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Leben mit dem Risiko
Der Kampf gegen die Coronapandemie geht in eine neue Phase. Sie ist bestimmt vom Wechsel von der Gefahr zum Risiko. Die Kurve ist abgeflacht, die Gefahr liegt hinter uns, und wir kennen die Risiken. Mehr Normalisierung ist nicht möglich.
Die Coronakrise dauert nun schon weit mehr als zwei Monate. Dennoch haben wir es noch immer mit dem Anfang einer Pandemie zu tun, die erst zum Abschluss gekommen ist, wenn die sogenannte Herdenimmunität erreicht oder ein Impfstoff entwickelt worden ist. Aber mit der beginnenden Lockerung ist eine erste Phase beendet, und es beginnt eine zweite Phase, so die Kanzlerin in einer Pressekonferenz am 6. Mai. (1) Die strengsten Kontaktverbote werden aufgehoben, Läden und Gaststätten werden unter Hygienevorschriften wieder geöffnet, Gottesdienste finden wieder statt, Bibliotheken und Museen dürfen wieder besucht werden, sogar Theater und Konzerthäuser diskutieren über die Wiederaufnahme ihres Betriebs, im Sport wird mit "Geisterspielen" ohne Zuschauer experimentiert. Währenddessen jedoch ist das Coronavirus nach wie vor aktiv, und die Lungenkrankheit Covid-19 bedroht vor allem ältere und schwächere Mitbürger.
Die Reproduktionsrate des Virus pendelt aktuell um Werte knapp unter und über 1, der Bann eines exponentiellen Wachstums der betroffenen Fälle scheint gebrochen, doch erst etwas mehr als vier Millionen Ansteckungsfälle sind weltweit bestätigt, bei insgesamt 345.104 Toten (25. Mai 2020), mit weiterhin steigender Tendenz. Was also unterscheidet die zweite von der ersten Phase der Bekämpfung der Pandemie?
Die Kurve flach halten
In der ersten Phase der Pandemiebekämpfung ging es darum, eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. Länder wie Italien, wo dies nicht gelungen war, dienten als warnendes Beispiel. Abhängig von den vorhandenen Kapazitäten von Krankenhäusern vor allem in der Ausstattung mit Intensivstationen und Beatmungsgeräten ging es gleichzeitig darum, Menschenleben zu retten. Nur Krankenhäuser, die nicht überlastet sind, können Menschenleben retten. Krankenhäuser mussten vor zu vielen Kranken und Kranke vor überlasteten Krankenhäusern geschützt werden. Die Abflachung der Ansteckungskurve diente dem Gesundheitssystem und den Menschen, obwohl das Gesundheitssystem interessanterweise häufiger genannt wurde als die Menschen.
In der zweiten Phase scheinen ausreichende Kapazitäten an Intensivstationen, Beatmungsgeräten, Schutzkleidung und Masken bereitgestellt zu sein. Das Gesundheitssystem ist der Pandemie gewachsen, solange die Reproduktionsrate R unter 1 liegt, Krankheitsfälle versorgt und Ansteckungsketten nachverfolgt werden können. Die Suche nach einem genaueren Verständnis des Virus und nach einem Impfstoff geht währenddessen weiter.
Wie also, noch einmal, lassen sich die aktuellen Lockerungsmaßnahmen verstehen, wenn die Krankenhauskapazitäten zwar hinreichen, die Sterblichkeit im Fall einer Ansteckung jedoch so hoch ist wie zuvor? Kann man sich damit beruhigen, zu sagen, dass jeder Kranke damit rechnen kann, behandelt werden zu können? Ist das bereits der Normalzustand unserer Gesellschaft?
Idee der Risikogesellschaft
Niklas Luhmann hat Ende der 1980er-Jahre, als die Soziologie in der Auseinandersetzung mit Risiken von Hochtechnologien Ideen einer "Risikogesellschaft" diskutierte, die Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko ins Spiel gebracht. (2) Beide Begriffe formulieren eine Unsicherheit. (3) Im Fall des Risikos tritt eine Unsicherheit auf, weil man eine Entscheidung getroffen hat, deren Folgen nicht absehbar sind. Im Fall der Gefahr ist die Unsicherheit unabhängig von eigenen Entscheidungen das Ergebnis von Ereignissen, die in der Umwelt auftreten.
In beiden Fällen hat man es mit Komplexität zu tun, das heißt mit einer Unvorhersehbarkeit, die in der aktuellen Gesellschaft wegen hoher Grade an Interdependenz und Konnektivität routinemäßig zu erwarten ist. Im Fall des Risikos gibt es jedoch benennbare eigene Beiträge zu dieser Komplexität, im Fall der Gefahr nicht - sieht man davon ab, dass man leben muss, um Gefahren erleben zu können. Der Begriff der Gefahr reflektiert daher, dass man immer dann, wenn man glaubt, die eigenen Risiken abhängig von eigenen Entscheidungen einigermaßen steuern zu können (man kann Entscheidungen treffen und auf sie verzichten), Gefahren auftreten können, mit denen man weder statistisch noch potenziell gerechnet hat.
