die sich in der Bildecke unten rechts an den Eingang eines Backsteinhauses drücken. Es sind Bilder aus dem Alltagsleben der Menschen in den Anfängen der Republik; und bei vielen dieser Aufnahmen steigt Freude hoch: Wie wunderbar, dass in diesem Augenblick jemand da war und auf den Auslöser gedrückt hat! Oftmals sind es Fotos wie aus einem Familienalbum, nur dass die Handschrift des professionellen Fotografen unverkennbar ist. Es sind Bilder, direkt aus dem Leben gegriffen, Augenblicke in einem Land des Wandels: Die Jungs in Lederhosen, die mit ihren Rollern auf einer Bonner Straße posieren - im Buch auf einer Doppelseite präsentiert - und kurze Zeit später einen Storck-Automaten umlagern, um für ein paar Groschen Karamellbonbons zu ziehen. Die drei blonden Mädchen in kurzen, bunten Kleidern, die auf einem Schutthaufen vor einem halb zerbombten Haus stehen. Die Mutter, die in angeschlagenem Aluminiumgeschirr am holzbefeuerten Herd das Essen für ihre vier Kinder bereitet. Die Mutter, die in der Blechwanne in der Küche ihren Sprössling schrubbt. Die Frau, die in einer rußigen Waschküche die Waschlauge anrührt, auf dem Fenstersims eine Packung Persil. Die Stammtischrunde im Taunus.
So einfach, so ärmlich gar die Verhältnisse sind, in denen die Menschen leben, spiegelt sich in ihren Gesichtern keineswegs Verbitterung oder Resignation. Gleichwohl blendet Darchinger nichts aus. Sicher sind da auch düstere Bilder. Der Mann zum Beispiel, der armselig vor dem zerbombten Straßenzug in Bonn hockt, oder der Kommunist, der nach Jahren KZ-Haft seine karge Rente auf den rohen Tisch seiner Notunterkunft zählt. Aber der überwiegende Teil der auf fast 300 großformatigen Seiten versammelten Fotos strahlt einen ungebrochenen Optimismus aus - und das liegt an den Gesichtern der Menschen, die Darchinger ablichtet. In ihnen spiegeln sich die Zuversicht, dass es besser wird, das Zutrauen in das Wirtschaftswunder, der Stolz auf die eigene Arbeit. Die Teerarbeiter im Bayerischen Wald, die Kumpel im Ruhrgebiet, die Arbeiter im Stahlwerk, sie alle strahlen Stolz und Zuversicht aus. Und zugleich eine Bescheidenheit im ursprünglichsten Sinne des Wortes: sich bescheiden mit dem, was ist. Wer nicht glaubt, dass jede Art von Tätigkeit den Menschen Zufriedenheit geben kann, der blättere in Darchingers Buch.
Nichts ist wie damals.
Wirtschaftswunder führt in eine vergangene Zeit, in der die moderne Welt in Deutschland ihre ersten, zaghaften Spuren hinterließ: die ersten Anzeichen wieder erwachenden Konsums, von neuer Technik, neuen Freizeitaktivitäten. Die volle Schaufensterauslage, das Eis in der Frühlingssonne, das Picknick im Grünen; die ersten Datenverarbeitungs-Ungetüme mit rotierenden Magnetspulen, eine noch lächerlich überdimensioniert wirkende Autobahnauffahrt, eine moderne Schaltanlage in einem Elektrizitätswerk: Sie sind Anzeichen der hereinbrechenden neuen, modernen Zeit. Darchinger hat sie ebenso ins Bild gerückt wie die alten, untergehenden Industrien mit den mächtigen, rot dräuenden Rauchfahnen über den Schloten, die zu Wirtschaftswunderzeiten gleichwohl den Aufschwung befeuerten. Man muss diese Bilder wirken lassen, muss den eigenen Erinnerungsbildern Gelegenheit geben, sich ins Bewusstsein zu schieben. Dann wird deutlich, welch gewaltiger Wandel sich in diesem halben Jahrhundert vollzogen hat. Nichts eigentlich ist wie damals, alles ist anders, und kaum etwas würde man sich heute zurückwünschen. Außer vielleicht diese Ruhe des Augenblicks und diese Zuversicht in den Gesichtern der Menschen.
Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Geschäftsführer bei changeX.
Josef Heinrich Darchinger:
Wirtschaftswunder.
Deutschland nach dem Krieg 1952-1967.
Herausgegeben von Frank Darchinger und Klaus Honnef,
Taschen Verlag, Köln 2008,
Hardcover, 31 x 25.7 cm, 288 Seiten, 29.99 Euro.
ISBN 978-3-8365-0019-7
www.taschen.com
© changeX [22.12.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 22.12.2008. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Wunder, Pleiten und Visionen. Ein Streifzug durch 60 Jahre deutsche Wirtschaftsgeschichte - das neue Buch von Jörg Lichter, Christoph Neßhöver und Katharina Slodczyk. zur Rezension
Damit es uns in Zukunft nicht mehr so mies geht - ein Essay von Wolf Lotter. zum Essay
Kondratieffs Welt. Wohlstand nach der Industriegesellschaft - das neue Buch von Erik Händeler. zur Rezension
Dampflok, Daimler, DAX - 14 Kapitel über den wirtschaftlichen Werdegang Deutschlands. zur Rezension
Zum Buch
Josef Heinrich Darchinger: Wirtschaftswunder. . Deutschland nach dem Krieg 1952-1967. Herausgegeben von Frank Darchinger und Klaus Honnef.. Taschen Verlag, Köln 2008, 288 Seiten, ISBN 978-3-8365-0019-7
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
weitere Artikel des Autors
Die changeX-Buchumschau im Spätherbst 2024 zur Sammelrezension
Max Senges über Peer Learning und Entrepreneurship - ein Interview zum Interview
Hidden Potential von Adam Grant - eine Vertiefung zum Report