Arbeit sinnvoll organisieren

Modelle und Praktiken von Selbstorganisation - ein Überblick
Von Georg Zepke und Thomas Schweinschwaller

Die Sehnsucht nach anderen, mehr sinnerfüllenden Kooperationsformen und freieren, lustvolleren Beteiligungsmöglichkeiten wächst. So haben in den letzten Jahren Ansätze, Konzepte und Praktiken zur Selbstorganisation eine große Anziehungskraft entwickelt. Entstanden sind neue Kooperationspraktiken, die inspirierende Beispiele für eine andere Organisation von Arbeit und Zusammenarbeit bieten - von soziokratischen Ansätzen über New Work und Agilität bis hin zur integralen evolutionären Organisation.

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In der Organisationsberatung, im Coaching, in Studien und Umfragen, aber auch in Alltagsgesprächen wird immer wieder deutlich, wie häufig Menschen unglücklich bei ihrer Arbeit und in den Organisationen sind, in denen sie diese verrichten. Quer durch die Branchen und Hierarchieebenen erleben sich viele Menschen trotz hohem Einsatz als unzulänglich und fühlen sich in einer eigenartigen Kombination zugleich über- und unterfordert. In aller Regel ist diese Unzufriedenheit nicht in den Arbeitsinhalten selbst begründet: Die meisten Menschen mögen ihre Arbeit und haben Interesse an ihrer Tätigkeit. Die Hauptursache arbeitsbezogener Unzufriedenheit vieler Menschen - egal ob Mitarbeitende oder Führungskräfte in den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen - liegt in den organisationalen Rahmenbedingungen. Organisationen werden als kühle Orte der Fremdbestimmtheit, der bürokratischen, lebensfernen und überreglementierten Logik, der Undurchschaubarkeit und Abstraktheit und einer am Individuum desinteressierten Funktionalität und Entfremdung erlebt. 

Mit dem wachsenden Druck sowohl auf Organisationen als auch auf Individuen und der damit verbundenen Verunsicherung wächst zugleich die Sehnsucht nach anderen, mehr sinnerfüllenden Kooperationsformen und anderen, freieren, lustvolleren Beteiligungsmöglichkeiten. Dementsprechend haben in den letzten Jahren Ansätze, Konzepte und Praktiken zur Selbstorganisation, wie New Work und Agilität, eine große Anziehungskraft bekommen. Die entstandenen pionierhaften Organisationen, die neue Kooperationspraktiken umsetzen, bieten inspirierende Beispiele für eine andere Organisation von Arbeit und Zusammenarbeit. Was ist nun unter Selbstorganisation überhaupt zu verstehen?


1 Versuch einer begrifflichen Eingrenzung


Selbstorganisation ist überwiegend ein positiv besetzter Begriff, der meist normativ - im Sinne eines erstrebenswerteren Zustands von "mehr Selbstorganisation" - verwendet wird. Das "Selbst" im Begriff der Selbstorganisation impliziert eine stärkere Eigenaktivität im Unterschied zu fremdbestimmten Vorgaben. Zusätzlich hat Selbstorganisation den Begriff "Organisation" semantisch zentral platziert. Das verdeutlicht, dass die Gesamtorganisation als soziales System angesprochen ist und nicht Teams oder Individuen. 

Dennoch wirft der Begriff zahlreiche Fragen auf: So ist in einem systemtheoretischen Verständnis jegliche Organisation per se dadurch charakterisiert, dass sie sich laufend reproduziert, also selbstorganisiert ist. Organisationen sind in diesem Verständnis operativ geschlossen und reproduzieren sich laufend autopoietisch. Sie entstehen damit tagtäglich aufs Neue durch die Aneinanderreihung von Handlungen beziehungsweise Kommunikationen der Organisationsmitglieder. Diese sich selbst reproduzierende, laufende Selbstorganisation beschränkt sich natürlich nicht auf die formell geregelte und zweckrationale Interaktion, sondern hat immer auch eine informelle, selbstgesteuerte Dimension, indem zum Beispiel strukturelle Mängel kompensiert, formelle Regelungen ergänzt oder auch unterlaufen werden. 

Michaela Moser erinnert deshalb an eine Unterscheidung, die die Organisationsforscherin Elisabeth Göbel, Professorin an der Universität Trier, in ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1998 getroffen hat, die aber gerade im systemtheoretischen Umfeld wenig wahrgenommen worden ist. Göbel unterscheidet zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation: "Autogene Selbstorganisation" meint die von alleine, unvermeidlich in jeder Organisation stattfindende Selbstorganisation im Sinne der Autopoiesis Niklas Luhmanns. "Autonome Selbstorganisation" hingegen meint eine bewusst intendierte Verlagerung der Entscheidungsbefugnis nach "unten" zu den Mitarbeitenden - also im Grunde genau das, was im Kontext organisationalen Wandels unter dem Begriff Selbstorganisation verstanden wird. 

Um so unterschiedliche Ansätze und Praktiken wie agile Konzepte (Scrum, Kanban …), New Work, "integrale evolutionäre Organisationen", Soziokratie und Holakratie unter einem gemeinsamen Sammelbegriff diskutieren zu können, möchten wir eine bewusst nicht ganz scharfe, pragmatische Definition von Selbstorganisation vorschlagen. Sie ist zudem nicht normativ angelegt und begreift Selbstorganisation als eine von mehreren möglichen, aber nicht als die in jeder Situation beste oder gar "evolutionär höherwertige" Organisationsform: 

Unter Selbstorganisation werden alle Ansätze und Praktiken verstanden, die bewusst mit Organisationsmodellen arbeiten oder experimentieren, die eine Verlagerung traditioneller hierarchischer Entscheidungsverantwortung an die Basis im Zentrum haben und dabei versuchen, die besondere Herausforderung von Organisation als spezifisches soziales System mit zu berücksichtigen. 

Damit lassen sich sehr unterschiedliche Ansätze und Praktiken betrachten: ein Team, das mit Scrum arbeitet; ein mittelständisches Unternehmen, das Entscheidungskompetenzen an seine Mitarbeitenden delegiert, um die mittlere Führungsebene zu entlasten (eventuell auch zu entlassen); eine Genossenschaft, die nachhaltige Entwicklungsprojekte betreibt und dabei kollektive soziokratische Entscheidungsverfahren anwendet; eine Sozialorganisation, deren autonom agierende Organisationseinheiten sich über selbst gewählte Delegierte kreisförmig koordinieren, oder auch Unternehmen, die ohne bewussten Bezug zu einer der aktuell gängigen Methoden Formen entwickeln, um mehr Freiheitsgrade in der Abstimmung zwischen operativ tätigen Mitarbeitenden sowie Kundinnen und Kunden zu schaffen. 

Diese breite Definition fokussiert die Aufmerksamkeit zudem nicht vor allem auf bekannte "Vorzeigeorganisationen" in Sachen Selbstorganisation. Vielmehr wollen wir das Interesse auf die Vielzahl an Organisationen mit ihren zahlreichen kleineren und größeren Experimenten, Ansätzen und Praktiken, die von deren Mitgliedern tagtäglich umgesetzt werden, richten.


2 Ansätze der Selbstorganisation


Der Wunsch, Organisationen menschenfreundlicher und partizipativer zu gestalten, der Sinnentfaltung mehr Raum zu geben sowie Alternativen zur Hierarchie und zu autoritären Führungskonzepten zu entwickeln, ist freilich nicht neu, und manches als radikal neu präsentierte Konzept hat trotz zeitgemäßer Begrifflichkeit gleichwohl im Kern verblüffende Ähnlichkeit mit klassischen Ansätzen aus der Bewegung zur Humanisierung der Arbeitswelt. 

