Arbeitsform der Zukunft
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Marco Niebling, Coach für selbstorganisiertes Arbeiten in Neckartailfingen, Baden-Württemberg.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Marco Niebling.
Marco Niebling kommt von der Praxis. Als er bei der Heermann Maschinenbau GmbH (HEMA) anfing, war dort alles, wie man es bei einem traditionsreichen schwäbischen Unternehmen in Familienbesitz erwarten würde: Abteilungen, Hierarchie, Entscheidungen von oben. Für den anstehenden Großauftrag, für den Niebling als Projektleiter eingestellt worden war, erwies sich diese Struktur jedoch als zu starr und zu unflexibel. Um diese Herausforderung zu meistern, musste das Unternehmen sich verändern. Mit Zustimmung der rund 50 Mitarbeitenden setzte die Geschäftsführung im Jahr 2013 eine Transformation in Gang: hin zur Selbstorganisation der Mitarbeitenden auf der Grundlage von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Maßgeblich gestaltet wurde dieser Organisationswandel von Marco Niebling, der so zum Veränderungscoach und -treiber für das Unternehmen wurde. Heute ist er dort im erweiterten Geschäftsleitungskreis für Projektmanagement und Human Resources verantwortlich. Als Coach begleitet er mittelständische Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation. Sein Wahlspruch: "Selbstorganisiert Komplexität erfolgreich meistern."
Marco, was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Selbstorganisation hängt für mich stark mit intrinsischer Motivation zusammen. Das heißt, dass eine Person oder eine Organisation den Sinn hinter der Arbeit, den Sinn und Zweck der Organisation versteht. Und das bedeutet in der heutigen Zeit: zu verstehen, dass sich die Welt gerade stark verändert, dass die Dinge nicht so planbar sind, wie sie das mal waren - durch Globalisierung, durch Disruption, durch den beschleunigten Wandel. Die Welt wird komplexer, sie ist nicht mehr nur kompliziert - und hier setzt Selbstorganisation an. Selbstorganisation setzt voraus, den Sinn zu erkennen: Wozu soll ich mich einbringen? Wozu soll ich meine Stärken einsetzen? Wozu soll ich Initiative ergreifen? Das sind die Ausgangsfragen, die sich stellen. Daran schließt sich die Frage an: Wo brauche ich Mitbestimmung, als Person, als Team, als Gruppe, um sich die notwendigen Kompetenzen aneignen, um die Dinge, die nicht gut laufen, angehen zu können? Also: Was läuft gut im Projekt, was läuft nicht so gut und was machen wir zukünftig anders? Das bedeutet, aus Fehlern zu lernen, um dann erfolgreicher zu sein. Wer sich diese Fragen stellt, wird sich mit der Arbeitsweise, mit der Aufgabe, mit dem Team oder einem ganzen Unternehmen identifizieren. Das ist der Kern intrinsischer Motivation.
Was verstehst du unter Selbstorganisation?
Ich sehe in der Selbstorganisation die zukunftsfähigste Form der Zusammenarbeit: eine Art der Zusammenarbeit, die uns hilft, gemeinsam mit Komplexität in der Arbeit umzugehen. Zukunftsfähig, weil die Geschäftsführung durch die Selbständigkeit der Mitarbeiter im operativen Geschäft entlastet ist. Indem die Belegschaft das operative Geschäft bis hin zur Innovation selbst organisiert, wird die Geschäftsführung beziehungsweise das strategische Zentrum nicht mit kleinen Entscheidungen überlastet und kann aktiv Strategie, Vision und Sinn der Unternehmung gestalten und ins operative Geschäft transformieren. Selbstorganisation erkennt die Potenziale in Individuen und setzt diese durch gemeinsam bestimmte Rahmenbedingungen frei - weil sie auf die Individuen baut, weil sie auf Mitbestimmung baut, weil es generell darum geht, den Sinn in einer Sache zu suchen und dadurch motiviert an Aufgaben ranzugehen. Für mich ist Selbstorganisation die Arbeitsform, die die Zukunft sichert. Sie ist in mittelständischen oder kleineren Organisation bestimmt einfacher umzusetzen als in großen Organisationen, aber auch größere Organisationen müssen hier einen Weg finden.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Für mich ist Selbstorganisation unabhängig von der Arbeitswelt. Selbstorganisation oder Selbstwirksamkeit oder die Initiative ergreifen, das braucht es überall, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich, branchenunabhängig. Auch hier kann man wieder mit der intrinsischen Motivation argumentieren: Wenn ich einen Sinn erkenne, dann bin ich bereit, mich einzubringen, Verantwortung zu übernehmen, mitzubestimmen, mich weiterzuentwickeln, eine höhere Leistung zu erbringen - und dadurch auch erfolgreicher und wirksamer zu sein.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Selbstorganisation ist für mich ein treffender Begriff. Jedoch geht es nicht nur um das "Selbst" im Sinne des Individuums, sondern um eine Gemeinschaft, von der das Individuum ein Teil ist. Nur wenn ich selbst etwas verändere, wird sich auch etwas verändern. Letztendlich sollen uns die Selbstorganisation oder agile Arbeitsweisen helfen, in der komplexen Welt zu überleben und wirksamer zu sein. Deshalb muss ich mich selbst organisieren und muss mich auch als Team organisieren.
