Ganzheit der vier Räume
Was ist eine Organisation? Vor nicht allzu langer Zeit noch hätte man ein Organigramm gemalt: bitte schön. Heute sagt man, eine Organisation sei ein komplexes Gebilde. Aber was heißt das konkret? Fünf Münchner Innovationsberater beschreiben die Organisation als Gebilde mit vier zusammenhängenden Räumen. Vier Räume, in denen unterschiedliche Themen verhandelt werden: erstens die Struktur und die Art, wie Entscheidungen getroffen werden, zweitens die operativen Prozesse und Praktiken, drittens die Art und Weise, wie die Menschen miteinander interagieren, und viertens die einzelnen Personen und deren Denk- und Handlungsweisen. Vier Perspektiven, die die Arbeit in, an und mit Organisationen leiten und strukturieren können.
Wie muss eine Organisation beschaffen sein, damit sie auch in Zukunft bestehen kann? Damit sie fit für die Zukunft ist? Sie muss vor allem in der Lage sein, sich selbst zu hinterfragen und sich selbst zu reflektieren. Ein Team von Organisationsberatern aus München hat ein Modell vorgestellt, das dies erleichtern soll: die vier Räume der Organisation. Im Interview erläutern sie ihr Modell, erzählen, wie sie dazu gekommen sind, und berichten aus ihrer Praxis. Ein Gespräch über Komplexität, Selbstorganisation und Pull statt Push.
Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck gehören zum Team der Münchner Innovationsberatung creaffective und sind Autoren des Buchs Future Fit Company, das bei Murmann erschienen ist. Nicht mit beim Gespräch dabei war Co-Autor Jens Springmann; die Reihenfolge der Namen orientiert sich an der Nennung der Autoren auf dem Buchcover.
Sie sagen, eine Organisation ist ein komplexes Gebilde. Das klingt zunächst mal zeitgeistig. Was heißt komplex im Zusammenhang mit Organisationen?
Florian Rustler: Komplex heißt, dass es eine Ungewissheit gibt und wir eben nicht alles vorausplanen können. Selbst wenn wir alle einzelnen Elemente kennen, wird es Eigendynamiken geben, deren Entwicklung wir nicht vorhersehen können. In Organisationen ist das so, weil dort Menschen zusammenwirken. Und wenn Menschen aufeinandertreffen, können vielfältigste Dynamiken entstehen, die wir nicht planen oder antizipieren können.
Wie drückt sich Komplexität in einer Organisation aus?
Isabela Plambeck: Auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel im Entwicklungsbereich, wo wir nicht wissen, wie der Markt auf das nächste Produkt reagieren wird, oder im Personalbereich, wo Ungewissheit herrscht, wie die Stimmung zwischen den Mitarbeitern ist - es gibt sie in sämtlichen Bereichen des Unternehmens.
Nadine Krauss: Um diese Komplexität von Unternehmen zu beschreiben, verwenden wir das Modell der vier Räume. Es macht deutlich, dass die Komplexität eben nicht nur den operativen und den strukturellen Raum betrifft, von denen meistens die Rede ist, sondern auch den individuellen und den zwischenmenschlichen Raum, wo es um das menschliche Miteinander geht. Mit diesen vier Räumen zielen wir auf die Ganzheit des Unternehmens ab.
Würden Sie bitte kurz erläutern, was die vier Räume jeweils ausmacht?
Nadine Krauss: In unserer Arbeit merken wir, dass die meisten Unternehmen sich um ihre Strukturen, also den strukturellen Raum, und um ihre Prozesse und das Tagesgeschäft, den operativen Raum, kümmern. Im strukturellen Raum heißt das: Wie treffen wir Entscheidungen? Wie sehen unsere Gehaltsmodelle aus? Wie sind wir strukturiert? Also der ganze strukturelle Rahmen. Im operativen Raum geht es um Fragen wie: Wie arbeiten wir zusammen? Wie gestalten wir unsere Meetings? Wie sieht ein Innovationsprozess für uns aus? Um diese beiden Bereiche kümmern sich die meisten Unternehmen. Aber der zwischenmenschliche Raum, also der Umgang miteinander, und der individuelle Raum, wo es um die einzelnen Personen geht, bleiben ganz oft brach liegen.
Diese beiden Räume bleiben verschlossen?
Nadine Krauss: Ja. Aber wir sind alle Menschen, wir sind Individuen, die mit ihren Problemen und Sorgen in die Arbeit kommen. Haben wir den Raum, das zu besprechen? Geben wir uns Feedback? Nehmen wir uns auch als Personen wahr? Und im individuellen Raum: Können wir uns mit unseren Themen und Ideen einbringen? Sind wir wertschätzend mit uns selbst und im Austausch miteinander? Fragen wie diese umreißen einen sehr komplexen Bereich in Unternehmen. Daher richten wir verstärkt den Fokus auf die Ganzheit dieser vier Räume.
