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Selbstorganisation in Dezentralität
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Elisabeth Sechser, Organisationsentwicklerin in Wien.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Elisabeth Sechser.
Elisabeth Sechser ist Organisationsentwicklerin und Beraterin für Transformationsvorhaben hin zu Selbstorganisation in Dezentralität. Sie lanciert zu diesem Thema aktuell eine Studie mit geplant 20 bis 30 Unternehmen. Elisabeth Sechser lebt und arbeitet in Wien und produziert seit 2019 den ersten Beta-Kodex-Podcast. Im Web: www.sichtart.at
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Bevor man sich darüber Gedanken macht, sollte man sich klar darüber sein, was man will. Will man robuste, wertschöpfungsstarke, humanistische Arbeitsorte schaffen und will man demokratisch-marktwirtschaftliche Unternehmensführung, dann kommt man an Selbstorganisation nicht vorbei.
Selbstorganisation ist Zusammenarbeit in Teams. Wir müssen also die Illusion von Einzelleistung in Organisationen hinter uns lassen und Teams mit hoher Autonomie ausstatten, damit jedes ihr Business machen kann. Selbstorganisation funktioniert auch nur mit einem humanistischen Menschenbild. Menschen möchten leisten, wirken, zusammen Mehrwert schaffen. Das liegt in unserer Natur, und das sollten wir auch in Unternehmen zulassen.
Was verstehst du unter Selbstorganisation?
Selbstorganisation ist ein Miteinander-füreinander-Leisten. Das gemeinsame Gestalten von Arbeit. Sie ist die Grundlage für das Erzeugen von Wertschöpfung in Komplexität. Jeder und jede aus dem Team trägt dazu bei, dass Teamleistung gelingt. Es wird vereinbart, arbeitsteilig gearbeitet, Leistung gemeinsam gemessen, gemeinsam gelernt. Es ist Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, die sich durch dieses Miteinander, durch die Interaktion, durch die gemeinsamen relativen Ziele entfalten können. Selbstorganisation bedeutet eine konsequente, verbindliche und ernsthafte Zusammenarbeit. Jeder und jede kann sich einbringen, muss sich aber auch. "Gemeinsam etwas rocken" - darum geht es. So gelingt Höchstleistung. So können menschliche Potenziale sich entfalten.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Wenn klar ist, was Selbstorganisation bedeutet, schon. In diesem Begriff stecken die Grundlagen für demokratisch-marktwirtschaftliche Zusammenarbeit. Es ist eine Vokabel, die wir benötigen. Leider wird der Begriff auch oberflächlich verwendet oder falsch verstanden. Selbstorganisation geht nicht einfach so, ist auch nicht "eine Chefetage weniger" und wird vor allem in hierarchisch-steuernden Unternehmen Menschen zusätzlich verwirren. Und auch belasten. Selbstorganisation gelingt nur in einem Re-Design des Organisationsmodells. Alles andere wäre entweder der billige oder sagen wir lieber teure Versuch einer Abkürzung - es wäre einfach nicht zu Ende gedacht. Wir brauchen also das Denkmodell in unseren Köpfen, um dann das Unternehmen zum Blühen zu bringen.