Wechsel von der Gefahr zum Risiko
Der Wechsel von Phase 1 zu Phase 2 in der Bekämpfung der Coronapandemie ist ein Wechsel von der Beschreibung einer Covid-19-Erkrankung als Gefahr zur Beschreibung derselben Erkrankung als Risiko. Die kurz- und mittelfristige Gefahr einer Überforderung der Krankenhäuser ist gebannt. Man hat die Zeit genutzt, um die mangelnde Anpassungsfähigkeit der Krankenhäuser an unerwartete Krankheitslagen nach Jahrzehnten einer "neoliberalen" Kürzungspolitik zu korrigieren. Personal und Ausstattung scheinen zumindest hierzulande den Anforderungen wieder gewachsen zu sein. Die Gefahr einer Überforderung weicht dem krankenhausüblichen Risiko, die vorhandenen Betten nicht rechtzeitig den dringenden Fällen zuweisen zu können. Die Abhängigkeit von Entscheidungen, die man beeinflussen kann, weil man sie selber trifft, tritt an die Stelle einer Abhängigkeit von Ereignissen, auf die man keinen Einfluss hat.
Dieser Wechsel von der Gefahr zum Risiko gilt jedoch nicht nur für die nachgerüsteten Krankenhäuser, sondern auch für die Bevölkerung und die Politik. Phase 1 wurde genutzt, um auch mithilfe der Massenmedien so umfassend über das Virus, die Möglichkeit einer Ansteckung, die auftretenden Krankheiten und die erwartete Sterblichkeit zu informieren, dass man es bis zu einem gewissen Grade der Bevölkerung überlassen kann, selbständig die Risiken einzuschätzen, die mit dem eigenen Verhalten einhergehen. Man kann die Maske aufsetzen oder absetzen, sie so oder anders tragen, diese oder jene Orte aufsuchen oder nicht aufsuchen. Wird man krank, bleibt man entweder zu Hause oder wird zum Patienten eines Krankenhauses, das auf diesen Fall vorbereitet ist. Jedes Verhalten, das andere nicht gefährdet, wird zum Gegenstand eines eigenen Risikokalküls, das in der liberalen Gesellschaft Sache jedes einzelnen Individuums ist. Politik und Polizei intervenieren nur dann, wenn das eigene Verhalten andere gefährdet.
Nachdem die Gefahr eines exponentiellen Wachstums von Covid-19-Fällen der Phase 1 gebannt scheint, übernimmt die Politik in Phase 2 das Risiko, mit den noch bestehenden Maßnahmen einer Lockerung des Kontaktverbots die Gefahr einer Verbreitung des Virus in der Bevölkerung nicht im gewünschten Maße - Reproduktionsrate < 1; wöchentliche Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner < 50 - kontrollieren zu können.
Eine doppelte Wette
Phase 2 steht somit im Zeichen einer doppelten Wette. Die erste Wette besteht darin, der Bevölkerung einen hinreichenden Bildungsgrad zuzutrauen, um Konsequenzen des eigenen Verhaltens einschätzen zu können. Es ist schwer zu sagen, ob diese Wette gehalten werden kann. Die Bevölkerung ist gebildet genug, um Klopapier zu kaufen, wenn andere es auch tun; die Lage war unklar und man weiß ja nie. Sie ist auch gebildet genug, die ungewohnte Dynamik einer Exponentialkurve zu verstehen, wenn sie hinreichend erklärt wird. Und nicht zuletzt ist sie gebildet genug, um Verschwörungstheorien sowohl einen Moment zu prüfen als auch zu verwerfen. Wird das genügen?
Die zweite Wette besteht darin, die aktuellen politischen Entscheidungen der Verlagerung einer Verantwortung der Pandemiebekämpfung von der Ebene des Bundes zurück auf die Ebene der Länder und in die Gesundheitsämter der Landkreise nicht etwa als Gefährdung der Bevölkerung, sondern als lokal angemessene Dezentralisierung des Risikos werten zu können. Vor Ort können Entscheidungen der Lockerung oder der strengeren Kontrolle getroffen werden, die der jeweiligen Lage Rechnung tragen und in ihren Folgen überschaut werden können. Jeder Betrieb, jede Behörde, jede kulturelle Einrichtung, jede Kirche, jeder Kindergarten, jede Schule, jede Universität und jeder Sportverein kann beginnen, sich mit Hygienevorschriften auseinanderzusetzen, die die Pandemie unter Kontrolle zu halten erlauben, und die Risiken einzuschätzen, wenn dies je vor Ort nicht gelingt. Je mehr man glaubt, die Dinge selber beeinflussen zu können, in desto größere Ferne rückt die Gefahr.
