Raum für Dissonanz

Der morgendliche Blick aus dem Fenster oder die Welt als Differenzraum
Essay: Ina Schmidt

Was kann uns in brüchigen Zeiten, in einer vielfältigen, dissonanten, chaotisch erscheinenden Welt Orientierung geben? Das Streben nach Resonanz bietet nur scheinbar einen Ausweg. Denn das Gefühl von Stimmigkeit, von Einklang bleibt unverfügbar. Es lässt sich nicht herstellen, nicht erzwingen. Was wir indes tun können, das ist, eine andere Form der Wahrnehmung einzuüben. Die nicht auf Eindeutigkeit und Harmonie ausgerichtet ist, sondern Differenz und Dissonanz anerkennen lernt, und doch für einen gemeinsamen Bezugsrahmen sorgt. In Vielstimmigkeit und Vielfalt werden dann - vielleicht - auch Resonanzerfahrungen möglich.

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Zur Ruhe kommen, in der Gegenwärtigkeit des Moments innehalten und einverstanden sein mit dem, was ist - das klingt nach einem Zustand, nach dem wir uns alle sehnen. Zumindest hin und wieder und gerade am Beginn des Jahres, an dem wir überlegen, was wir anders, besser, richtiger machen oder lassen könnten. Auch das kann ein guter Vorsatz sein, weniger verändern zu wollen, zufriedener zu werden mit dem, was wir vielleicht nicht ändern können. Und doch: Gerade in Zeiten der Unsicherheit sollte es darum gehen, sich eben nicht zufriedenzugeben. Sondern für Orientierung zu sorgen. Zu klären, was wirklich wichtig ist. Was bleiben soll, und was eben nicht. Aber wie erkennen wir diese Kostbarkeiten in der Vielstimmigkeit einer Welt, die so viel anzubieten hat, dass diese Vielfalt nicht nur Fülle, sondern oft genug Überforderung und Überlastung bedeutet? Was gilt es zu ändern, was zu verbessern? Und was gelingt vielleicht gerade deswegen, weil wir lernen, das Tun zu lassen? 

Die Suche nach Antworten auf diesen Wegen ist begleitet von Stolpern und Schwanken, von Verwirrung und Unstimmigkeit. Vieles, was Orientierung und Wegweisung gewesen ist, um auf die Herausforderungen des Lebens antworten zu können, ist erschüttert, brüchig geworden oder hat sich selbst überlebt. Es ist nicht leicht zu erkennen, was richtig ist, und oft scheint das Gegenteil nicht weniger zweifelhaft. Wir wissen schlicht nicht mehr so genau, welches Wissen, welche Überzeugung, welche Prognose für uns als Leitlinie taugen kann. Und es bleibt oftmals ein rein emotionaler Zugang, ein Gefühl, dass sich etwas richtig "anfühlt". Dass es so etwas wie Übereinstimmung spürbar werden lässt und so eine andere Form von Gewissheit anbietet, die nicht begründet oder bedacht sein muss. 

Aber ist es das, was wir wirklich suchen? Ist es dieses momenthafte Gefühl der Verbundenheit, das uns in diesen brüchigen Zeiten eine Richtung weisen oder Orientierung bieten kann?


In der Resonanz finden wir keine Orientierung



Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat 2016 mit dem Begriff der "Resonanz" so etwas wie eine begriffliche Grundlage für diese Vermutung geliefert, wenn er in resonanten Momenten eine eigene Form der Weltaneignung erkennt, die in der Lage ist, in einer solchen momenthaften Erfahrung Übereinstimmung mit sich und der Welt zu erleben. Und doch würde er selbst wohl davon abraten, sich auf die Suche nach solchen Resonanzerfahrungen zu machen. 

In seinem umfangreichen Werk Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung eröffnet der Soziologe eine Möglichkeit, diese Erfahrungen eines resonanten Weltverhältnisses zu beschreiben und ihnen einen besonderen Wert zuzuschreiben. Und ja, er sieht in der fokussierten Ausrichtung auf diesen Wert eine denkbare Antwort auf eine immer dynamischere, rastlose und sich scheinbar zwanghaft maximierende Welt, die nicht anzuhalten ist. Aber darin liegt keine Gegenbewegung, die unsere Welt langsamer oder übersichtlicher sein lässt. Das, was Rosa einen rasenden Stillstand nennt, ist es auch, was ebendiese Welt stabilisiert - wir können nicht einfach den Fuß vom Gas nehmen und uns in dieser vermeintlichen Ruhe erholen. Denn der Wunsch nach Verlangsamung ist keine individuell zu lösende Aufgabe, sondern in der uns überfordernden Dynamik liegt eine systemimmanente Qualität. 