So trat bereits in den späten Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Hawthorne-Studie als Gegenentwurf zu einer reduktionistisch, auf Funktionalität und Effizienz orientierten, rein technischen und ingenieurwissenschaftlichen Arbeitsgestaltung am Fließband (Taylorismus) an. Die daraus entstandene Human-Relations-Bewegung der Dreißigerjahre betont ebenfalls Werte wie Selbstverwirklichung, Sinnerfüllung in der Arbeit und Eigenverantwortlichkeit und entwickelt konzeptionelle und praktische Ansätze zur verstärkten Teamautonomie. Und spätestens in den Siebzigerjahren entstanden Modelle zur organisationsweiten Verknüpfung von Teams wie Likerts Modell der lateralen Vernetzung, in dem die Teamleitung auch als Bindeglied ("Linking Pin") zwischen überlappenden Organisationseinheiten fungiert. 

Basierend auf dem soziotechnischen Systemansatz des Tavistock Institute (England) wurden bereits in den 1960er-Jahren teilautonome Arbeitsgruppen mit zuweilen äußerst weitreichender Selbststeuerungskompetenz für die Teams in der schwedischen Automobilindustrie eingeführt. Aber auch die schlanken Organisationsprinzipien der japanischen Automobilindustrie beeinflussten - nicht zuletzt ihrer verblüffenden wirtschaftlichen Erfolge wegen - Praktiken und Konzepte, die unter dem Schlagwort "Lean" den Agilitätsdiskurs maßgeblich beeinflusst haben. 

Ein wesentlicher Impuls kam nicht zuletzt aus der von Kurt Lewins Gruppendynamik beeinflussten, auf Partizipation, Hierarchieabbau und verstärkte Teamarbeit ausgelegten klassischen Organisationsentwicklung. In diesem Umfeld entwickelten sich auch Konzepte, die etwa Projektorganisation als "Antwort auf die Hierarchiekrise" beschrieben, so Peter Heintel und Ewald E. Krainz in ihrem Standardwerk über Projektmanagement aus dem Jahr 2000. Auch in den aktuell diskutierten Ansätzen sind Gruppen, selbstgesteuerte Teams und soziokratische "Kreise" zentrale Elemente und machen intensive gruppendynamische Selbsterfahrung, etwa im Rahmen sogenannter Trainingsgruppen (T-Gruppen), zur wesentlichen Qualifizierungsgrundlage für den Umgang mit selbstgesteuerten sozialen Prozessen. 

Nicht unterschätzt werden sollten auch die Erfahrungen mit Basisdemokratie, die bereits seit den Sechzigerjahren in den "Graswurzelbewegungen", bei zivilgesellschaftlichen Friedens- und Umweltinitiativen, in autonomen Kultureinrichtungen und Kollektiven, in alternativen Wohnprojekten, feministischen Vereinen und in politischen Beteiligungsprozessen gemacht wurden. Auch wenn dies nicht in einer breitenwirksamen Referenzpublikation seinen Niederschlag gefunden hat, ist dadurch ein wichtiger selbstorganisierter Erfahrungs- und Sozialisierungsbackground von - oftmals akademisch hoch qualifizierten - Expertinnen und Experten entstanden, etwa im Sozialbereich oder in Wissens- und Bildungsorganisationen mit sozial- oder geisteswissenschaftlichem Hintergrund. 

Letztlich lässt sich die Geschichte der Organisationswissenschaften und Managementkonzepte als dialektische Wechselbewegung zwischen zwei Polen beschreiben: dem Streben nach betriebswirtschaftlicher Optimierung, nach Effizienz und Effektivität von Abläufen, der Suche nach Rationalisierungspotenzial zur Steigerung des Shareholder-Values einerseits und andererseits den gegenläufigen Bestrebungen, diese instrumentelle Engführung von Organisationen durch Humanisierung der Arbeitswelt, Partizipation, individuelle Motivierung und Entfaltungsversprechen sowie durch verstärkte Teamarbeit aufzuheben oder zumindest abzufedern - vielleicht zuweilen auch zu verschleiern. 

Organisationskonzepte sind damit immer in ihrem Wechselspiel aus gesellschaftlichen Entwicklungslinien und den organisationalen Reaktionen darauf zu verstehen. Dementsprechend sind auch die im Folgenden dargestellten Ansätze Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wie etwa die Digitalisierung, haben zugleich aber ihren Ursprung - oft ohne sich dessen bewusst zu sein - in älteren Ansätzen. Bemerkenswert ist dabei auch, dass viele dieser Ansätze europäische Wurzeln haben. Sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht in Begrifflichkeit und Akzentsetzung. Während bei einigen eine partizipative, soziale, teils auch gesellschaftskritische Dimension im Vordergrund steht, bildet bei anderen die Flexibilisierung als Beitrag zur Maximierung des Unternehmensprofits das zentrale Motiv. 

Die Darstellung der Konzepte und Ansätze in den nachfolgenden Abschnitten orientiert sich dabei an einer historischen Logik: 

(1) Soziokratie ist das historisch älteste Modell. Entwickelt wurde es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dem niederländischen Quäker Kees Boeke für die von ihm geleitete reformpädagogische Schule. Ein ehemaliger Schüler, Gerard Endenburg, hat es dann 1970 in den Unternehmenskontext transferiert. Weitergeführt und adaptiert wurde Soziokratie etwa durch Holakratie und Modelle kollegialer Betriebsführung. 

(2) Mit New Work entstand im Zuge der verstärkten Automatisierung in der Automobilindustrie in den Siebzigerjahren ein Konzept, auf das heute verstärkt Bezug genommen wird. Konkreten Ausdruck findet es in Coworking Spaces von Selbständigen und kleinen Firmen, aber auch in neuen Arbeitszeitmodellen und Großraumbürolösungen internationaler Unternehmen. 

(3) Agile Ansätze wie Scrum und Kanban hingegen haben ihren Ursprung in einer Krise der traditionellen Planungslogik in der Softwareindustrie, wo eine wachsende Dynamisierung zu einer Herausforderung für das klassische rigide Projektmanagement wurde. Agile Praktiken setzten dann auch Impulse in anderen Organisationstypen, die ebenfalls in sich immer rasanter verändernden Umwelten agieren. 

(4) Integrale evolutionäre Organisation: Der historisch bislang letzte, aber das aktuelle Interesse an Selbstorganisation befeuernde Ansatz geht auf das weltweit erfolgreiche, 2015 erschienene Buch Reinventing Organizations von Frederic Laloux zurück. Der Impuls für das Buch entstand bei dem belgischen ehemaligen McKinsey-Berater Laloux bezeichnenderweise in einer individuellen Sinnkrise, die ihn motivierte, nach gelungenen alternativen Organisationsmodellen Ausschau zu halten. Dabei suchte er weniger in Konzepten als in den konkreten Praktiken von mehreren, weitgehend selbstorganisierten Unternehmen. 

Im Folgenden werden diese vier Ansätze skizziert: Nach einer kurzen Darstellung des Entstehungszusammenhangs (Worauf versucht das Konzept eine Antwort zu geben?) werden die wesentlichen Grundgedanken und Begrifflichkeiten knapp dargestellt (Welche Antwort gibt das Konzept?), gefolgt von einem kurzen Blick auf die Kontexte, in denen die Konzepte angewendet und diskutiert werden (Wo und wie wird das Konzept aufgegriffen?) sowie einer bilanzierenden Einschätzung.


2.1 Soziokratische Ansätze


Worauf versucht das Konzept eine Antwort zu geben? Die Wurzeln der Soziokratie reichen besonders weit zurück, ihre Prinzipien und Praktiken haben aber heute, unter anderem aufgrund des viel diskutierten soziokratisch orientierten Modells der Holakratie (engl. holacracy), großen Einfluss. 

