Von der Freundlichkeit

in unfreundlichen Zeiten
Ein Essay von Bernhard von Mutius

Von Freundlichkeit reden in unfreundlichen Zeiten? Wo viele sich nicht gut fühlen und die Nachrichten schlecht sind? Doch! Ohne sie werden wir die gegenwärtigen Krisen und Konflikte nicht meistern können, sagt Bernhard von Mutius in seinem Essay. Denn Freundlichkeit ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen. Eine zivilisatorische Grundhaltung. Die Grundlage eines respektvollen und menschenwürdigen Umgangs miteinander. Freundlichkeit beginnt im Kleinen: mit dem Zuhören, mit unvoreingenommener Zuwendung, mit einem "ich weiß nicht".

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Viele fühlen sich zurzeit nicht gut. 

Die Nachrichten der Welt sind nicht gut. 

Wir fühlen uns machtlos. 

Können wir gar nichts tun?


Eine andere Erzählung


Oft habe ich mich in den letzten Jahren mit Entwicklungen auseinandergesetzt, die wir als disruptiv bezeichnen. Meine Vermutung war: Es gilt, sich auf Krisen, auf ziemlich große Herausforderungen und harte, tiefgreifende Brüche einzustellen. Wie groß diese werden würden, habe ich nicht vorausgesehen. 

Doch es gibt noch eine weniger offensichtliche, von den Katastrophenmeldungen dieser Tage weitgehend verdeckte Geschichte. Eine andere Erzählung dieser Umbruchszeit, deren Anfänge wir gerade beginnen zu erleben. 

Diese hat mich in den letzten Jahren ebenfalls beschäftigt. Als Putins Truppen gerade in die Ukraine einmarschierten, habe ich begonnen, darüber zu schreiben. Es ist ein kleines Buch geworden: Über Lebenskunst. Freundlichkeit gehört für mich zur Lebenskunst. Sie ist die andere Seite der Entwicklungen, die wir gerade beobachten. 

Freundlichkeit ist in allen Zweigen und Verästelungen dieser Transformation verborgen. In den ökologischen, in den sozialen, in den kreativen und in den technologischen: Wir wollen umweltfreundlicher wirtschaften und leben. Wir haben den Wunsch, freundlicher zusammenzuarbeiten, kooperativ und kollaborativ. Und wenn wir die digitalen Technologien und Maschinen nutzen, spüren wir: Sie gehen uns freundlicher zur Hand als die industriellen. Im Prinzip. Cybertrucker mögen das anders sehen. 

Ich füge hinzu: Ich glaube nicht, dass wir die gegenwärtigen Krisen und Konflikte ohne pragmatische Freundlichkeit meistern werden. Wenn wir sie nicht nur ausblenden. Und wenn wir sie überhaupt meistern können und wollen. Vielleicht sollte ich besser sagen: eindämmen wollen. Ist Freundlichkeit vielleicht so etwas wie ein Bindeglied? Die innere Verbindung der vor uns liegenden Veränderungen? Spüren wir erst, wie wichtig sie ist, wenn sie fehlt?


Bedürfnis nach Freundlichkeit


Nun ist Freundlichkeit nicht das, was einem als Erstes in den Sinn kommt, wenn wir den Zustand der Welt betrachten. Unfreundlich, lieblos, aufgeregt, wütend, aggressiv, gewaltsam sind Kategorien, die uns in manchen Augenblicken eher einfallen. 

Und doch - oder vielleicht gerade deswegen halte ich Freundlichkeit für so elementar. Je länger ich über unsere Zeit nachdenke, desto mehr. Freundlichkeit ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, um zu leben - und zu überleben. Wo auch immer wir aktiv sind, was auch immer wir tun. Gerade in unserem unmittelbaren Umfeld. 

Ich spüre es überall. Bei allem Zorn: Es gibt ein starkes Bedürfnis nach Freundlichkeit in diesen Tagen. Wir haben das Gefühl, mit freundlicher Gelassenheit könnte manches leichter gehen. Vielleicht könnten wir ein paar Entwicklungen dieser Zeit so leichter bewältigen? Statt von ihnen überwältigt zu werden? 

Freundlichkeit ist nicht Nettigkeit. Nicht Wegducken. Nicht Bravheit. Nicht bloß Höflichkeit und schon gar nicht Schmeichelei. 