Isabela Plambeck: Die Komplexität liegt auch im Zusammenspiel zwischen diesen vier Räumen. Wie spielen diese vier Räume miteinander? Was hat Einfluss auf den operativen, aber auch auf den zwischenmenschlichen Raum? Die vier Räume sind sehr eng miteinander verbunden.
Florian Rustler: Ein Beispiel: Wenn ein Team auf einmal über seine Arbeitsweise selbst entscheiden soll, dann hat das zunächst mit dem strukturellen Raum zu tun - vielleicht führen sie einen Prozess ein, mit dem sie arbeiten. Gleichzeitig berührt das aber auch eine andere Ebene: Wenn niemand mehr allein entscheidet, wie etwas gemacht wird, dann können im Team ganz schnell Konflikte entstehen - und dann sind wir im zwischenmenschlichen Raum. Daran sieht man, wie eng die Dinge zusammenhängen. Das macht die Komplexität aus.
Diese Räume in den Blick zu nehmen, erhöht die Komplexität - zugleich kann es Komplexität reduzieren, sich diese Raumstruktur des Unternehmens deutlich zu machen?
Isabela Plambeck: Ja, das kann hilfreich sein.
Florian Rustler: Diese vier Räume bieten einen Zugang, der es ein bisschen komplexitätsreduzierender macht.
Die Herausforderung für Unternehmen besteht dann darin, in diesen vier Räumen gleichzeitig zu agieren. Kann man das so sagen?
Daniel Barth: Es ist eher so, dass Unternehmen diese Raumstruktur gar nicht wahrnehmen. Den operativen Raum schon, weil sie dort Geld verdienen. Auch den strukturellen Raum kennen Unternehmen, etwa wenn es um Einfluss und Entscheidungen geht. Der zwischenmenschliche Raum hingegen wird meistens gar nicht adressiert. Da herrscht die Haltung, das sollten die Leute unter sich ausmachen. Das liegt brach. Das betrifft auch populäre Methoden wie Scrum oder Design Thinking. Auch sie sind erst einmal im operativen Raum aufgehängt. Und dann wundern sich Unternehmen, wenn es nicht funktioniert - weil sie die anderen Dimensionen komplett außer Acht lassen, die aber eben auch tangiert werden.
Und was ist die Folge, wenn diese anderen Dimensionen außer Acht gelassen werden? Dass Ungleichgewichte entstehen?
Isabela Plambeck: Zunächst einmal, dass die Methoden oft nicht funktionieren. Dann heißt es in Unternehmen: "Design Thinking ist Mist. Scrum ist Mist. Für uns funktioniert das nicht!" Aber sie haben schlichtweg nicht in Betracht gezogen, dass es an anderen, internen Faktoren liegen kann.
Daniel Barth: Es entstehen schnell Spannungen im Team, wenn andere Arbeitsweisen eingeführt werden. Aber das liegt nicht unbedingt an den Methoden, sondern daran, dass diese Konflikte nicht adressiert wurden, weil das Werkzeug dazu fehlt oder allein schon das Bewusstsein.
Nadine Krauss: Ein Beispiel: Im zwischenmenschlichen Raum verwenden wir ein Werkzeug, den Check-in. Das bedeutet, dass die Teilnehmer vor Beginn eines Meetings ganz kurz reflektieren: Gibt es etwas, das mich davon abhält, heute hier voll und ganz präsent zu sein? Wir erleben nämlich in der Praxis recht häufig, dass Mitarbeiter bei der Besprechung geistig abwesend sind, weil sie vielleicht auf dem Weg zur Arbeit beinahe einen Autounfall hatten, weil am Wochenende die Schwiegermutter zu Besuch war oder weil eine Deadline im E-Mail-Postfach liegt - und sie sind deswegen so durch den Wind, dass sie an diesem Meeting nicht wirklich teilnehmen können. Das heißt: Wenn wir den zwischenmenschlichen Raum nicht aufmachen und ganz kurz hören, was an dem Tag los ist, wird es im operativen Raum mit diesem Meeting vielleicht nicht klappen. Das ist keine zeitaufwendige Sache. Aber dadurch gewinnt das Meeting plötzlich eine ganz andere Qualität.
Woher stammt das Modell der vier Räume? So habe ich das noch nicht gelesen. Ist das eine Eigenentwicklung?