Der Begriff Soziokratie geht bereits auf Überlegungen des französischen Philosophen Auguste Comte Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Comte prägte erstmalig den Begriff Soziologie für die Gesellschaftswissenschaften und gilt als Begründer des Positivismus, der ausschließlich empirisch überprüfbare Fakten als wissenschaftlich relevant gelten lässt. Soziologie wird dementsprechend als eine Art "sozialer Physik" verstanden - also als eine nach sozialen "Naturgesetzen" suchende Befassung mit gesellschaftlichen Fragen. Das Interesse an sozialen Fragen ist eine Reaktion auf die politischen Umbrüche zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie auf den Zerfall traditioneller Bindungen und die wachsende Individualisierung im Zuge der industriellen Revolution. Dem setzt Comte den Begriff Soziokratie entgegen - als gemeinschaftlich getragenes Regierungssystem, das ein vernünftiges Zusammenleben ermöglichen soll. Anfang des 20. Jahrhunderts greift dann der US-amerikanische Soziologe Lester Frank Ward den Begriff Soziokratie auf und betont dabei die gemeinsame Abstimmung, Entscheidungsfindung und Begegnung von autonomen, gleichberechtigten Individuen. 

Der niederländische Reformpädagoge und Quäker Kees Boeke konzipiert Soziokratie als konkrete Methode in der von ihm geleiteten reformpädagogischen Schule. Dabei ist er geprägt durch seine Erfahrungen mit konsensorientierten Entscheidungsverfahren bei Quäkerversammlungen sowie durch das augenfällige Versagen formaldemokratischer Mehrheitsentscheidungen, das Aufkommen des Nationalsozialismus zu verhindern. Er entwickelt Soziokratie als alternative Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, die sicherstellen soll, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden und gleichzeitig alle bereit sind, diese konsensuell abgesicherten Entscheidungen auch umzusetzen. Sein von der Kybernetik inspirierter Schüler, der Ingenieur und Unternehmer Gerard Endenburg, setzt das Konzept dann 1970 für die Anwendung in einem betrieblichen Kontext um und konkretisiert und verfeinert dabei die auf einfachen Grundregeln basierenden Methoden. 

Deutlich später, im Jahr 2015, übernimmt der US-Amerikaner Brian J. Robertson viele Prinzipien der Soziokratie und übersetzt sie unter dem Markennamen Holacracy in eine moderne unternehmerische Sprache. Neben dem (unausgewiesenen) soziokratischen Einfluss wurde Robertson auch von agilen Praktiken in der Softwareentwicklung angeregt. Die Grundphilosophie des oft etwas technisch anmutenden Zugangs ist hingegen vom erfolgreichen Sachbuchautor Ken Wilber beeinflusst, der in seiner "integralen Theorie" versucht, Wissenschaft mit Religion und Spiritualität zu verknüpfen. 

Welche Antwort gibt das Konzept? Als zentrale Säulen der Soziokratie gelten die von Endenburg formulierten vier Prinzipien. 

(1) Alle Grundsatzentscheidungen werden im Konsent getroffen. Endenburg ersetzt in seiner Weiterentwicklung des Modells den oft langwierigen Konsens durch den weitaus pragmatischeren Konsent. Das Konsentprinzip besagt, dass ein Vorschlag dann angenommen ist, wenn es keinen erheblichen Einwand gibt. Im Gegensatz zum Konsens ist das Ziel also nicht die Lösung mit möglichst durchgehender Übereinstimmung, sondern diejenige mit den geringsten Einsprüchen. Das verringert den Einigungsdruck und beschleunigt die Entscheidungsfindung, ohne berechtigte Einwände zu übergehen. 

(2) Die Organisation wird in Kreisen aufgebaut. Zentrales Gestaltungselement der Organisation bilden Kreise als wesentliche soziale Einheit. Zwar verfügen diese über übergeordnete Stellen, sind aber möglichst autonom in ihren Entscheidungen und "dynamisch selbstgesteuert". Ihnen liegt das Subsidiaritätsprinzip zugrunde, nach dem Entscheidungen so weit unten in der Organisation wie möglich getroffen und Aufgaben von der möglichst kleinsten Einheit übernommen werden sollen. Die nächsthöhere Ebene soll nur dann regulierend eingreifen, wenn sich dies nicht vermeiden lässt. 

(3) Die Kreise sind doppelt miteinander verknüpft. Basierend auf der Idee von Rensis Likert, Leitung als Bindeglied ("Linking Pin") zwischen überlappenden Organisationseinheiten zu verstehen, sind die Kreise doppelt miteinander verknüpft. In jedem Kreis ist eine Führungskraft vertreten, die vom nächsthöheren Kreis bestimmt wird - durchaus wie in traditionellen hierarchischen Organisationen. Zusätzlich ist aber auch der untere Kreis im nächsthöheren Kreis vertreten. Somit befinden sich immer jeweils zwei Personen - eine von oben, eine von unten delegiert - gemeinsam in zwei Kreisen und sorgen so dafür, dass der Informationsfluss in beide Richtungen erfolgt. 

Diese doppelte Verknüpfung zeigt die strukturelle Besonderheit der soziokratischen Organisation, die sie von der traditionellen hierarchischen Organisation unterscheidet. Eine häufige soziokratische Struktur ist ein "allgemeiner Kreis", der die Gesamtsteuerung im Sinne einer Geschäftsführung wahrnimmt, sowie ein darüberliegender "Top-Kreis", der in etwa die Funktion des Aufsichtsrats erfüllt. Unter diesem "allgemeinen Kreis" platziert sind die unmittelbar wertschöpfenden Bereichskreise und gegebenenfalls weitere Kreisebenen. 

(4) Die Aufgaben und Rollen werden nach offener Wahl im Konsent festgelegt. Wie alle anderen Entscheidungen wird auch die Übernahme von Funktionen und Aufgaben durch Personen im Konsent festgelegt. Die Wahl erfolgt dabei transparent und offen, um Argumente und Einwände diskutieren zu können und Verantwortung für die eigene Entscheidung zu übernehmen. 

Eine wesentliche Stärke der Soziokratie besteht darin, stark auf Entscheidungen als Schlüsselelement von Organisationen zu fokussieren und auch entsprechende Werkzeuge und Verfahren zur Verfügung zu stellen. Gleichwohl werden strukturelle Widersprüche und Dilemmata ebenso wie informelle Einflussunterschiede und verfestigte dysfunktionale Kulturausprägungen und Kooperationsbarrieren in der Organisation durch die Einführung soziokratischer Verfahren nicht automatisch zum Verschwinden gebracht.


Variante: Holakratie


Holakratie, die "Herrschaft von Teilen eines Ganzen", so deren "Erfinder" Brian J. Robertson, übernimmt viele Prinzipien der Soziokratie, setzt aber auch neue Akzente: Robertson möchte ein System etablieren, das weitgehend selbstgesteuert auftretende Spannungen (Tensions) - verstanden als Differenz zwischen dem Ist-Stand und den nicht aktualisierten Möglichkeiten - aufgreift und für die Entwicklung der Organisation nutzt. 

Eben weil die hierarchischen Führungsstrukturen der Organisation durch Selbstorganisation ersetzt werden sollen, bedarf es eines gemeinsam getragenen und internalisierten Regelwerks. Dies wird als umfassendes Betriebssystem - als "Verfassung" - detailliert definiert. 

Die wesentlichen Verfassungsinhalte sind in fünf Artikeln festgesetzt: 

(1) Rollen und Funktionen: An die Stelle von Stellenbeschreibungen und Positionen tritt eine Vielzahl von flexibilisierten, personenunabhängigen Rollen. Diese werden durch deren Zweck (Purpose), den Aufgabenbereich (Domain) und Verantwortungsbereich (Accountabilities) sehr genau beschrieben. 

(2) Kreisstruktur: Ähnlich wie in der Soziokratie ist die Organisation in weitgehend selbstbestimmten Kreisen aufgebaut, die wiederum mit über- und untergeordneten Kreisen verknüpft sind. Zusätzlich zur vertikalen Verknüpfung in der Soziokratie sind dabei die Kreise derselben Ebene auch horizontal verknüpft. 

(3) Governance-Prozess: Der grundlegende Governance-Prozess regelt im Zuge regelmäßiger Meetings die gesamte Steuerungsstruktur. Diese Meetings haben grundsätzlichen Charakter, reflektieren und adaptieren die Ziele der Kreise sowie die einzelnen Rollen und entwickeln diese weiter. 