Sie ist nicht das Gegenteil von Widerspruchsgeist. Sondern von Aggressivität, Rücksichtslosigkeit oder Gewalt gegen andere. 

Freundlichkeit ist nicht die Alternative zur Robustheit, zum Widerstand, zur Standhaftigkeit oder Wehrhaftigkeit. Man kann gerüstet sein und freundlich sein. Nur unachtsam und dabei ständig entrüstet sein, ist wenig hilfreich.


Freundlichkeit fragt


Freundlichkeit ist zunächst ein abstrakter Begriff. Wie Menschenwürde, Respekt, Hoffnung, Solidarität. Greifbar werden diese Begriffe erst durch Personifizierung. Ich behandele Freundlichkeit wie eine Person. Sie ist der kleine Gott, der zwischen uns tätig wird, wenn wir scheinbar wichtigere, ernste Dinge unternehmen. Der kleine, unscheinbare Glücksgott des Alltags. Oder vielleicht besser die kleine Göttin. So wie Hermes in weiblicher Gestalt. Sie vermittelt, fördert den Austausch zwischen Fremden, stellt Kontakte her zwischen feindlich gesonnenen Parteien, ermöglicht pragmatisch Lösungen, wo Dinge ausweglos scheinen. 

Mir scheint, diese kleine Göttin wird zurzeit vielerorts gebraucht. "If you are very strong, you must also be very kind", sagt Astrid Lindgren, von der wir sehr viel über eine nicht angepasste Freundlichkeit lernen können. 

Freundlichkeit fragt nicht nach der Gesinnung, nach der Meinung, nach dem Alter, nach dem Geschlecht, nach der Konfession, nach dem Status, nach der Identität oder der Nation. Freundlichkeit fragt: Wie geht es Dir? Was brauchst Du? Was bewegt Dich? Womit kann ich Dir helfen? Was würde Dich freuen? 

Freundlichkeit wird weder die Gewalt noch das Leid, weder die Ungewissheit noch die soziale Ungleichheit oder die Armut aus der Welt schaffen. Sie kann überhaupt nichts wegschaffen. Sie kann keine der großen Menschheitsprobleme lösen. Sie kann nur helfen, dass wir in unserem unmittelbaren Umfeld vielleicht etwas anders an manche Probleme herangehen und miteinander bei unseren Lösungsversuchen umgehen.


So etwas wie Ubuntu


Freundlichkeit ist nicht die Lösung. 

Sie ist ein elementarer Bestandteil möglicher Lösungen. 

Sie hilft, Dinge zu lösen, die fest geworden sind. In den Köpfen und Körpern. Verhärtete Positionen, Stellungen, Blockaden, binäre Stereotypen, Feindschaften. 

Sie ist die Schwester der Kreativität und der Freiheit, der Paradoxie, der List und des Humors. 

Freundlichkeit ist ein natürliches Heilmittel gegen Arroganz, Aggressivität und Zwietracht. Und wenn die Einnahme vergessen wurde, hilft sie zumindest beim Neusortieren der Gedanken und Emotionen. Dazu werden wir in den kommenden Jahren noch genug Gelegenheit haben. Denn der Abschied von der uns vertrauten Moderne hat gerade erst begonnen. 

Dabei gibt sie selbst zu: Sie kann nichts ausrichten gegen Geschrei. Und sie ist der Niedertracht unterlegen. 

Freundlichkeit ist "liebevolle Zuwendung" wie Olga Tokarczuk sagt. Sie ähnelt der Lebensphilosophie und Haltung, die im Afrikanischen als Ubuntu bezeichnet wird. "Wenn wir irgendjemandem großes Lob aussprechen wollen, sagen wir, ‚Yu, u nobuntu‘ oder ‚Hey, Soundso hat Ubuntu.‘ Das heißt, derjenige ist großzügig und gastfreundlich, er ist freundlich, fürsorglich und mitfühlend", so Desmond Tutu. Ich habe mich gefragt, ob wir im Deutschen etwas Ähnliches wie Ubuntu haben. Mir ist auch nach längerem Nachdenken nur das Wort Freundlichkeit eingefallen. Man müsste es nur vom Mehltau des Alltages befreien, der sich nichtssagend über dieses Wort gelegt hat.