Was wir indes tun können: in dieser rastlosen Dynamik eine andere Form der Wahrnehmung einzuüben, um anders zu unserer Welt in Beziehung zu treten, um eine andere "Qualität der Weltaneignung" (Rosa) anzustreben, die sich dem öffnet, was dennoch momenthaft möglich bleibt. Aber selbst wenn uns das gelingt - und diese Einschränkung ist zentral für die Umsetzbarkeit resonanter Erfahrungsmomente -, sind und bleiben Resonanzerfahrungen unverfügbar. Sie entziehen sich unseren Kriterien von Mach- und Herstellbarkeit. Wir können Voraussetzungen schaffen, in denen Resonanzmomente sich vielleicht eher einstellen als in anderen, aber es gibt keinen Anspruch, keine gerechtfertigte Erwartung, dass dies geschieht. Unverfügbar bleibt damit sowohl die Erfahrung selbst als auch das, was wir uns von ihr erhoffen. 

In einem eigenen Werk zum Phänomen der Unverfügbarkeit macht Rosa sehr deutlich, dass Resonanzmomente sich in unseren Lebenswelten ereignen können, wenn wir wahrhaftig für eine bewusste Beziehung zu unserer Welt sorgen, doch den Wunsch nach Orientierung oder gar Gewissheit wird uns das Streben nach Resonanz nicht erfüllen. Ganz im Gegenteil. Die Jagd nach Resonanzmomenten, in denen wir mit der Welt einverstanden sind und mit ihr übereinstimmen, führt in die entgegengesetzte Richtung - zur Entfremdung von dem, womit wir uns eigentlich verbinden, ein Verhältnis aufbauen wollen. Denn in einer zielgerichteten Suche liegt wesenhaft die Vorstellung verborgen, dass wir durch unser Tun etwas erreichen können, was in direktem Verhältnis zu ebendiesem Tun steht - dass Resonanz also die Wirkung einer Ursache ist, für die wir uns als handelnde Person entscheiden können. Diesem Prinzip aber widerstrebt jede Form der Resonanz als Ereignis, das sich eröffnen kann oder auch nicht. 

Was also tun, wenn es trotz aller Dynamik und dem Wunsch nach verbessernder Veränderung doch weiterhin darum gehen soll, das eigene Leben als ein geprüftes gelingen zu lassen, so wie es schon Sokrates anmahnte - ein weiser Rat, der gerade in globalen und digitalen Krisenzeiten nichts an Aktualität eingebüßt hat? Bereits in den beiden Begriffen "Prüfen" und "Gelingen" deutet sich ein mögliches Tun an, das uns an manchen Abzweigungen von den gewohnten Pfaden abweichen, aber nicht auf der Jagd nach persönlicher Stimmigkeit verzweifeln lässt. Sondern ein Tun, das dadurch resonant genannt werden kann, dass es das Dissonante als Wesenszug jeder Form von Lebendigkeit anerkennt. Die Prüfung, die wir vornehmen können, ist demnach eine rein betrachtende, eine phänomenologische, die auch in der Differenz und Vielstimmigkeit einer unübersichtlichen Wirklichkeit in den Blick zu nehmen versteht, was "der Fall ist". Statt herbeizusehnen, was besser, schöner, effizienter oder klüger wäre. Schauen wir uns mit einem solchen Blick in unseren Lebenswirklichkeiten um, werden wir auf ein Kaleidoskop an Unterschiedlichkeit stoßen, das so viel Verschiedenheit und Pluralität versammelt, dass es als unmöglich erscheint, in unserer gesellschaftlichen Welt Übereinstimmung oder Einigkeit überhaupt anstreben zu wollen. 