(4) Operativer Prozess: Im operativen Prozess erfolgen im Rahmen von "Tactical Meetings" zügige, rein inhaltliche Abstimmungen der operativen Arbeit. 

(5) Installation: Die Installation definiert die Einführung und das Inkrafttreten der Verfassung. 

Abgesehen von begrifflichen Veränderungen liegen weitere Unterschiede zur Soziokratie in konzeptionellen Adaptionen wie der "Validitätsprüfung" (mit der die sachliche Berechtigung eines Einwandes etwa bei der Konsentfindung oder Wahl für die Besetzung von Rollen hinterfragt wird) oder anderen Modalitäten für die Besetzung von Rollen. 

Neben der nicht ausgewiesenen Übernahme von Grundüberlegungen der Soziokratie und dem sehr auf den Vertrieb der Marke Holakratie ausgerichteten Geschäftsmodell ist das oft sehr komplexe und detaillierte regulierende Regelwerk ein zentraler Kritikpunkt am holakratischen Modell. Die angestrebte Vitalität im Organisationsprozess kann damit konterkariert werden. Weiterhin besteht die Gefahr einer unverhältnismäßigen Zunahme an Meetings, während gleichzeitig stabilisierende soziale und informelle Interaktionsräume ausgedünnt werden können. 

Wo und wie wird das Konzept aufgegriffen? Die Herkunft der Soziokratie und ihr demokratiepolitisch engagierter Zugang machen sie besonders gut anschlussfähig an wertebasierte Organisationen, an Non-Profit-Einrichtungen sowie an gemeinwohlorientierte Organisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen. Weiterhin prädestiniert die reformpädagogische Wurzel zu einer Anwendung im Schulsystem. Soziokratische Methoden und Denkmodelle lassen sich gut mit gewaltfreier Kommunikation, Open Space, lösungsorientierten Ansätzen, systemischen Prinzipien und innovativen Moderationsmethoden verknüpfen. 

Obwohl die Entwicklung des soziokratischen Konzepts in Endenburgs Elektrounternehmen das Vorgehen auch für Wirtschaftsbetriebe anschlussfähig macht, hat sich speziell in den modernen, hochgradig digitalisierten internationalen Unternehmen Holakratie erfolgreicher als moderner Selbstorganisationsansatz platzieren können. Die Aufbereitung von Holakratie ist gegenüber der diskursiver gehaltenen Soziokratie weitaus markanter und sprachlich moderner. Holakratie hat aber auch, wohl nicht zuletzt aufgrund der Darstellung von Robertsons Firma HolacracyOne, als eine der zwölf Pioniermodelle in Laloux’ Bestseller Reinventing Organizations und wegen des generell gelungenen Konzeptmarketings ("Holakratie" und "Holacracy" sind geschützte Wortmarken und klare Geschäftsmodelle mit Ausbildung und Akkreditierung) rasch internationale Bekanntheit erlangt und konnte namhafte Referenzbetriebe wie etwa den Internetschuhversand Zappos vorweisen. 

Abgesehen von der Holakratie wird Soziokratie aber auch in anderen Ansätzen weiterentwickelt, etwa mit dem Konzept des soziokratisch inspirierten "kollegial geführten Unternehmens" von Bernd Oestereich und Claudia Schröder, bei dem die konsequente Kollektivierung der Führungsarbeit und ein schrittweise experimentierendes, pragmatisches und sehr organisationspezifisches Vorgehen im Zentrum steht, oder in Form der "Soziokratie 3.0", die etwa Erfahrungen mit agilen Methoden explizit integriert. 

Bilanzierende Einschätzung. Soziokratische beziehungsweise soziokratisch inspirierte Modelle setzen mit dem Modell der doppelten Verlinkungen, mit einer neuen konsentorientierten Entscheidungskultur und mit entsprechenden Methoden zentrale Impulse, die implizit oder explizit viele andere Selbstorganisationspraktiken beeinflussen. Die Ansätze verstehen sich nicht direkt als antihierarchisch: Die Kreisstrukturen sind durchaus nach einem Oben-unten-Prinzip angelegt. Gleichwohl werden traditionelle hierarchische Strukturen durch einen gleichrangigen Austausch zwischen oben und unten verflüssigt. Ansätze in der Tradition der Soziokratie wollen nicht nur Arbeit effizienter organisieren, sondern haben den Anspruch, das soziale Zusammenleben generell zu verbessern und Erfahrungen mit neuen Praktiken und Möglichkeiten organisierter Kooperation zu sammeln. Gleichzeitig besteht das Risiko eines Übermaßes an Abstimmungsschritten, an zu koordinierenden Rollen und Kreisen mit der Folge einer Strukturhypertrophie.


2.2 New Work


Worauf versucht das Konzept eine Antwort zu geben? New Work ist ein gesellschaftspolitisch und sozialphilosophisch orientiertes Konzept, das auf den österreichisch-US-amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann zurückgeht. Es wurde bereits in den Siebzigerjahren im Zuge der mit der Automatisierung der Automobilindustrie verbundenen Umbrüche und der dadurch ausgelösten Freisetzung von Arbeitskräften entwickelt. In den letzten Jahrzehnten wurde das Konzept aufgrund der mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt wieder verstärkt aufgegriffen. 

New Work problematisiert die klassische Lohnarbeit und sucht nach Alternativen und "Umkehrungen" (so Bergmann) zur Instrumentalisierung und Reduktion des Menschen als reine Humanressource. Durch die Veränderungen der Arbeitswelt fallen zudem immer mehr Individuen aus traditionellen identitätsstiftenden Organisationszusammenhängen heraus und müssen zu Entrepreneuren ihres Lebens werden, um ihren Lebensunterhalt - oft unter prekären Bedingungen freiberuflich oder als Einpersonenunternehmen - zu erwirtschaften. New Work greift die Vereinzelung, die mit wachsender Flexibilisierungszumutung einhergeht, und die Selbstoptimierungstendenzen im Neoliberalismus kritisch auf und setzt dem als Gegenentwurf weitgehende Wahl- und Handlungsfreiheit bei der Arbeit, individuelle Entfaltung, aber auch gesellschaftliche Verantwortung entgegen. New Work betont einen positiven Begriff von Arbeit: "Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden", so Frithjof Bergmann. 

Welche Antwort gibt das Konzept? Trotz des gesellschaftstheoretischen Hintergrunds steht im Zentrum von New Work ein individueller Suchprozess jeder und jedes Einzelnen nach einer Antwort auf die nur auf den ersten Blick einfach erscheinende Frage, womit wir die Zeit, die wir haben, verbringen wollen. Frithjof Bergmann verwendet hier die für ihn charakteristische Formulierung: "Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen." 

Im Rahmen von New Work wird die zu leistende Gesamtarbeit in drei Teile differenziert: Ein Drittel der Arbeit widmet sich dem, was man "wirklich, wirklich" will, ein weiteres Drittel der Tätigkeit dient der Selbstversorgung, und nur ein Drittel ist für die klassische Erwerbsarbeit reserviert. Das Konzept von New Work ist ein transformatives Konzept und möchte gezielt das neoliberale System unterwandern. 

Dabei wird Erwerbsarbeit auf drei Achsen, in ein vom Arbeitsort, der Zeit und der Struktur flexibles Umfeld eingebettet. Leitend ist dabei die Vision "Arbeite, wann, wo und mit wem du willst". 

(1) Auf der Achse der Flexibilisierung des Ortes hat das Auswirkungen auf Zusammenarbeit und Zugehörigkeit, etwa durch die Einrichtung von Coworking Spaces, durch Desk Sharing in Großraumbüros, durch Homeoffice und die Nutzung von arbeitsplatzfreien Arbeitsformen wie das Cloud Working oder virtuelle Teamarbeit. 