Unterschätzte Tugend


Freundlichkeit wird gebraucht, wenn es gilt, unaufgeregt schwierige, wirklich komplexe Probleme anzugehen: ökologische, ökonomische, politische, soziale. Tatsächlich praktisch anzugehen, nicht nur den Zorn gegen Versäumnisse der Vergangenheit zu mobilisieren. Freundlichkeit ist interessiert an Zukunftssicherung durch Innovationen und Nachhaltigkeit. Nicht an Statussicherung durch Bräsigkeit. Oder Polarisierung durch Gehässigkeit. Keine Teamarbeit, keine wissenschaftliche Expedition, keine kooperative, datenbasierte Forschung zum Schutz der Natur ohne Freundlichkeit. 

Freundlichkeit ist einfach. Freundlichkeit ist praktisch. 

Freundlichkeit ist zäh. Sie hilft uns, Kämpfe zu bestehen. Sie unterstützt uns dabei, beim Anpacken und Zupacken nicht die Geduld zu verlieren. 

Freundliches wird nicht vergessen. Freundliche Menschen bleiben in unserem Gedächtnis. Freundliche Orte auch. Da kehren wir gerne zurück. Ich halte Freundlichkeit für eine der am meisten unterschätzten Tugenden. Vielleicht, weil sie so selbstverständlich zu sein scheint. Sie ist aber nicht selbstverständlich. 

Sie ist nicht so spektakulär wie die brennende Liebe, die wir besingen. Die uns entzückt und beglückt, die sich uns für andere aufopfern lässt. Sie ist keine Passion und keine Mission. Sie begehrt nicht, sie verzehrt nicht. Übergriffe und Gewalt gegen das Begehrte oder das Verabscheute kennt sie nicht.


Freundlichkeit: das Dazwischen


Freundlichkeit ist nicht unbedingt das, was man in jüngeren Jahren für besonders interessant oder beachtenswert hält. Man akzeptiert es oder ignoriert es. Es ist nicht der Rede wert. Doch allmählich merken wir, dass die Fairness, die wir im Spiel und im Sport für wichtig halten, eine Form der Freundlichkeit ist. Wir spüren, dass Kreativität und Professionalität und das Sich-gegenseitig-Helfen im Beruf mit alltäglicher selbstverständlicher Freundlichkeit zu tun haben. Professionalität, menschliche, kommunikative und systemische Professionalität, ist immer auch Einbeziehen der Anderen und des Anderen. Und meist noch etwas später entdecken wir, dass Freundlichkeit in fast allem steckt, was uns wichtig ist. Ich habe es schon angedeutet: von der Gastfreundlichkeit bis zur Umweltfreundlichkeit. 

Freundlichkeit ist das Dazwischen, das beiden Seiten guttut. 

"Freundlich" ist die goldene Regel in kürzester Form. Sie wird überall auf der Welt verstanden. 

Freundlichkeit ist eine zivilisatorische Grundhaltung. 

Die Kategorie der Freundlichkeit macht uns darauf aufmerksam, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der ökologischen und der sozialen Frage. Freundlich mit der Natur, mit unserer Umwelt und Mitwelt umgehen - auch wenn uns danach nicht immer zumute ist. Das ist eigentlich der Kern der Nachhaltigkeit.


In Beziehung sein


Nachhaltig ist ein zirkuläres Prinzip. Wir fangen gerade erst an zu verstehen, wie das geht. Ein kleines Beispiel dafür ist ein gutes Gespräch, ein Dialog. "Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte", hat Hans-Georg Gadamer einmal gesagt. 

Da entwickelt sich eine Logik, die sich unterscheidet von der, die wir aus vielen Talkrunden oder Diskussionen kennen. Ich habe die gewohnte Logik einmal - ohne zu wissen, wie aktuell die Metapher noch werden könnte - die lineare Schusswaffenlogik genannt: zielen - feuern. Die Kugel fliegt in die gewünschte Richtung und kommt nicht mehr zurück. Im Unterschied dazu sagt die zirkuläre Logik: Alles kommt irgendwann wieder zurück. Also sorge gleich dafür. Öffne, bevor du schließt. Höre zu, bevor du redest. 

"Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich nicht die Antwort des anderen darauf gehört habe". So hat es einmal Norbert Wiener formuliert. "Zirkulär" heißt: in Beziehung sein. Du sparst Zeit, obwohl du länger dafür brauchst. Das ist ein lebendiges Prinzip. 