Wenn aber diese Idee der Einigkeit nicht nur kontextbezogen, sondern grundsätzlich zu verabschieden ist und es vielmehr darum geht, "Vielstimmigkeit" zu ermöglichen, auszuhalten, zu tolerieren, um die darin immer mögliche "Unstimmigkeit" so gering wie möglich zu halten, dann wechseln wir automatisch die Perspektive. Ein solches als "dissonant" begriffenes Leben würde das Nichtstimmige als Wesensmerkmal der eigenen Existenz anerkennen. Und würde es so ermöglichen, die Ausnahmemomente unverfügbarer Resonanz als Ereignis dankbar anzunehmen, ohne sie festhalten oder wiederholen zu wollen. In dieser Vorstellung eines dissonanten Mit- und Nebeneinanders geht es nicht darum, zu bewerten oder zu hierarchisieren, was uns unterscheidet. Sondern darum, uns gegenseitig die Möglichkeit einzuräumen, Nichtübereinstimmung wahrzunehmen. Um so eine geprüfte Übereinstimmung möglich zu machen, die nicht auf gefühlte Stimmigkeit angewiesen ist, sondern uns erlaubt, verschieden zu sein und zu bleiben.


Exzentrisches Denken: einen Schritt zur Seite machen


Die polnische Dichterin Olga Tokarczuk rät an ebendieser Stelle zu Übungen im Fremdsein, der Titel ihres Essaybandes, in dem sie die fundamentale Erschütterung menschlicher Narrative thematisiert, die sie durch die Erfahrungen der Pandemie zum Teil sogar ganz zerstört sieht. Manche Denkweisen funktionieren nicht mehr, aber darin liegt auch ein Potenzial. Was also, so Tokarczuk, wenn "wir einen Schritt zur Seite machten, (...) die ausgetretenen Pfade unserer Überlegungen, Gedanken, Diskurse verließen und uns aus den Systemen von Blasen hinausbegäben, die alle um ein gemeinsames Zentrum kreisen?" Dieser Schritt zur Seite ist es, was die Grundlage für ein anderes Denken sein kann, so die Dichterin, ein exzentrisches Denken: ein Denken, das nicht mehr um ein gemeinsames Zentrum, um den Wunsch nach Wahrheit und Eindeutigkeit kreist und sich selbst als Kontrollinstrument menschlicher Schwächen überschätzt. Sondern ein Denken, das Vielheit und chaotische Nichtübereinstimmung als Wesenselemente unserer Welt begreift. 

Für dieses Wagnis prägt Olga Tokarczuk den Begriff der "Ognosie", ein "narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess", in dessen Zuge "Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen". Es gilt, gewissermaßen "kairologische" Momente auszumachen, die wir ergreifen, aber nicht festhalten können. Flüchtige Erkenntnisse wechselseitiger Bedingtheiten, die eine Einsicht bieten, ohne erklärbar sein zu müssen. Die Qualität dessen, was durch eine solche Form der "Ognosie" nicht nur zum Vorschein kommen, sondern zum Thema unseres Handelns werden kann, ist das "Agonale", wie es schon die Denkerin Hannah Arendt nannte: das, was der Differenz, Nichtübereinstimmung und sogar Formen der Aggression bedarf, um die eigene Haltung überhaupt ausmachen zu können. Den "Übungen im Fremdsein" von denen Tokarczuk spricht. 

Auch Sigmund Freud war überzeugt, "dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist (…), sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf". In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur hat Freud der Aggression sogar einen schöpferischen Aspekt zugeschrieben, den wir durchaus infrage stellen können. Aber dennoch verlieren wir bei einer generellen Ächtung jeglicher Form von aggressivem Verhalten den Blick für die Nuancen, für die Formen, in denen sich verschiedenste Gesichter der Negativität zeigen. Und diese Negativität als Gegenpol zur harmonischen Positivität darf nicht als etwas zu Meidendes abgelehnt werden, sondern ist Teil unserer geprüften Lebenswirklichkeit. Dabei ist mit Negativität nicht zwingend Grausamkeit, Zerstörung oder Verrat gemeint. Dazu gehört auch all das, was sich unserer Kontrolle oder unseren gewohnten Denkweisen entzieht. Das, was wir als unverständlich oder störend erleben und mit dem Soziologen Georg Simmel als "Geheimnis" beschreiben können. Aber die Qualität des Positiven, des Guten, liegt nicht allein darin, ans Licht gezerrt werden zu können. Die Güte einer Sache, einer Begegnung, einer Überzeugung liegt nicht in der Qualität der Durchschaubarkeit, mit der wir Licht in jedes Dunkel zu bringen versuchen, sondern in der Möglichkeit ihrer Begründung. Auch ein guter Grund kann geheimnisvoll sein, kann für manchen im Dunkeln liegen bleiben. 