(2) Auf der Achse der Flexibilisierung von Zeit kommen bei New Work agile Methoden, Vertrauensarbeitszeit und bezahlte Zeitblöcke zur freien Verfügbarkeit verstärkt zum Einsatz. Ebenso ist eine Zunahme an freien Dienstverträgen und befristeten Arbeitsverhältnissen zu beobachten. 

(3) Auf der Achse der Struktur werden vor allem Routinen, Gewohnheiten, Abläufe und Selbstverständnisse hinterfragt; der Fokus liegt mehr auf (selbstgesteuerter) Zusammenarbeit, auf Freiräumen zum Lernen und dem Abbau von Hierarchieebenen. 

Digitalisierung und soziale Kommunikationsmedien werden dabei als Mittel der Erleichterung der Erwerbsarbeit und als Mittel der unkomplizierteren Verfügbarkeit von Supportleistungen eingesetzt; selbstgesteuerte Lernprozesse im Arbeitskontext gewinnen an Bedeutung. 

Wo und wie wird das Konzept aufgegriffen? Die New-Work-Szene ist geprägt von Wissensarbeiterïnnen, die als Einpersonenunternehmen, kleine GmbHs, Genossenschaften, Vereine oder Netzwerke organisiert sind. Auch urbane Coworking Spaces sowie flexibilisierte Arbeitsmodelle in großen Unternehmen sind von New Work beeinflusst. Ebenso sind individuelle Bemühungen, Erwerbsarbeit und persönliche Entfaltung sowie ausreichend Zeit für Familie und Freundschaft miteinander zu verknüpfen, beeinflusst vom New-Work-Diskurs. Aktuell wird New Work oft synonym für Flexibilität verwendet und sein transformativer Anspruch ausgeblendet. Im Zuge der COVID-19-Pandemie und der rapiden Verbreitung von Remote-Arbeit gewann dieses engere Verständnis von New Work als Import von Arbeitstechniken ohne Verbindung mit dem transformativen Konzept Bergmanns an Einfluss. 

Bilanzierende Einschätzung. New Work ist eingebettet in einen inspirierenden sozialphilosophischen Überbau und bringt Impulse, Begriffe und einen gesellschaftskritischen Blick sowie lebenspraktische Denkkonzepte in den Diskurs ein. Ein unmittelbar anwendbares Organisationskonzept oder soziale Techniken gingen indes aus dem Ansatz nicht hervor - allerdings verfolgt New Work auch nicht diesen Anspruch. In Zentrum stehen vielmehr Fragen nach dem Sinn, der Erhöhung der Selbstwirksamkeit und nach Autonomie. Optimistisch betrachtet unternimmt New Work einen weiteren Vorstoß der Humanisierung von Arbeitsbedingungen und -verhältnissen. Der ursprünglich transformative Anspruch verschwindet allerdings oftmals, wie gesagt, hinter einer Methoden- und Best-Practice-Orientierung. 


2.3 Agilität


Worauf versucht das Konzept eine Antwort zu geben? Während New Work als Antwort auf den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft entstanden ist, haben agile Konzepte ihre Wurzeln in Softwareentwicklungsprojekten und führten dabei zu einem deutlich neuen, flexibleren Verständnis von Produktentwicklung. Sie sind als Reaktion auf eine sich als viel zu schwerfällig erweisende Planungslogik im traditionellen - aus der Bau- und Fertigungsindustrie entstandenen - Projektmanagement zu sehen. Die sich immer stärker dynamisierende und schnelllebiger werdende Welt ist besonders unmittelbar in der Softwarebranche erlebbar. Angesichts rasanter technischer Innovationen und einer immer umfassenderen Digitalisierung, aber auch resultierend aus der Notwendigkeit einer laufenden Aktualisierung der zugrunde liegenden Betriebssysteme in einem Markt mit einer selbstbewussten und anspruchsvollen Kundschaft sehen sich innovative Softwareprogrammiererïnnen laufend vor neue Herausforderungen gestellt. Eine langwierige Projektplanung zum Projektstart und akribische Formulierungen eines Pflichtenheftes mit detaillierten Arbeitspaketspezifikationen, die dann nur "wasserfallartig" umgesetzt werden müssen, erweisen sich bei sich laufend und in kaum kalkulierbarer Weise ändernden Umweltansprüchen als zunehmend unzulänglich. Zudem sind gerade für die hoch qualifizierten, oft jungen Programmiererïnnen und technischen Expertïnnen in der Softwarebranche formalisierte Organisationsstrukturen, die individuelle Kreativität und selbstgesteuerte Abstimmungsprozesse erschweren, zunehmend unattraktiv. 

Als Reaktion darauf wurde von einer Gruppe von innovativen und renommierten Softwareentwicklerïnnen, darunter Jeff Sutherland und Ken Schwaber, die Mitbegründer von Scrum, das "Agile Manifest" mit zwölf Prinzipien veröffentlicht. Darin wird Individuen und ihren Interaktionen, der Funktionsfähigkeit der Software, einer engen Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden und einem flexiblen Reagieren auf Veränderungen eine größere Bedeutung beigemessen als der Definition von Prozessen und Werkzeugen, der aufwendigen und umfassenden Dokumentation sowie dem genauen Befolgen eines Plans. 

Zusätzliche Impulse erhielt Agilität aus der japanischen Automobilindustrie, konkret dem "Toyota-Produktionssystem", einem der Erfolgsfaktoren, die es dem rohstoffarmen und als Inselstaat räumlich beengten Japan ermöglichten, gegenüber Amerika konkurrenzfähig zu bleiben. Bei komplexen Produktionsketten zeigen sich die Schwierigkeiten zentraler, detailliert vorausplanender Produktionsteuerung unter anderem darin, dass es bei der Produktion von Fertigungsteilen auf Vorrat, um Kapazitätsengpässe im nächsten Produktionsschritt zu vermeiden, zu hohen Lagerhaltungskosten und ineffizienter Kapitalbindung kommt. Pufferbestände werden im japanischen Produktionssystem daher ausschließlich als zu vermeidende Verschwendung gesehen. Durch Lean Management, Just-in-time-Ansätze und Kanban wurden schlankere und flexiblere Prozesse konzipiert, und die Orientierung an den Usern rückte in den Mittelpunkt. Das Konzept bringt allerdings auch massive Personaleinsparungspotenziale mit sich und birgt das Risiko, von "schlank" in "magersüchtig" überzugehen, so der Soziologe Stefan Kühl. 

Welche Antwort gibt das Konzept? Bei dem aus der Lean Production abgeleiteten und bei Kanban essenziellen "Pull-Prinzip" wird Arbeit nur angestoßen, sobald konkreter Bedarf besteht. Nachschub wird erst angefordert, wenn sich der Vorrat dem Ende zuneigt. Damit wird der Produktionsablauf flexibler, effektiver und kostengünstiger. Entsprechend einem Flussprinzip entlang der Wertschöpfungskette soll jede Aufgabe in hoher Qualität so schnell wie möglich abgearbeitet werden, wobei die Anzahl paralleler Arbeiten durch sogenannte "Work-in-Progress-Limits" begrenzt wird. 

Das Pull-Prinzip und die Visualisierung des Workflows mittels Kanban wurden in der Softwareindustrie aufgegriffen: Erst wenn ein Team seine aktuellen Aufgaben abgearbeitet hat, werden weitere Aufgaben aus dem Bestand der zu erledigenden Anforderungen gezogen und auf einem für alle Mitarbeitenden sichtbaren Kanban-Board von links nach rechts verschoben. 

Dominante Elemente aller agilen Methoden sind dabei selbstgesteuerte Teams, die in sich zeitlich klar definierten ("Timeboxing"), überlappenden Entwicklungsphasen arbeiten. Tägliche, auf 15 Minuten beschränkte Abstimmungstreffen ("Dailys") und Meetings zu Vorschau, Review und Rückblick in einem klaren zeitlichen Rhythmus ("Sprints") leiten die Teams durchs Projekt. Die Besprechungsformate entsprechen damit auch der kurzzyklischen, kleinschrittigen Vorgehensweise, die agile Praktiken generell auszeichnet. 