Wiederentdeckung der Gesellschaft
Wenn man so will, handelt es sich bei beiden Wetten um eine Wiederentdeckung der Gesellschaft. Es gibt eine gesellschaftliche Informationslage, die es der Bevölkerung abhängig von ihren beruflichen, alltäglichen und freizeitlichen Aktivitäten erlaubt, einzuschätzen, auf welche Begegnungen man sich einlässt und auf welche man besser verzichtet. Die Politik wird zurückgefahren einerseits auf ihre Verantwortung für eine angemessene Aufstellung des Gesundheitswesens und andererseits auf die Setzung von Randbedingungen des Verhaltens, die sicherstellen, dass die Gefahren nicht größer sind als die Risiken. Und mit alldem wird der Tod wieder so unsichtbar, wie er es vorher schon war. Wer stirbt, stirbt. Corona wird eingereiht unter andere Pandemien wie Ebola, Masern, Influenza oder Aids (HIV), ganz zu schweigen von anderen Todesursachen bis hin zu ärztlichen Kunstfehlern in Krankenhäusern. (4)
Darin unterscheidet sich die liberale Gesellschaft nicht von der autoritären. Die Gesellschaft übernimmt keine Verantwortung für den Tod und nur eine begrenzte soziale Fürsorge für das Leben. Sie sorgt nur dafür, dass Gefahren ausgeschlossen werden können, die jeden Einzelnen daran hindern könnten, Risiken einzugehen. In der zweiten Phase der Pandemiebekämpfung liegt die Gefahr hinter uns, und wir kennen die Risiken. Mehr Normalisierung ist nicht möglich. Mit Krankheiten müssen wir leben. Hoffen wir auf die Entwicklung eines Impfstoffs.
Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in Kultur/Reflexion, dem Blog der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke.
Anmerkungen
(1) Siehe Tagesschau vom 6. Mai 2020.
(2) Siehe Niklas Luhmann: "Risiko und Gefahr", in: ders.: Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990, S. 131-169; ders.: Soziologie des Risikos, Berlin: de Gruyter, 1991, S. 30 ff.; und vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986; Mary Douglas und Aaron Wildavsky: Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technical and Environmental Dangers, Berkeley, CA: University of California Press, 1982; Mary Douglas: Risk and Blame: Essays in Cultural Theory, London: Routledge, 1992.
(3) Im Rahmen der Unterscheidung von risk und uncertainty, die Frank H. Knight ausgearbeitet hat (Risk, Uncertainty, and Profit [1921], Reprint New York: Harper & Row, 1965), bewegen sich beide auf der Seite von uncertainty, während risk Ereignisse bezeichnet, deren Wahrscheinlichkeit statistisch erfasst werden kann.
(4) Zu Letzterem John T. James: "A New, Evidence-Based Estimate of Patient Harms Associated with Hospital Care", Journal of Patient Safety 9(3), July 2013.
Zitate
"Der Wechsel von Phase 1 zu Phase 2 in der Bekämpfung der Coronapandemie ist ein Wechsel von der Beschreibung einer Covid-19-Erkrankung als Gefahr zur Beschreibung derselben Erkrankung als Risiko." Dirk Baecker: Leben mit dem Risiko
"Die Abhängigkeit von Entscheidungen, die man beeinflussen kann, weil man sie selber trifft, tritt an die Stelle einer Abhängigkeit von Ereignissen, auf die man keinen Einfluss hat." Dirk Baecker: Leben mit dem Risiko
"Jedes Verhalten, das andere nicht gefährdet, wird zum Gegenstand eines eigenen Risikokalküls, das in der liberalen Gesellschaft Sache jedes einzelnen Individuums ist." Dirk Baecker: Leben mit dem Risiko
"Die Gesellschaft übernimmt keine Verantwortung für den Tod und nur eine begrenzte soziale Fürsorge für das Leben. Sie sorgt nur dafür, dass Gefahren ausgeschlossen werden können, die jeden Einzelnen daran hindern könnten, Risiken einzugehen." Dirk Baecker: Leben mit dem Risiko
"In der zweiten Phase der Pandemiebekämpfung liegt die Gefahr hinter uns, und wir kennen die Risiken. Mehr Normalisierung ist nicht möglich." Dirk Baecker: Leben mit dem Risiko
changeX 26.05.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Quellenangaben
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Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in Kultur/Reflexion, dem Blog der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/HerdeckeKultur/Reflexion
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Autor
Dirk BaeckerDirk Baecker, deutscher Soziologe, ist einer der prominentesten Vertreter der Soziologischen Systemtheorie. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management sowie Vorstand der Fakultät für Kulturreflexion an der Universität Witten/Herdecke. Zudem hält er eine Gastprofessur für Kultursoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. © Foto: Zeppelin Universität Friedrichshafen