In einer Art zeitgenössischer Übersetzung kritisiert der Philosoph Byung-Chul Han den gegenwärtig verbreiteten Selbstzweck dieses Strebens nach der lichten Transparenz eindeutiger Positivität aufs Schärfste, weil dieses Streben das vermeintlich Wesentliche nicht notwendigerweise sichtbar mache, sondern ihm oftmals sogar seinen eigenen Ausdruck raube, ihm die Tiefe nehme und damit das "Antlitz" des Anderen auf seine bloße Oberfläche reduziere. Denn das macht die geheimnisvolle Agonalität der Differenz aus: In der Differenz kann eine Verbindung liegen, kann ein Verhältnis entstehen, das den Anderen oder das Andere zwar als unverständlich verurteilt oder gar ablehnt, es aber dennoch als Teil einer zu akzeptierenden Wirklichkeit annimmt. Es also nicht zwingend zu bekämpfen oder zu vereinheitlichen sucht, selbst dann nicht, wenn wir uns von ihm abwenden oder es aus gutem Grund verurteilen.


Differenzräume öffnen


So gilt es, sich bei der gegenwärtigen Suche nach Orientierung und Vergewisserung - durchaus weiter vom Wunsch nach Resonanz geleitet - der Dissonanz zuzuwenden. Um herauszufinden, wie wir Resonanzräume in einer Welt zu entdecken vermögen, die bei genauer Betrachtung ein einziger geheimnisvoller Differenzraum zu sein scheint. Wenn wir also von unserer harmonischen Grundidee einer notwendig letzten Einheit des Resonanten ablassen, dann ist es gerade diese Pluralität, sind es die Vielstimmigkeit und Uneinigkeit, die Vielfalt und Diversität ausmachen. Vielfalt erscheint so stärker als Quelle denn als Bedrohung - wenn wir nämlich die Differenz als etwas Hinzunehmendes akzeptieren, statt zu versuchen, das Unverständliche dem Verständlichen anzugleichen. 

Auf diese Weise arbeiten wir an der beständigen Gestaltung eines gemeinsamen Raumes, dessen Grenzen und Wände sich verändern und anpassen können und auf eine differenzierte Weise für Verbundenheit sorgen, die nicht Übereinstimmung bedeuten muss. Dieses Vorhaben bedeutet aber gerade nicht, jeden und jede in ihre eigene Vorstellung individueller Freiheiten zu entlassen, sondern es bedarf eines Referenzrahmens und damit eines Regelwerks. Für ein solches Regelwerk können wir uns auch dann entscheiden, wenn uns das oder der Andere unverständlich bleibt. Es geht nicht darum, diesen Rahmen als sinnstiftende Entsprechung des Eigenen zu "entdecken". Es gilt vielmehr, gemeinsame Regeln festzulegen, die diesen Raum immer wieder neu entstehen lassen. Ähnlich einem sehr ernst gemeinten Spiel, das sich nur durch die ihm zugrunde liegenden Regeln konstituiert und nur dann als Spiel erkennbar wird, wenn es nach den eigenen Regeln gespielt wird, an die sich alle Beteiligten halten wollen. Das beinhaltet Veränderbarkeit und Wandel, ermöglicht individuelle Ausdrucksformen und schafft zugleich eine strukturelle Strenge und Ernsthaftigkeit, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. 

Das klingt nach einer eigenen Form der Machbarkeit, gleichzeitig aber folgt der berechtigte Einwand auf dem Fuße: Die Bereitschaft, sich an allgemeingültige Regeln halten zu wollen, selbst wenn dadurch inhaltliche Vielfalt erst tragfähig wird, ist keineswegs eine selbstverständliche Voraussetzung. Mehr noch, sie ist als normative Haltung selbst gesellschaftlich fragwürdig geworden, ist erschüttert, wenn nicht zerstört. Aber eben darin liegt gleichzeitig die Herausforderung: diesen Mangel an Voraussetzungen für ein pluralistisches Miteinander nicht bloß zu beklagen, sondern neue Bezugspunkte zu finden, andere Verbindungen zu ziehen und Differenzen in den Blick zu nehmen, die wir nicht erwartet hatten oder zu akzeptieren bereit waren. Auch daraus kann ein Referenzrahmen entstehen, der kein stabiles Fundament sein will, und dennoch Halt und Geländer sein kann, um Wandel zu gestalten. 