Wer dies verletzt, verletzt fragile soziale und ökologische Gleichgewichte. 

Wir geben zu viel rein in die Welt um uns herum - ohne uns darum zu kümmern, ob diese das aufnehmen kann. Das gilt nicht nur für die Atmosphäre. Oder für die Meere. 

Und wir nehmen uns zu viel raus - ohne dafür zu sorgen, dass wir wieder etwas reintun. Das gilt nicht nur für den Wald. 

Das eine ist der rücksichtslose Ausstoß. Das andere die nicht minder rücksichtslose Extraktion. An die wir uns überall längst gewöhnt haben, in der Umwelt und in der Mitwelt. Und ich rede hier nicht nur von den wirklich schmutzigen Extraktionen, manchmal auch den kriegerischen. Rund um den Erdball. Da merken wir bei jeder neuen Klimakonferenz, wie lange es dauert, bis wir diese abstellen können. 

Der Schöpfer des Begriffs der Nachhaltigkeit war Hans Carl von Carlowitz (1645-1714). Er wirkte als Europäer in der Zeit einer großen Energiekrise. Seine Idee: Für jeden Baum, den wir aus den Wäldern entnehmen, sollten wir wieder einen neuen pflanzen. Wie lange ist das her? 311 Jahre. Er hat diese einfache Idee 1713 als Forstwirt in seinem Buch Sylvicultura oeconomica publiziert. Ein Jahr vor seinem Tod. Wie lange hat es gebraucht, bis dieser Gedanke Allgemeingut geworden ist!


Unterbrechen können


Bei den sozialen Extraktionen ist der Mensch selbst der Boden, aus dem die Schätze entnommen werden. Ein Schelm, wer dabei auch an manche der großen Plattformen denkt, die wir meist alle nutzen. Auch diese Art der Extraktion lässt sich nicht einfach abstellen. Aber wir selbst können manches öfter abstellen. Wir können unterbrechen. Was steht dann auf dem Programm? Wir. Die andere, der andere. Statt etwas rauszunehmen, etwas mitbringen, etwas geben. Auch mithilfe der neuen Technologien. Nichts Großes. Zeit schenken, Aufmerksamkeit schenken, Freude und Freundlichkeit schenken. Zuhören, uns erkundigen, den Redeschwall und die Empörungen unterbrechen. Leiser werden. Und: nicht besser wissen. Dem anderen keinen Rat geben. Sich nicht für schlauer halten. Nicht schneller laufen wollen. 

Aber vielleicht etwas gemeinsam anstellen. Das Gesellige mit dem Gemeinschaftlichen und dem Unternehmerischen verbinden. Gemeinsam etwas bauen oder pflanzen. Im bürgerschaftlichen Engagement. Für den Verein. Für die Schule. Für das Quartier. Um in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde energieautarker zu werden. Um den sozialen Zusammenhang zu stärken. Der genossenschaftliche Gedanke wird gerade an vielen Orten neu belebt. Auf vielen Feldern tauschen sich Unternehmer, Forscher, kreative Praktiker in Netzwerken aus, helfen sich gegenseitig, schaffen neue Begegnungsräume und Foren. Soziales Lernen, soziale Kooperationen und soziale Innovation wirken zusammen. 

Ich habe das Gefühl, dass gerade enorm viel entsteht, was nicht in den Schulbüchern steht. Auch nicht in den Drehbüchern. Und das dem trotzt, was Menschen gegeneinander aufbringen, aggressiv und gewalttätig werden lässt. Im Arbeitsjournal von Bertolt Brecht nach dem Ende des zweiten Weltkrieges steht diese Beobachtung: "gewalttätigkeit, anstatt die kräfte zusammenzuhalten, spaltet sie; das elementar menschliche zu sehr gedrückt, explodiert, und wirft das ganze auseinander und in die vernichtung."


Mit Ungewissheit umgehen


Diese Fragen haben mich beschäftigt. Ich habe gerade in den letzten Jahren gespürt, dass Freundlichkeit mich sehr angeht. Dass sie etwas mit meinem Leben, meinen Erfahrungen, meinem Denken zu tun hat. Dazu gehört das Nichtgeplante, das Unerwartete. Freundlichkeit ist vielleicht auch deshalb so wichtig, weil sie uns hilft, in einer Zeit der Ungewissheit miteinander respektvoll und menschenwürdig umzugehen. Unabhängig davon, wie wir die Chancen einschätzen, dass die Menschheit die globalen Probleme wird lösen können. 