Häufig ist das "Selbst" im Begriff der Selbstorganisation jedoch eher auf eine Einzelperson gemünzt als auf ein Team. Deswegen hat vielleicht mancher ein Problem mit dem Begriff - ich nicht, für mich passt er.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Selbstorganisation ist dann eine Lösung, wenn Management und Führung bereit sind, loszulassen und dem Team Raum zu geben, um in der komplexen Welt Themen zu bearbeiten und Aufgaben zu lösen. Wenn die Welt hingegen nur kompliziert ist, ist Selbstorganisation weniger erfolgversprechend, denn dann muss man das Rad nicht immer neu erfinden. Sprich: Für komplexe Aufgabenstellungen, die Personen im Team oder Unternehmen übernehmen müssen, ist Selbstorganisation eine Lösung.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Das Gegenteil von Selbstorganisation ist für mich Fremdbestimmung, das heißt Vorgaben, Arbeitsanweisungen, Aufgabenbeschreibungen, Prozesse, die fremdbestimmt sind, an die man sich halten muss. Und an die man sich auch halten kann - sprich: auf die man es schieben kann, wenn man sich nicht einbringt. Nach dem Motto: "Ich durfte das nicht, weil es nicht niedergeschrieben steht oder weil ich nicht die Befugnis dazu habe." Das wär für mich das Gegenteil.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ja, Selbstorganisation hat Grenzen. Es braucht Leitplanken, und es braucht vor allem ein Management, das Selbstorganisation unterstützt und fördert. Wenn das Management nicht dahintersteht, sind gedachte Grenzen oder nicht benannte Grenzen, die überschritten werden, immer wieder ein Grund für Scheitern - zumal wenn die Führung die Pflänzchen, die selbstorganisiert wachsen, wieder ausreißt - konkret: indem sie Entscheidungen wieder an sich reißt. Das sind Grenzen, die abgesteckt gehören, und zwar nicht nur einmal, sondern fortlaufend. Das bedeutet, immer wieder mit den Erfolgsbeteiligten im Gespräch zu bleiben - von der Geschäftsführung über die Kunden bis hin zum Team, das dahintersteht.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Neben der Führung, die Entscheidungen wieder an sich reißt, ist es das persönliche Ego, das immer wieder Probleme macht und Hemmnisse schafft. Das Ego ist oft der ausschlaggebende Grund, wenn die Geschäftsführung Entscheidungen an sich reißt. Das Ego verhindert häufig das sachliche Gespräch im Team. Das Selbstbewusstsein soll auf Basis von gemeinsamem Erfolg entstehen und nicht auf einem verzerrten Selbstbild beruhen. Diese Ego-Themen müssen beobachtet und vom Team angesprochen werden. Wer verhält sich im Sinne der Gemeinschaft komisch und verliert neben dem Eigennutzen die Sicht für den Kunden, das Unternehmen und die Kollegen? Alte Machtstrukturen, die noch nicht komplett aufgelöst sind, sind hierfür häufig die Ursache.
Was der Selbstorganisation noch Probleme bereitet, ist ihre falsch verstandene Anwendung auf Dinge, die eigentlich klar zu regeln sind: Simple und komplizierte Dinge selbstorganisiert zu lösen, macht keinen Sinn - auch in der Anwendung gibt es also gewisse Grenzen.
Können Menschen Selbstorganisation?