Statt einer detaillierten Vorabplanung liegt das Augenmerk auf der zügigen Entwicklung frühzeitig nutzbarer Ergebnisse in "iterativen Schleifen" und einer laufenden Nachjustierung auf Basis gemeinsamer Bewertungsschritte (Retrospektiven). 

Scrum ist die von den agilen Methoden wohl bekannteste. Im Gegensatz zu Kanban definiert Scrum sehr klare Rollen. Wesentlich sind dabei - neben den Mitgliedern des Entwicklungsteams - der Product Owner und der Scrum Master. Der Product Owner repräsentiert die Kundenperspektive gegenüber dem Team und beschreibt in sogenannten "User Stories" den Nutzen und die Anwendung. Die User Story definiert die Anforderungen aus Kundensicht. Alle User Stories werden im "Product Backlog" gesammelt und ausschließlich durch den Product Owner ergänzt, adaptiert und priorisiert. Der Backlog stellt für die Entwicklerïnnen die gesammelten, sich aber dynamisch ändernden Anforderungen an die Software zur Verfügung. 

Scrum stellt Führung und Leitung nicht grundsätzlich infrage, verändert aber deutlich ihre Funktion. Gegenüber traditioneller Führung und Projektleitung bekleiden die Führungskräfte agiler Softwareentwicklungsteams deutlich andere Rollensets. 

In der agilen Praxis gewinnen auch kreative Visualisierungs- und Moderationsmethoden an Bedeutung. Dabei kommen oft bunte und sinnlich-haptisch ansprechende, spielerische Elemente zum Einsatz. Bunte Post-its auf Kanban-Boards und Legobausteine als Mittel zu Veranschaulichung von Scrum bilden quasi Artefakte der Agilität. Durch die hohe Bedeutung selbstgesteuerter Teams wächst das Interesse an Gruppendynamik, am Verständnis von sozialen Prozessen und an sozialkommunikativen Fertigkeiten. 

Wo und wie wird das Konzept aufgegriffen? Agile Konzepte haben ihren Ursprung in international tätigen Automobilindustriebetrieben und großen Softwareunternehmen. Das kommt auch in einer sehr spezifischen, teils etwas technokratischen Sprache, vor allem aber in der stark auf Effizienzsteigerung abzielenden Argumentation zum Ausdruck. 

Dabei ist die Gesamtorganisation oftmals keineswegs agil oder sonderlich sozial innovativ hinsichtlich einer selbstgesteuerten Struktur. Die agilen Teams sind somit oft "Silos", die exotische Inseln in sonst durchwegs traditionell organisierten Großbetrieben bilden. Während sich in den agilen Teams eine zunehmend elaboriertere Selbststeuerungspraxis herausbildet, ist in der restlichen Organisation oftmals eine "Command and Control"-Logik strukturell ungebrochen und kulturell tief verankert. 

Durch den Fokus auf Teams als soziales Kernelement konnten agile Ansätze auch einfach auf kleine IT-Firmen übertragen werden. Die beherzte Dynamik und zuweilen spielerische Leichtigkeit versprechenden Methoden beeinflussen aber auch in Branchen und Organisationen außerhalb der Softwareindustrie die Art und Weise, wie an die Projektplanung herangegangen und der Besprechungsalltag gestaltet wird. Allerdings zeigt sich zuweilen, dass Methoden, Techniken und Begrifflichkeiten nicht immer einfach von der Softwarebranche in andere Bereiche mit gänzlich anderen Spannungsfeldern transferiert werden können. 

Bilanzierende Einschätzung. In agilen Ansätzen ist zwar eine kritische Haltung gegenüber Überregulierung, Dokumentationszwang, einschränkendem Bürokratismus und unhinterfragten formalisierten Strukturen verbreitet, jedoch wird selten kritisch über gesellschaftliche Kontexte nachgedacht. Agilität ist primär eine Form der Flexibilisierung, Prozessbeschleunigung und Effizienzsteigerung, allerdings basierend auf der Erkenntnis, dass dazu Autonomieerhöhung, Dialog mit Kundinnen und Auftraggebern und damit gerade "weiche Faktoren" wie Interaktion, gemeinsame Reflexion, offene Kommunikation sowie eine kreative und pragmatische Methodik und eine veränderungsaffine Grundhaltung ("Agiles Mindset") wesentlich sind.


2.4 Integrale evolutionäre Organisation - Laloux’ Reinventing Organizations


Worauf versucht das Konzept eine Antwort zu geben? Frederic Laloux veröffentlichte 2014 das Buch Reinventing Organizations ursprünglich im Selbstverlag und landete damit ohne großes Marketing einen Welterfolg. Das zeigt: Auch wenn die Suche nach neuen, lebensfreundlicheren Organisations- und Arbeitsformen wie gezeigt nicht ganz neu ist, ist die Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit heute wohl wichtiger denn je. Rückenwind erhält diese Suche nach "anderen" Organisationsformen, weil die von ungehemmten Wachstumsvorstellungen geprägte Art, unser Zusammenleben und unsere Wirtschaft zu organisieren, immer offensichtlicher zu einer bedrohlichen Gefährdung der globalen ökologischen Lebensgrundlagen führt. 

In diesem gesellschaftlichen Konnex baut Laloux seine konzeptiven Überlegungen auf ein historisches - vom Modell der Spiral Dynamics beeinflussten - Stufenmodell auf, dessen Stadien von dominierenden Paradigmen und immer wieder stattfindenden eruptiven "Durchbrüchen" geprägt sind, und wendet dieses auf die historische Entwicklung von Organisationsformen an. Demnach haben sich im Anschluss an zwei noch organisationsfreie frühgeschichtliche Paradigmen als Antwort auf neue gesellschaftliche Herausforderungen vier Organisationsformen entwickelt, die aber angesichts der sich ebenso entwickelnden gesellschaftlichen Herausforderungen zunehmend an ihre Grenzen stoßen. 

Die erste "tribal impulsive Organisationsform" ist von Stammesoberhäuptern geprägt, die ihre Autorität durch ständige persönliche Machtausübung - noch nicht durch personenunabhängige formelle Strukturen - absichern. Die "traditionelle konformistische Organisation" ist eine Antwort auf die Anforderungen einer zunehmend von Landwirtschaft geprägten sesshaften Kultur. Sie stützt sich auf stabile Rituale, eine klare Rangordnung, formalisierte Prozesse sowie personenunabhängige Rollen und Funktionen. Diese Organisationsform bewährt sich bei langfristiger Stabilität in unveränderlichen Umwelten und bringt stark bürokratische Strukturen und pyramidenförmige Hierarchieordnungen hervor. 

Im Zuge von Aufklärung und industrieller Revolution und der Herausbildung des Kapitalismus entwickeln sich die "modernen leistungsorientierten Organisationen", die bis heute unseren Organisationsalltag prägen. Diese Organisationen hinterfragen die traditionelle "gottgegebene" Autorität, sind offen für Veränderungen, bieten grundsätzlich Aufstiegsmöglichkeiten nach dem Leistungsprinzip und ermöglichen damit Innovation in weitaus größerem Ausmaß. Zugleich sind sie geprägt von einem mechanistisch-maschinenhaften Bild von Organisation und vom kontinuierlichen Streben nach Effizienz und Profit. Die materialistische Fokussierung auf Profit und Wachstumszahlen sowie die starke Betonung von individueller Leistung und Erfolg führen zu chronischem Stress, einer Erosion der Gemeinschaft und tief verankerten Abstiegsängsten. 