Um dieser Erschütterung zu begegnen, kehren wir erneut zu Hartmut Rosa zurück. Denn was wir dafür mitbringen müssen - jeder Einzelne, aber auch wir als Gemeinschaft -, ist das, was Rosa in seinem jüngsten Buch zur Verbindung von Demokratie und Religion ein "hörendes Herz" nennt: die Fähigkeit, sich von Herzen für das zu öffnen, was uns begegnet, sich Zeit zu nehmen und auch auf den Prüfstand zu stellen, was als das vermeintlich Richtige gilt. Darin liegt die einzige Möglichkeit, nicht in den eigenen Denkräumen zu verharren, sondern in sich auftuenden Differenzräumen auf etwas zu stoßen, das uns mit einem Moment der Übereinstimmung belohnen kann. Das zeigt, welche Qualitäten nicht nur denkbar, sondern auch spürbar sein können, wenn wir in den "Übungen im Fremdsein" besser und besser werden. 

Viele aber gehen genau dieses Wagnis nicht mehr ein, so Rosa. Ihre Ohren und Herzen scheinen verschlossen. Sie sind mit sich selbst beschäftigt und aus gutem Grund nicht mehr in der Lage, einer anderen Perspektive zu folgen, anstehende Veränderungen wahrzunehmen oder neuen Informationen zuzuhören. Aber um Veränderung möglich zu machen und neue Wege denken oder gehen zu lernen, braucht es ein Außen - ein Du, einen Anderen: ein Gegenüber, das sich nicht immer durch Verständlichkeit auszeichnen und in dieser Nichtübereinstimmung dennoch keinen Konflikt heraufbeschwören muss. Dieses Andere kann in der Musik liegen, in einem Gedanken verborgen sein, durch das Lächeln eines anderen Menschen oder die Schönheit der Natur hervorgerufen werden, aber es kann auch einfach aus dem Zusammenspiel scheinbarer Alltäglichkeiten hervorgehen, in denen sich eine Dissonanz an die andere zu reihen scheint.


Einverstandensein - wenn auch nur für einen Moment


Damit kommen wir am Ende noch einmal auf die beiden Begriffe des "Prüfens" und des "Gelingens" zurück, die sich in der menschlichen Praxis der Annäherung an das Fragwürdige mit einem "hörenden Herzen" verbinden müssen, um den Umgang mit Dissonanzen erträglich zu machen. Das erfordert eine Haltung, die im individuellen wie im kollektiven Handeln das Resonante mit dem Dissonanten zu verbinden imstande ist, um die Wesentlichkeit des Letzteren wissend, dennoch Ersteres anstrebend. 

Der prüfende Blick ist etwas, was jedem von uns möglich ist, das die "Exzentrik" des eigenen Denkens zur Gewohnheit werden lassen kann, auch wenn es mühsam ist. Das Gelingen ist etwas, was sich auch ohne unser Zutun ereignet, was uns durch ein "hörendes Herz" zugänglich, verständlich werden kann, ohne dass wir es erklären können. So entsteht ein mögliches Zusammenspiel aus Differenzen und Dissonanzen, aus Vielfalt und Einfalt, aus Ambivalenzen und Widersprüchen, zu denen wir uns ins Verhältnis setzen können, um dabei hin und wieder die besondere Erfahrung zu machen, dass ein "Einverstandensein" möglich wird. Ein flüchtiger Moment, der einen neuen Blick auf die Welt ermöglicht und, ohne es explizit zu wollen, all das verändern kann, was daraus folgt. So wie der Blick aus dem Fenster, den der Dichter Hermann Hesse als einen Moment des Glücks beschreibt, der ihn sein Leben lang begleitet hat und durch seine besondere Qualität zuversichtlich stimmen konnte. Eine Qualität, die sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen sehr wohl als Resonanz beschreiben ließe: als Augenblick des Einverstandenseins, als stimmungsvoller Zusammenklang. 