Wenn du sagst, oberflächlich verwendet oder falsch verstanden - dazu allgemeiner nachgefragt: In welchen Kontexten wird Selbstorganisation thematisiert und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Selbstorganisation wird immer wieder verwechselt mit "jeder macht, was er will". Das ist jedoch genau das Gegenteil. Oder sie wird im Sinne von "Wie organisiere ich persönlich mein Leben, meinen Alltag?" verstanden. Dann gibt es die Beobachtung, dass Selbstorganisation als "Dann macht der Chef halt nix mehr" ausgelegt wird. Dass dies dann die sogenannten Führungskräfte nervös macht und Teams sich nicht auskennen, liegt auf der Hand. Auch höre ich immer wieder den Slogan "Wir werden jetzt selbstorganisierter", ohne dass der Begriff besprochen, geklärt, vereinbart würde. Ohne ein gemeinsames Verständnis aufzubauen. Damit wird die Bedeutungstiefe ignoriert. Alle laufen dann in unterschiedliche Richtungen, und früher oder später gibt es Ärger. Wer Selbstorganisation mit "Jetzt bist du schon groß und darfst alleine Bus fahren" oder "Wir delegieren den Mitarbeitenden mehr Verantwortung, sie sind ja schließlich erwachsen" verwechselt, sollte sich eingehender mit dem humanistischen Menschenbild beschäftigen und mal ein paar gute Bücher dazu lesen. Zur Schadensbegrenzung aller.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Es wäre nicht, sondern es ist ein grundlegender Lösungsbestandteil für starke Wertschöpfung. Es geht darum, Menschen wieder ihre geraubte Selbstverantwortung zurückzugeben, ihre Könnerschaft in den Fokus zu stellen, die Leistungsfähigkeit der Teams zuzulassen. Im Sinne aller.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Fremdsteuerung. All das, was in hierarchisch-steuernden Unternehmen passiert. Bekannt als Command and Control. Alle Merkmale der Alpha-Organisation.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Hat Selbstverantwortung Grenzen? Hat Erwachsensein Grenzen? Das alles ist nicht immer einfach, manchmal sehr mühevoll. Es ist die beste Variante, um zu gestalten. Begrenzen Unternehmen die Entfaltung von Selbstorganisation? Ja. Durch Fremdsteuerung und Zentralität.
Darauf zielte die nächste Frage: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Das ist eine sehr große Frage. Einer von vielen wesentlichen Aspekten: Wir haben ja ein altes Wirtschaftsverständnis, das fehlerhaft und lückenhaft ist. Diese leider nach wie vor dominierenden Wirtschaftstheorien beziehen nicht alle wirtschaftlichen Bereiche des Lebens mit ein, stellen zu wenige Zusammenhänge her, haben falsche Wenn-dann-Logiken und wurden von Anfang an auch nicht zu Ende gedacht. Auf diesen Fehlannahmen baut dann unsere Wirtschaftspolitik auf. Na bravo. Das wiederum hat enormen Schaden in unsere Welt gebracht, wie wir alle mittlerweile wissen.
Die größten Barrieren für Selbstorganisation sehe ich in diesen Fehlannahmen, denn sie erzeugen Ungerechtigkeiten, Diskriminierung, Unterdrückung, halten patriarchale Top-down-Strukturen aufrecht. In Unternehmen und darüber hinaus. Wir können einen großen Schritt weiterkommen, wenn wir diese "Un-Wirtschaftstheorien" über Bord werfen und durch ein starkes, gesundes Wirtschaftsverständnis ablösen. Das geht auch recht schnell, sobald man sich damit beschäftigt. Sonst besteht die Gefahr, dass wir unsere Probleme weiter reproduzieren. Oder anders ausgedrückt: Unser Handeln wird von unseren Denkmustern beeinflusst. Die größte Grenze ist wohl die in unseren Köpfen.
Können Menschen Selbstorganisation?
Alle Menschen, die ihr Leben bewältigen, beweisen jeden Tag, dass sie Selbstorganisation können. Wenn wir Unternehmen als demokratisch-marktwirtschaftliche Orte gestalten wollen, erübrigt sich diese Frage. Wir unterstellen es uns einfach allen und arbeiten. Man kann das erwarten.
Dass es manchmal anstrengend ist: Ja. Natürlich bringen Menschen ihre Erfahrungen mit, und zu den prägenden Sozialisationsorten gehören nun mal Unternehmen; darin verbringen wir alle viel Zeit. Doch es hat niemand behauptet, dass das Leben, dass Arbeit einfach, immer leicht oder ein Wohlfühlprogramm ist.