Als Antwort auf diese Schattenseiten entwickelt sich die "postmoderne, pluralistische Organisation", die auf Empowerment der Mitarbeitenden, auf Dezentralisierung, auf wertorientierte Kultur und Sinnausrichtung sowie eine Integration verschiedener Interessengruppen setzt. Der soziale Charakter der Menschen wird in der Organisationsgestaltung berücksichtigt, die versucht, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu befriedigen. Organisationen sollen nicht wie Maschinen funktionieren, sondern eher dem Bild einer Familie entsprechen. Schwächen dieser Organisation liegen in einer Verleugnung von Macht, einer Vermeidung struktureller Regelungen und einer Überbetonung des Sozialen. Dies lösen laut Laloux Organisationen, die auf einem neuen, integralen evolutionären Paradigma beruhen. 

Welche Antwort gibt das Konzept? Die neuen "integralen evolutionären Organisationen" stellen so etwas wie eine Synthese der Stärken der vorhergehenden Paradigmen dar. Obwohl Laloux betont, dass die unterschiedlichen Stufen nicht mit Wertungen verbunden sind und in unterschiedlichen Kontexten passende Antworten sein können, bleibt dennoch kein Zweifel, dass diese bislang letzte Stufe als die durchweg erstrebenswerteste Organisationsform gesehen wird. Laloux weist in seinem Modell jeder dieser Stufen eine spezielle Farbe zu - die integralen evolutionären Organisationen werden von ihm als "teal", also "petrolfarbene", "türkise" Organisationen bezeichnet. Davon leitet sich der Begriff der Teal Organizations ab, der in der Debatte hin und wieder für integrale evolutionäre Organisationen verwendet wird. 

Integrale evolutionäre Organisationen unterscheiden sich von ihren Vorgängern - insbesondere von den durchaus in vielerlei Hinsicht ja bereits sehr alternativ agierenden postmodernen, pluralistischen Organisationen - durch "transzendentale" Grundwerte, wie etwa eine Zurücknahme des Egos und das Vertrauen auf die innere Stimme. Hier ist der Einfluss von Ken Wilbers spirituell orientierter "integraler Theorie" erkennbar. Organisationen werden dabei in sehr konkreter Weise als lebendige Organismen verstanden. 

Laloux sucht nun nach bereits existierenden Organisationen, die zukunftsweisend anders organisiert sind und dem menschlichen Potenzial mehr Entfaltungsraum geben. Dabei porträtiert er zwölf Organisationen, die er als Pioniere für "integrale evolutionäre Organisationen" und für ein neues Miteinander sieht. Die Darstellungen der Beispiele bilden den Kern des Buches und erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern geben dem Modell eher "anekdotische Evidenz", so Laloux. 

Einige der vorgestellten Organisationen sind gemeinnützig, andere gewinnorientiert. Sie stammen aus unterschiedlichen Branchen - wie etwa der Lebensmittelhersteller Morning Star oder Robertsons Beratungsfirma HolacracyOne - und sind von sehr unterschiedlicher Größe. Von einigen Hundert bis weltweit 40.000 Mitarbeitenden reicht die Bandbreite. Bekannt wurde insbesondere der niederländische ambulante Pflegedienst Buurtzorg mit bei Erscheinen des Buches etwa 7000 Mitarbeiterïnnen in circa 850 autonomen Teams, die von nur etwa fünfzig zentralen Mitarbeiterïnnen koordinierend und beraterisch unterstützt wurden. Buurtzorg gelang es, eine hohe Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden, eine hohe Kundenzufriedenheit und zugleich beeindruckende Kosteneinsparungen zu erreichen. Die innovative Pflegeorganisation ist dadurch weltweit - und weit über den Bereich der mobilen Pflege hinaus - bekannt geworden. 

Die integralen evolutionären Organisationen zeichnen sich nach Laloux’ Modell durch folgende drei zentralen "Durchbrüche" aus: Selbstführung, Suche nach Ganzheit und Ausrichtung auf den evolutionären Sinn. 

(1) Selbstführung: Die Selbstführung stellt das klassische Bild der Pyramidenstruktur als Abbild von Hierarchie infrage und geht davon aus, dass es keine formalisierten Berichts- und Führungsebenen braucht, um koordiniert zu handeln. Dabei wird Führung nicht abgeschafft, sondern verbreitert und kollektiviert, um so Autorität auf alle Mitglieder der Organisation aufzuteilen und die kollektive Intelligenz des Systems zu nutzen. Herausfordernde Entscheidungen werden dementsprechend in Gruppen getroffen. 

Mitarbeiterïnnen erfüllen nicht mehr von Vorgesetzten vorgegebene Aufgaben, sondern nehmen diese aufgrund ihrer Interessen oder Talente entsprechend organisationaler Notwendigkeiten und Bedürfnisse an. "An die Stelle von pyramidenartigen Hierarchien treten spontan entstehende ‚flexible‘ Hierarchien, die auf Anerkennung, Einfluss und Fertigkeiten basieren", schreibt Laloux. Vielfältige Rollen und Verantwortlichkeiten, die Mitarbeitende selbstgeführt übernehmen, ersetzen zudem fixe Stellenbeschreibungen. Dennoch bleiben personalisierte Führungsfunktionen - wie die der Geschäftsführung - bestehen, deren Aufgaben verändern sich aber deutlich. 

(2) Ganzheit: Laloux problematisiert Entfremdung, Versachlichung und Austauschbarkeit der in Organisationen tätigen Menschen und setzt dem "Ganzheit" entgegen. Dies soll ermöglichen, dass "wir unsere Masken abnehmen, unsere innere Ganzheit wiedererlangen und unser ganzes Selbst in die Arbeit einbringen können". In integralen evolutionären Organisationen werden die Mitarbeitenden also ermutigt, sich als ganze Person einzubringen. Im Dialog, durch Reflexion und Feedback wird festgelegt, wie zum Beispiel die Arbeitszeiten mit persönlichen und beruflichen Anforderungen in Einklang gebracht werden können - das heißt, private Anliegen sind in der Arbeitsgestaltung willkommen. Besonderer Wert wird auf die Gestaltung von sicheren Entwicklungsräumen in Organisationen und auf eine dialogische Beurteilung der Leistung gelegt. 

(3) Evolutionärer Sinn: "In der integralen evolutionären Perspektive wird eine Organisation als lebendiges System gesehen, ein eigenes Wesen mit eigener Energie, eigener Identität, einem eigenen kreativen Potenzial und einem Gefühl von Richtung. Wir müssen der Organisation nicht sagen, was sie tun soll, wir müssen zuhören, ihr Partner werden, mit ihr tanzen und entdecken, wohin sie uns führt", schreibt Laloux. Organisationen werden als beseelter Teil eines Ökosystems verstanden. Praktiken, die das Wahrnehmen und Hören auf den evolutionären Sinn (Purpose) ermöglichen sollen, ersetzen klassische Steuerungssysteme, die an Kennzahlen orientierte Führung und eine langfristige Strategieplanung. Dabei haben ritualisierte und mediative Praktiken einen hohen Stellenwert. 

Wo und wie wird das Konzept aufgegriffen? Laloux’ Bestseller ist es gelungen, das Bedürfnis nach neuen, alternativen, menschenfreundlicheren Organisationsformen aufzugreifen, und hat damit eine breite Diskussion über das Thema Selbstorganisation angestoßen. Das Buch wird einerseits von Organisationsberaterïnnen, aber auch von veränderungsinteressierten Führungskräften in unterschiedlichen Branchen diskutiert, bietet argumentative Schützenhilfe und erzeugt Rückenwind für Organisationen, die neue Wege beschreiten wollen. 

Der Erfolg von Reinventing Organizations hat wohl damit zu tun, dass das Buch zwei Lesarten zulässt: Einerseits entwirft es eine zuweilen etwas esoterisch anmutende Darstellung von neuen, integralen evolutionären Organisationen. Mit Themen wie der Sinnsuche und deren Verknüpfung mit konkreten Businesspraktiken und spirituellen Fragen spricht es sicherlich viele von der nüchternen Organisationswelt ermüdete Menschen an. Andererseits enthält das Buch sehr anschauliche Beschreibungen von konkreten Praktiken und bietet handfeste Anregungen. Dabei werden auch schwierige Themen wie Budgetierung, Kündigungen, Personalauswahl und Entgeltsysteme dargestellt, was die dargestellten Organisationen zu Inspirationsmodellen für die Community werden lässt. Vertreterïnnen der Pionierorganisationen werden zu Kongressen geladen, um über ihre Erfahrungen zu berichten und ihre Praxiserfahrungen zu verbreiten, oder können - zuweilen kostenpflichtig - besucht werden. 