Menschenwürdig heißt ohne Forderungen, ohne das Besserwissen und ohne das belehrende "wir müssen". Freundlichkeit fordert nicht, Freundlichkeit will nicht den anderen bekehren und niemanden zu irgendetwas zwingen. 

Sie gibt nicht an, was sie alles kann. Sie stellt keine Bedingungen. Keine Ansprüche. Keine Anforderungen an andere, bevor diese in den Club der Freundlichen aufgenommen werden können. 

Ich habe gemerkt, dass ich immer wieder auf das Thema Freundlichkeit stoße, zurückkomme, es umkreise. Während ich das niederschreibe, kommen mir die Worte von Aldous Huxley in den Sinn: "Die Leute fragen mich oft, was die wirksamste Methode sei, mit der sie ihr Leben verändern können. Es ist ein wenig peinlich, dass ich nach all den Jahren des Forschens und Experimentierens sagen muss, dass die beste Lösung die folgende ist: Seien Sie einfach ein bisschen freundlicher."


Sich auf Zwischenräume einlassen


Ich glaube an den wissenschaftlichen, künstlerischen und sozialen Erfindungsreichtum der Menschen. Ich vermute, dass unser sozialer Erfindungsreichtum in nächster Zukunft besonders gefragt ist. Er wird sich zwischen den bereits erschlossenen Gebieten unseres Wissens besonders bewähren. Wir wissen nur noch nicht, wie. Mehr Gemeinschaft. Weniger Ego. Das wünschen sich viele. Doch wie können wir das zumindest in unserem eigenen Einflussbereich ermöglichen? Indem wir weniger recht haben wollen. Indem wir nicht sofort abwerten. Indem wir leerer werden. Und uns dann positiv fokussieren. Uns auf Zwischenräume einlassen: zwischen uns und den anderen, zwischen unserer Meinung und der der anderen, zwischen Wissen und Nichtwissen. 

Der Physiker Carlo Rovelli hat das so ausgedrückt: "Wir leben in einem Universum, in dem Unwissenheit vorherrscht. Wir wissen viele Dinge, doch es gibt eine ganze Menge mehr, was wir nicht wissen. Wir wissen nicht, wen wir morgen auf der Straße treffen werden, wir kennen die Ursachen vieler Krankheiten nicht, wir kennen die ultimativen Gesetze nicht, die das Universum lenken, wir wissen nicht, wer die nächste Wahl gewinnen wird (…). In dieser grundlegend unsicheren Welt wäre es töricht, absolute Sicherheit zu verlangen. Wer prahlt, er sei sich seiner Sache sicher, ist gewöhnlich am unzuverlässigsten. Aber das heißt im Umkehrschluss nicht, dass wir völlig im Dunkeln tappen. Inmitten von Sicherheit und völliger Unsicherheit gibt es einen kostbaren Zwischenraum - und genau in diesem Zwischenraum entfalten sich unser Leben und unsere Gedanken."


Eine Sprache, die verbindet


Bewusst sein: Viele, die heute in Veränderungsprozessen arbeiten, kennen Übungen und Techniken, um die innere Achtsamkeit und Bewusstheit zu schulen. In verschiedenen Spielarten der Meditation, der religiösen oder säkularen Spiritualität. 

Manchmal tut es gut, diese Übungen zu verbinden mit einem Bewusstsein für Geschichte und Kultur. Genauer: für die geschichtlich gewachsenen Kulturen - der eigenen und der der anderen. Verbunden mit dem Eingeständnis, dass wir nicht im Besitz des wahren Wissens oder Glaubens sind. Wir brauchen ein Bewusstsein, das verbindet. Und wir brauchen Sprachen dafür. 

Freundlichkeit ist eine dieser Sprachen. Eine Sprache, die nicht recht haben will. 

Diese Sprache beginnt mit dem Zuhören. Mit dem Wahrnehmen des Zwischenraums. Und mit dem Wagnis, drei Worte auszusprechen: "Ich weiß nicht". 

Das "Ich weiß nicht" ist die Quelle der Philosophie. 

Es ist die Quelle der Inspiration und der Innovation. Es ist die Quelle der Suche nach Lösungen in Zwischenräumen. 