Eine geschlossene Frage, die ich mit Ja beantworte: Sie können es, wenn sie es dürfen. Im Privaten beweisen sie es uns. Sie übernehmen Verantwortung für Familie, für Eigenheim, für Vereine - und wenn die Rahmenbedingungen in Unternehmen passen, ist auch hier Selbstorganisation möglich.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Auch dies eine geschlossene Frage, die ich mit Ja beantworte. Begründung: Die Welt wird immer komplexer, erweist sich als nicht planbar. Deshalb gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung, denn viele Unternehmen scheitern mit ihren klassischen Prozessen - und dann wird selbstorganisiertes Arbeiten wichtiger. Es wird entscheidend, weil man dabei lernt, mit dem Scheitern umzugehen.
Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?
Wie bereits beschrieben: zunehmende Komplexität, mehr Disruption … und dann kommt eine Pandemie, die Geschäftsmodelle über den Haufen wirft und einstmals sichere Einkommensquellen versiegen lässt … Darauf muss man sich einstellen, muss immer noch ein Stück weit flexibler sein.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Ja, weil sie uns die Zukunftsfähigkeit sichert.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Übersteigertes Ego und falsche Vorstellungen, dass Prozesse ans Ziel führen. Wie gesagt: Prozesse sind für komplizierte Dinge gedacht, aber für komplexe Dinge wirkungslos. Unter komplexen Bedingungen helfen nur informelle Strukturen, dass - trotz Prozessen - die Organisation noch funktioniert. Da muss man einfach ehrlich zu sich selber sein und sich eingestehen: So, wie es formuliert ist, funktioniert es nicht. Wir brauchen ein klares Ziel, wir brauchen eine Vision, wo die Reise hingeht - aber dann soll jeder tun und lassen dürfen, was im Sinne des Unternehmens, des Kunden und der Mitarbeitenden ist. Das aber weiß man nicht immer im Vorhinein, und zu viel zu dokumentieren bringt deswegen nichts.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Selbstorganisation sichert unsere und die Zukunft unserer Kinder. Deswegen hab ich mich ihrer Förderung verschrieben. Ich helfe Menschen auf dem Weg in die Selbstorganisation.
Ich selbst setze auf Selbstorganisation, sowohl bei mir, bei meinen Teams, in meinem Unternehmen und auch bei meinen Kunden, die ich begleite. Das heißt für mich konkret, nicht Dinge zu bestimmen, sondern die Entscheidungen, die hinter gewissen Aufgaben oder gewissen Rollen stehen, zu klären: Wer darf das entscheiden? Wer soll das entscheiden? Und was entscheiden wir gemeinsam? Das verlangt auch, durch Fragen persönliche Entwicklung zu begleiten, sodass die Arbeit selbstorganisiert laufen kann.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Wie lange braucht es eigentlich noch, bis alle das erkennen? Und sich auf den Weg machen und daran glauben, dass Selbstorganisation funktionieren kann - und vor allem auch: an sich selber arbeiten wollen? Alle wollen die Welt verändern, aber keiner will sich verändern. Das heißt: Wann bin ich bereit, den ersten Schritt zu tun?
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen
Zitate
"Selbstorganisation setzt voraus, den Sinn zu erkennen: Wozu soll ich mich einbringen? Wozu soll ich meine Stärken einsetzen? Wozu soll ich Initiative ergreifen?" Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
"Ich sehe in der Selbstorganisation die zukunftsfähigste Form der Zusammenarbeit: eine Art der Zusammenarbeit, die uns hilft, gemeinsam mit Komplexität in der Arbeit umzugehen." Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
"Selbstorganisation erkennt die Potenziale in Individuen und setzt diese durch gemeinsam bestimmte Rahmenbedingungen frei. Für mich ist Selbstorganisation damit die Arbeitsform, die die Zukunft sichert." Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
"Selbstorganisation oder Selbstwirksamkeit oder die Initiative ergreifen, das braucht es überall, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich, branchenunabhängig." Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
"Selbstorganisation ist dann eine Lösung, wenn Management und Führung bereit sind, loszulassen und dem Team Raum zu geben, um in der komplexen Welt Themen zu bearbeiten und Aufgaben zu lösen." Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
"Für komplexe Aufgabenstellungen, die Personen im Team oder Unternehmen übernehmen müssen, ist Selbstorganisation eine Lösung." Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
"Die Welt wird immer komplexer, erweist sich als nicht planbar. Viele Unternehmen scheitern mit ihren klassischen Prozessen. Deshalb wird selbstorganisiertes Arbeiten wichtiger." Marco Niebling: Arbeitsform der Zukunft
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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