Eine ansprechende illustrierte Kurzfassung von Laloux’ Buch hat zudem zur Verbreitung seiner Überlegungen beigetragen. 

Bilanzierende Einschätzung. Laloux formuliert weniger ein konsistentes eigenständiges Modell zur Organisationsgestaltung. Die von ihm skizzierte integrale evolutionäre Organisation ist vielmehr ein Idealtypus, der eine Entwicklungsrichtung aufzeigt. 

Der Reiz des Buches liegt in der Fülle an Praxisbeispielen, die deutlich machen, dass ein grundsätzlich anderes Arbeiten möglich ist und Organisationen auch völlig anders als üblich gestaltet werden können. Kritisch zu bewerten ist etwa die Auswahl der dargestellten Organisationen, die an manchen Stellen sehr spirituelle Begrifflichkeit und die bewusst nicht wissenschaftliche Aufbereitung und Auswertung der erhobenen Daten. Dennoch ist das Buch getragen von der Ermutigung, über Bestehendes hinauszudenken und Organisationen, die von Selbstentfaltung, Kooperation, Wertschätzung und auch Achtsamkeit für das Leben und die Umwelt geprägt sind, "neu zu erfinden". 


3 Fazit: Eine neue Vielfalt entsteht


Deutlich wird, dass die unterschiedlichen Ansätze jeweils verschiedene Facetten von Selbstorganisation akzentuieren und dementsprechend verschiedene Potenziale und Möglichkeiten neuer Organisationsformen aufzeigen. Mögliche Organisationsformen differenzieren sich und entwickeln sich weiter. Es gibt nicht mehr nur eine überschaubare Zahl von Organisationsstrukturen wie Linienorganisation, Matrixorganisation oder Prozessorganisation. Die neue Vielfalt unterstreicht, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten die Suche nach einer passenden Organisationsform bietet. 

Die hier vorgestellten Konzepte sind Antworten auf Herausforderungen bestimmter Felder. Keine der Methoden bietet die richtige oder optimale Form, sondern kann nur als ein weiterer Versuch gesehen werden, Arbeit passend zu organisieren. Zugleich werden aber auch spezifische Grenzen der Konzepte sichtbar. Erfolgversprechend erscheint ein pragmatisches Vorgehen, das sich von möglichst unterschiedlichen konzeptuellen Überlegungen und Praxisbeispielen inspirieren lässt, diese auf die besondere Situation der eigenen Organisation anwendet und dabei keine Scheu hat, verschiedene Ansätze zu kombinieren und weiterzuentwickeln. 


Anhang


Editorischer Hinweis 

Bei dem Text handelt es sich um eine überarbeitete, gestraffte und aktualisierte Fassung eines Buchbeitrages von Thomas Schweinschwaller und Georg Zepke. Die Originalfassung ist in dem von den beiden Autoren herausgegebenen Sammelband Selbstorganisation konkret! unter dem Titel "Auf der Suche nach Alternativen: Konzepte und Ansätze der Selbstorganisation im Überblick" erschienen. Ausgewiesen wird hier nur die im Text zitierte oder erwähnte Literatur; für die wissenschaftlichen Nachweise sei auf den Buchbeitrag und das umfassende Literaturverzeichnis im Buch verwiesen. 

Zitierte Literatur 

Frithjof Bergmann (2004): Neue Arbeit. Neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor 

Brian J. Robertson (2016): Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Vahlen 

Elisabeth Göbel (1998): Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation. Berlin: Duncker & Humblot 

Peter Heintel, Ewald E. Krainz (2000): Projektmanagement. Eine Antwort auf die Hierarchiekrise? Wiesbaden: Gabler 

Michaela Moser (2017): Hierarchielos führen. Anforderungen an eine moderne Unternehmens- und Mitarbeiterführung. Wiesbaden: Springer Gabler 

Stefan Kühl (2015): Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien. Frankfurt am Main: Campus 

Frederic Laloux (2015): Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen 

Frederic Laloux (2017): Reinventing Organizations. Ein illustrierter Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen 

Bernd Oestereich, Claudia Schröder (2017): Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen 



Zitate


"Organisationen werden als kühle Orte der Fremdbestimmtheit, der bürokratischen, lebensfernen und überreglementierten Logik, der Undurchschaubarkeit und Abstraktheit und einer am Individuum desinteressierten Funktionalität und Entfremdung erlebt." Georg Zepke, Thomas Schweinschwaller: Arbeit sinnvoll organisieren

"Mit dem wachsenden Druck sowohl auf Organisationen als auch auf Individuen und der damit verbundenen Verunsicherung wächst zugleich die Sehnsucht nach anderen, mehr sinnerfüllenden Kooperationsformen und anderen, freieren, lustvolleren Beteiligungsmöglichkeiten." Georg Zepke, Thomas Schweinschwaller: Arbeit sinnvoll organisieren

"Der Wunsch, Organisationen menschenfreundlicher und partizipativer zu gestalten, der Sinnentfaltung mehr Raum zu geben sowie Alternativen zur Hierarchie und zu autoritären Führungskonzepten zu entwickeln, ist keineswegs neu." Georg Zepke, Thomas Schweinschwaller: Arbeit sinnvoll organisieren

"Organisationskonzepte sind immer in ihrem Wechselspiel aus gesellschaftlichen Entwicklungslinien und den organisationalen Reaktionen darauf zu verstehen." Georg Zepke, Thomas Schweinschwaller: Arbeit sinnvoll organisieren

"Mögliche Organisationsformen differenzieren sich und entwickeln sich weiter. Es gibt nicht mehr nur eine überschaubare Zahl von Organisationsstrukturen wie Linienorganisation, Matrixorganisation oder Prozessorganisation. Die neue Vielfalt unterstreicht, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten die Suche nach einer passenden Organisationsform bietet." Georg Zepke, Thomas Schweinschwaller: Arbeit sinnvoll organisieren

"Erfolgversprechend erscheint ein pragmatisches Vorgehen, das sich von möglichst unterschiedlichen konzeptuellen Überlegungen und Praxisbeispielen inspirieren lässt, diese auf die besondere Situation der eigenen Organisation anwendet und dabei keine Scheu hat, verschiedene Ansätze zu kombinieren und weiterzuentwickeln." Georg Zepke, Thomas Schweinschwaller: Arbeit sinnvoll organisieren

 

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Zum Buch

: Selbstorganisation konkret!. Empirische Befunde zu Möglichkeiten und Grenzen von Agilität und Selbstorganisation. Texte zur Systemischen Organisationsforschung, Wien 2021, 204 Seiten, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-950416022

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Autor

Thomas Schweinschwaller
Schweinschwaller

Thomas Schweinschwaller (Prof. FH) ist Mitgründer von Vielfarben in Wien. Er ist tätig als Dozent und Forscher, Organisations- und Arbeitspsychologe, Unternehmensberater, Trainer und Coach. Er ist Mitherausgeber des Bandes Selbstorganisation konkret! Empirische Befunde zu Möglichkeiten und Grenzen von Agilität und Selbstorganisation, erschienen 2021 in Wien. © Foto: Eva Kelety

Autor

Georg Zepke
Zepke

Georg Zepke (Mag. Dr.) ist Leiter des Instituts für systemische Organisationsforschung in Wien. Er ist tätig als Dozent, Unternehmensberater, Trainer, Organisationswissenschaftler und Verleger und ist Mitherausgeber des Bandes Selbstorganisation konkret! Empirische Befunde zu Möglichkeiten und Grenzen von Agilität und Selbstorganisation, erschienen 2021 in Wien.

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