Mich wundert, dass Unternehmen ihren Mitarbeitenden unterstellen, dass sie Selbstorganisation nicht könnten. Doch alle diese Menschen sind in der Lage, ihr Leben zu meistern, selbstorganisiert mit Familie und Freundïnnen Unternehmungen zu gestalten, Feste zu feiern, Streit zu schlichten, sie engagieren sich in Vereinen, bauen Häuser, stellen Projekte aller Art auf die Beine, fahren auf Urlaub, zahlen Kredite ab, kümmern sich um ihre Kinder, finden Lösungen zu all den ganzen Problemen, die es im Alltag so gibt. Wir alle wissen, dass wir das können, weil wir es tun. In Unternehmen verlernt man das ja nicht einfach. Doch es wird den Menschen oftmals abgesprochen.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ja.
Woran lässt sich das festmachen?
Selbstorganisation wird immer mehr diskutiert, ausprobiert und auch erfolgreich angewandt. Viele Institutionen und Unternehmen haben erkannt, dass sie ohne nicht weiterkommen. Gleichzeitig beobachte ich auch eine Suche nach passenden Antworten, wie man das nun erfolgreich im bestehenden System umsetzen kann. Dafür werden auch viele externe Beratungsprozesse eingekauft. Doch darin liegt bereits ein großer Irrtum. Es geht darum, die Alpha-Muster zu überwinden, damit Beta möglich wird - und damit lebendige, starke Selbstorganisation. Also zuerst gemeinsam am System arbeiten, um dann gemeinsam und selbstorganisiert im System zu arbeiten.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Unbedingt.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Man kommt nicht drum rum, zentrale Steuerung hinter sich zu lassen und die Dezentralität von Entscheidung zu ermöglichen. Selbstorganisation gelingt nur in Dezentralität. Aber dieser Gestaltungsraum mit all seinen Chancen wird nicht ausgeschöpft. Da liegt Potenzial brach.
Ein Bespiel: Ein großes IT-Unternehmen möchte sich transformieren, um wertschöpfungsstärker zu werden. Es initiiert sogenannte Kulturveränderungsprojekte, schafft mal da oder dort agilere Teams, beschäftigt sich mit Scrum, schickt Mitarbeitende auf sogenannte New-Work-Konferenzen. Die kehren dann begeistert und voll Tatendrang in die Organisation zurück. Doch alle Müh umsonst. Solange der Vorstand nicht klar "Ja" zu Dezentralität und Selbstorganisation sagt - oder sagen wir: Nein zu Fremdsteuerung -, erzeugt man immer wieder nur kleine Highlights im Unternehmen, doch man frustriert umso mehr. Das kann gefährlich sein. Ohne dass sich Eigentümerïnnen, Vorstände, Geschäftsführerïnnen nicht grundlegend damit auseinandersetzen, was Selbstorganisation, was Dezentralität bedeutet, deren Potenziale erkennen und verstanden haben, dass es um die Stärkung des Unternehmens und aller Menschen im System geht - und dies auch klar wollen -, verliert das Unternehmen zusätzlich an Kraft und meistens auch Menschen. Wir beschäftigen uns hier ja nicht mit einem Trend. Es geht auch nicht um Meinungen. Sondern um Grundlagen der Unternehmensführung in Komplexität. Und natürlich auch um Unternehmensführung in Demokratie.
Was können Unternehmen tun, um den Weg zu mehr Selbstorganisation zu bereiten?
Forschungskompetenz entwickeln: Unternehmen und Institutionen sollten die Chance nutzen, sich und ihre Umgebung besser zu beforschen. Also: Wertschöpfungshindernisse aufspüren; erkennen, wo sich die Organisation selbst im Weg steht; die Urteilsfähigkeit zum eigenen Organisationsmodell schärfen - das sind grundlegende Fähigkeiten, die Organisationen entwickeln sollten. Danach oder dadurch entstehen Lösungsansätze für mehr Selbstorganisation. So kommt man ins Gestalten.