"Es war Morgen, durchs hohe Fenster sah ich über dem langen Dachrücken des Nachbarhauses den Himmel heiter in reinem Hellblau stehen, auch er schien voll Glück, als habe er Besonderes vor und habe dazu sein hübschestes Kleid angezogen. Mehr war von meinem Bette aus von der Welt nicht zu sehen, nur eben dieser schöne Himmel und das lange Stück Dach vom Nachbarhause, aber auch dies langweilige und öde Dach aus dunkel rotbraunen Ziegeln schien zu lachen, es ging über seine steile schattige Schrägwand ein leises Spiel von Farben, und die einzelne bläuliche Glaspfanne zwischen den roten tönernen schien lebendig und schien freudig bemüht, etwas von diesem so leise und stetig strahlenden Frühhimmel zu spiegeln. Der Himmel, die etwas raue Kante des Dachrückens, das uniformierte Heer der braunen und das luftig dünne Blau des einzigen Glasziegels schienen auf eine schöne und erfreuliche Weise miteinander einverstanden, sie hatten sichtlich nichts anderes im Sinn, als in dieser besonderen Morgenstunde einander anzulachen und es gut miteinander zu meinen. Himmelblau, Ziegelbraun und Glasblau hatten einen Sinn, sie gehörten zusammen, sie spielten miteinander, es war ihnen wohl, und es war gut und tat wohl, sie zu sehen, ihrem Spiel beizuwohnen, sich vom selben Morgenglanz und Wohlgefühl durchflossen zu fühlen wie sie. 

So lag ich, den beginnenden Morgen samt dem ruhigen Nachgefühl des Schlafes genießend, eine schöne Ewigkeit in meinem Bett, und ob ich ein gleiches oder ähnliches Glück noch andere Male in meinem Leben gekostet habe, tiefer und wirklicher konnte keines sein: die Welt war in Ordnung. (…) Es bestand aus nichts, dieses Glück, als aus dem Zusammenklang der paar Dinge um mich her mit meinem eigenen Sein, aus einem wunschlosen Wohlsein, das nach keiner Änderung, keiner Steigerung verlangte." Hermann Hesse: "Glück"

Literaturhinweise 

Sigmund Freud: "Das Unbehagen in der Kultur", in ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994 

Byung-Chul Han: Die Palliativgesellschaft, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020 

Hermann Hesse: Über das Glück. Betrachtungen und Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2013 

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016 

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2018 

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion, Kösel Verlag, München 2022 

Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein. Essays und Reden, Kampa Verlag, Zürich 2021 

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Zitate


"Was gelingt vielleicht gerade deswegen, weil wir lernen, das Tun zu lassen?" Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

"Es ist nicht leicht zu erkennen, was richtig ist, und oft scheint das Gegenteil nicht weniger zweifelhaft." Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

"Wir wissen schlicht nicht mehr so genau, welches Wissen, welche Überzeugung, welche Prognose für uns als Leitlinie taugen kann." Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

"Resonanzerfahrungen bleiben unverfügbar. Sie entziehen sich unseren Kriterien von Mach- und Herstellbarkeit." Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

"Manche Denkweisen funktionieren nicht mehr, aber darin liegt auch ein Potenzial." Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

"In der Differenz kann eine Verbindung liegen, kann ein Verhältnis entstehen, das den Anderen oder das Andere zwar als unverständlich verurteilt oder gar ablehnt, es aber dennoch als Teil einer zu akzeptierenden Wirklichkeit annimmt." Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

"Um Veränderung möglich zu machen und neue Wege denken oder gehen zu lernen, braucht es ein Außen - ein Du, einen Anderen: ein Gegenüber, das sich nicht immer durch Verständlichkeit auszeichnen und in dieser Nichtübereinstimmung dennoch keinen Konflikt heraufbeschwören muss." Ina Schmidt: Raum für Dissonanz

 

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Quellenangaben

Autorin

Ina Schmidt
Schmidt

Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg bis 1998 promovierte sie dort 2004 über den Einfluss der Lebensphilosophie auf das frühe Denken Martin Heideggers. 2005 gründete sie "denkraeume" und bietet seither Seminare und Vorträge zur Philosophie als Lebenspraxis und Kulturtechnik an. Außerdem engagiert sie sich im Bereich der politischen Bildung. Ina Schmidt veröffentlichte zahlreiche philosophische Sachbücher, zuletzt Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds (2019) und Die Kraft der Verantwortung. Über eine Haltung mit Zukunft (2021), beide publiziert in der Edition Körber. Gerade erschienen ist ihr Jugendbuch Wo bitte geht's zum guten Leben?, Carlsen Verlag (2022).

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