Kleine Formen


Freundlichkeit beginnt im Kleinen. Unscheinbar, kaum der Rede wert. Im Alltäglichen. In der Gemeinschaft, bei der Arbeit, im Verein. Wir kennen vieles davon aus der systemischen Arbeit. Oder einfach aus dem guten Zuhören. Sie wirkt auch in größeren Zusammenhängen, in Verbänden, in der Gesellschaft. Dort nicht immer sofort erkennbar. Wenn nicht, ist es um das schlecht bestellt, was wir Zivilisation nennen. 

Natürlich: Gemeinschaft und Gesellschaft sind etwas ganz Verschiedenes. Persönliches Verhalten ist nicht gesellschaftliches Wirken. So wenig wie die Einforderung von Respekt gesellschaftliche Ungleichheiten mindert oder Strukturen verändert. Aber vielleicht kann Freundlichkeit Brücken bauen? Vielleicht ist sie tatsächlich eine Art Dolmetscherin? Zwischen den Feldern, Communities und deren Abgrenzungen wirkend, Teil einer Parabel dieser Zeit, die einige der vielen Ich-Erzählungen miteinander verknüpfen könnte? Das ist meine Hoffnung. 

Bei Adalbert Stifter gibt es diesen Gedanken: "Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers halte ich für groß; den Blitz, welcher Häuser spaltet, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind." So wie in der äußeren Natur, so sei auch beim Menschen das Stetige, Beharrliche mächtiger als "mächtige Bewegungen des Gemütes", als Zorn und Rache, so Stifter. "Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird." Adalbert Stifter sagte nicht, das sanfte Gesetz sei stärker als das Gesetz der Gewalt oder als das Gesetz des Stärkeren. Er empfahl nur, dem sanften Gesetz mehr Beachtung zu schenken. Möglichst frühzeitig. Das ist freundlich. Einwirken auf das, was noch nicht verhärtet ist, könnte man es auch nennen.


Beginnen und experimentieren


Die Welt freundlicher machen heißt nicht, sich etwas vorzumachen. Zum Beispiel sich einzureden, dass die Welt schon heute freundlich ist. Oder dass sie es morgen ist. 

Es heißt vielmehr, Bedingungen zu schaffen, dass sie freundlicher wird. Und selbst dazu beizutragen. Den eigenen Möglichkeiten entsprechend. 

"Der eine baut, ein anderer konstruiert, ein Dritter macht Musik", wie es auf einer Tafel der Freunde des Winzerberges in Potsdam heißt, die mit ihrer freiwilligen Arbeit diesen Weinberg in einem Zeitraum von etwa zehn Jahren wieder aufgebaut und zu einem liebenswerten Ort gemacht haben. Einem Ort, an dem sich Menschen treffen, miteinander sprechen, trinken und essen, Spazierengehen, Musik machen, freundlich sein können. 

Das Schöne daran ist: Ich kann damit sofort beginnen und experimentieren. Wenn ein neues Stadtviertel gebaut wird. Ein neuer Platz. Ein neuer Betrieb. Ein neues Krankenhaus. Ein neues Altenheim. Eine neue Raststätte. Eine neue Fabrik. Ein neues Lager. Wenn eine neue Technologie entwickelt wird. Eine neue Regelung. Ein neues Produkt. Oder wenn etwas umgebaut wird. Ist das freundlich? Menschenfreundlich, umweltfreundlich, kundenfreundlich, gastfreundlich? Wie können wir es freundlicher machen? 

Wo immer etwas geplant, konzipiert oder produziert wird: Freundlichkeit könnte einer der Begriffe sein, von denen wir uns in Zukunft leiten lassen. Dinge funktionieren besser, wenn wir nicht nur aufs Funktionieren schauen. Andernfalls würden wir in Organisationen nicht über Organisationskultur reden.


Eine kleine Geschichte


Barbara, eigentlich Monique Andrée Serf, Tochter jüdischer Eltern, mit ihrer Familie in den Kriegsjahren immer auf der Flucht vor den Nazis, ist eine französische Chansonsängerin, Liedtexterin, und Komponistin in Paris. Sie ist noch nicht sehr berühmt. Und sie hat keine guten Erinnerungen an die Deutschen. Mehrere Versuche des Leiters des Jungen Theaters Göttingen, sie zu einer Konzertreise nach Göttingen zur bewegen, schlagen fehl. 