Wir werden dazu 2021 eine Studie beginnen, zu der sich Unternehmen und Institutionen schon jetzt sehr gerne anmelden können. Gemeinsam mit meiner Kollegin Silke Hermann begleiten wir die Unternehmen dabei, die Selbstbeforschung in Organisationen zu etablieren. Eine organisationale Kompetenz, die gebraucht wird. Bei Interesse kann man sich gerne bei mir melden.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Meine letzte Arbeit als Angestellte habe ich aus drei Gründen gekündigt: Erstens: Das Konstrukt von Führungskräften und den zu führenden Mitarbeitenden und die darin enthaltene Überheblichkeit und Machtdemonstration gingen sich für mich nicht aus. Zweitens: Das Gestalten von Arbeit, so wie es Kundinnen und Kunden benötigten, wurde durch gähnend lange Entscheidungsschleifen und interne Machtspielchen so in die Länge gezogen, dass wir an den Menschen vorbei viel zu viel intern beschäftigt waren. Je größer wir wurden, desto mehr verloren wir an Kraft. Dafür hatten wir immer mehr Leitfäden und Handbuchprojekte. Drittens: Der wachsende Leistungsdruck und die steigende Ressourcenknappheit waren dann "the cherry on the top". Jetzt bin ich seit 16 Jahren selbständig. Ich gestalte meine Arbeit im freien Flug. Ich arbeite in unterschiedlichen Konstellationen in Projekten. Ohne konsequente Selbstorganisation würde das nicht gelingen. Wir vereinbaren, wir teilen Arbeit auf, wir erreichen gemeinsam Ziele. Verbindlichkeit und Konsequenz, gepaart mit viel Freude und gemeinsamem Lernen, das ist mein Arbeitsalltag. Ich würde meinen, Selbstorganisation hat eine sehr hohe Bedeutung in meinem Leben.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Wann werden wir konkret unsere Studienarbeit "Dezentralität in Unternehmen" starten können? Welche Organisationen werden an diesem neuartigen Forschungsvorhaben für mehr Selbstorganisation teilnehmen? Und wann sind wir alle geimpft?
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Selbstorganisation ist Zusammenarbeit in Teams." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Selbstorganisation funktioniert nur mit einem humanistischen Menschenbild." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Selbstorganisation gelingt nur in einem Re-Design des Organisationsmodells." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Selbstorganisation wird immer wieder verwechselt mit ‚jeder macht, was er will‘. Das ist jedoch genau das Gegenteil." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Alle Menschen, die ihr Leben bewältigen, beweisen jeden Tag, dass sie Selbstorganisation können." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Es geht darum, die Alpha-Muster zu überwinden, damit Beta möglich wird - und damit lebendige, starke Selbstorganisation. Also zuerst gemeinsam am System arbeiten, um dann gemeinsam und selbstorganisiert im System zu arbeiten." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Selbstorganisation gelingt nur in Dezentralität. Aber dieser Gestaltungsraum mit all seinen Chancen wird nicht ausgeschöpft. Da liegt Potenzial brach." Elisabeth Sechser: Erkundung Selbstorganisation 1
"Unternehmen und Institutionen sollten Forschungskompetenz entwickeln: Sie sollten die Chance nutzen, sich und ihre Umgebung besser zu beforschen." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Wir vereinbaren, wir teilen Arbeit auf, wir erreichen gemeinsam Ziele. Verbindlichkeit und Konsequenz, gepaart mit viel Freude und gemeinsamem Lernen, das ist mein Arbeitsalltag. Selbstorganisation hat eine sehr hohe Bedeutung in meinem Leben." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
"Man kommt nicht drum rum, zentrale Steuerung hinter sich zu lassen und die Dezentralität von Entscheidung zu ermöglichen." Elisabeth Sechser: Selbstorganisation in Dezentralität
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.