Schließlich, immer noch eher widerwillig, sagt sie zu. Sie fährt für ein Gastspiel nach Göttingen. Und kommt ins Junge Theater. Sie betritt die Bühne für eine Probe. Dort gibt es keinen Flügel. Dort steht nur ein Klavier. Sie ist in dem Moment verärgert, denn es war ihr ein Flügel versprochen worden. Sie weigert sich, so aufzutreten und zu singen. Zumal das Klavier die Sicht und den Kontakt zum Publikum versperrt. Die Kollegen des Theaters sind verzweifelt. Was tun? 

Irgendjemand erzählt von einer älteren Dame irgendwo in Göttingen, die einen Flügel habe. Sie wird kontaktiert und bietet an, ihren Flügel für das Konzert zur Verfügung zu stellen. Die Freundlichkeit steckt an. Zehn hilfsbereite Studenten schleppen den Flügel durch halb Göttingen und bugsieren ihn in den Saal. Barbara tritt schließlich auf. Mit zwei Stunden Verspätung. Sie bekommt einen begeisterten Applaus. 

Nun beschließt sie noch ein paar Tage zu bleiben. In dieser Zeit dichtet und komponiert sie das Lied "Göttingen". Es handelt von ihrer beginnenden, kleinen, liebevollen Zuneigung zu dieser kleinen Universitätsstadt. 

Sie singt das noch unfertige Lied, als sie noch einmal in Göttingen zum Abschluss auftritt. Und kurze Zeit später in Paris. Beide Male noch mehr Begeisterung. Die Freundlichkeit fliegt über Grenzen. Das Lied erobert Frankreich. Alles summt oder singt "Göttingen". Es war vermutlich der wichtigste Beitrag zur Versöhnung der beiden Völker, zur deutsch-französischen Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Keine Verständigungsinitiative der Politik hatte diese Wirkung. 

Ihr Auslöser: Freundlichkeit. 


Dieser Essay greift Gedanken aus dem Schlusskapitel von Bernhard von Mutius’ Buch Über Lebenskunst auf und führt sie weiter. Für changeX hat der Autor den Text geschärft, überarbeitet und ergänzt.


Zitate


"Freundlichkeit ist vielleicht auch deshalb so wichtig, weil sie uns hilft, in einer Zeit der Ungewissheit miteinander respektvoll und menschenwürdig umzugehen." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Ich glaube nicht, dass wir die gegenwärtigen Krisen und Konflikte ohne pragmatische Freundlichkeit meistern werden." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, um zu leben - und zu überleben. Wo auch immer wir aktiv sind, was auch immer wir tun." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Es gibt ein starkes Bedürfnis nach Freundlichkeit in diesen Tagen. Wir haben das Gefühl, mit freundlicher Gelassenheit könnte manches leichter gehen." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit fragt nicht nach der Gesinnung, nach der Meinung, nach dem Alter, nach dem Geschlecht, nach der Konfession, nach dem Status, nach der Identität oder der Nation. Freundlichkeit fragt: Wie geht es Dir? Was brauchst Du? Was bewegt Dich? Womit kann ich Dir helfen? Was würde Dich freuen?" Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit ist nicht die Lösung. Sie ist ein elementarer Bestandteil möglicher Lösungen." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit wird gebraucht, wenn es gilt, unaufgeregt schwierige, wirklich komplexe Probleme anzugehen: ökologische, ökonomische, politische, soziale." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Ich halte Freundlichkeit für eine der am meisten unterschätzten Tugenden. Vielleicht, weil sie so selbstverständlich zu sein scheint. Sie ist aber nicht selbstverständlich." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit ist das Dazwischen, das beiden Seiten guttut. Freundlichkeit ist eine zivilisatorische Grundhaltung." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit beginnt im Kleinen." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit könnte einer der Begriffe sein, von denen wir uns in Zukunft leiten lassen." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

"Freundlichkeit fliegt über Grenzen." Bernhard von Mutius: Von der Freundlichkeit

 

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Quellenangaben

Zum Buch

: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten. GABAL Verlag, Offenbach 2023, 208 Seiten, 29.90 Euro (D), ISBN 978-3-96739-144-2

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Autor

Bernhard von Mutius
Mutius

Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler

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