Daniel Barth: Es gibt ein Vier-Räume-Modell von Ken Wilber, das aber anders angelegt ist. Wir haben es für uns adaptiert.
Florian Rustler: Es ist nicht ganz auf unserem Mist gewachsen, wir können aber gleichzeitig auch keine Quelle benennen, wo es herkommt. Uns sind aus unterschiedlichen Kontexten Elemente zugeflogen, und wir haben dann diese Form entwickelt.
Isabela Plambeck: Zur Historie: Wir haben uns selber von einer eher klassischen Struktur hin zur Holacracy entwickelt. Unterstützt hat uns dabei ein Coach, Joan Hinterauer, der uns vorgewarnt hat - er hat darauf hingewiesen, dass Holacracy sich beinahe ausschließlich auf den operativen und strukturellen Raum fokussiert, aber den individuellen und den zwischenmenschlichen Raum außer Acht lässt. Das kann zu einem "Cold-out" führen, indem die Mitarbeiter zwar supereffizient arbeiten, aber sich mit nichts mehr identifizieren können, weil die Form der Zusammenarbeit zu seelenlos ist. Das war für uns sehr hilfreich. Daher haben wir dieses Modell der vier Räume für uns selber angewandt und es dabei weiterentwickelt …
Nadine Krauss: … und wir uns selber auch. Wir haben mit Holacracy im Frühjahr 2016 angefangen und haben uns dann mit der Beschäftigung mit Soziokratie und Sociocracy 3.0 Schritt für Schritt weiterentwickelt. Für uns war wichtig, dass das System ganzheitlich stimmig war und nicht nur die Effizienz gestimmt hat. Und wir das Gesamtsystem gesund erhalten können.
In Ihrem Buch vermeiden Sie Kritik. Im Gespräch zeigt sich nun doch, dass Unternehmen wie Berater sich beinahe ausschließlich auf diese beiden Räume, den strukturellen und den operativen Raum, konzentrieren. Ist diese Deutung richtig?
Daniel Barth: Ich würde sogar noch weiter gehen: fast nur auf den operativen Raum. Denn strukturelle Veränderungen sind meist Veränderungen des Zuschnitts der Organisation von oben herab. Die Art und Weise, wie gearbeitet wird, verändert sich dagegen überhaupt nicht. Der strukturelle Raum ist also nur minimal tangiert. Er wird zwar thematisiert, aber meistens wird nichts dran gemacht.
Sie konzentrieren sich darauf, was ganz praktisch besser zu machen ist, ohne sich damit aufzuhalten, was momentan schlecht läuft?
Daniel Barth: Es bringt nichts, dieses Blame Game zu spielen und den Schuldigen zu suchen. Wir suchen Lösungen, die uns voranbringen.
Isabela Plambeck: Unsere Idee ist, dass Unternehmen da abgeholt werden müssen, wo sie stehen. Wenn wir diesen Zustand stark kritisieren würden, würde das Widerstand provozieren. Stattdessen sagen wir: Okay, das ist so. Und mit dem, was da ist, arbeiten wir.
Florian Rustler: Zudem hat es lange Zeit durchaus funktioniert, dies nicht zu berücksichtigen. Bei klaren Rahmenbedingungen und stabilen Verhältnissen kann es wunderbar funktionieren, dass jemand eine Ansage macht, die andere auszuführen haben, und es einen Prozess gibt, der sicherstellt, dass am Ende das gewünschte Ergebnis herauskommt. Aber das funktioniert nicht mehr in dem komplexen Umfeld, in dem viele Organisationen sich heute befinden. Dann wird es wichtiger, dass Dinge dezentral und selbstorganisiert passieren. Und eben deshalb müssen wir uns mit diesen anderen beiden Räumen stärker beschäftigen. Das ist es, was zukunftsbereite Organisationen auszeichnet.
Nadine Krauss: Um kurz zu ergänzen: Wir üben zwar keine Kritik, sprechen aber schon deutlich die Schmerzpunkte an, die die Unternehmen in unserer Wahrnehmung heute haben: dass sie innovativer und schneller werden wollen, dass sie das eigenverantwortliche, unternehmerische Denken ihrer Mitarbeiter fördern und die interne Zusammenarbeit verbessern und im Kampf um junge Talente attraktiver werden möchten. Das erleben wir in unserem Alltag ganz stark. Die Werkzeuge, die wir in diesen vier Räumen beschreiben, stammen aus unserer Erfahrung, aus unserer Praxis hier bei uns und in der Arbeit mit unseren Kunden. Hier können Unternehmen selber ansetzen.
Daniel Barth: Entscheidend ist, dass das Ganze kein Selbstzweck sein darf. Nach dem Motto "Au ja, New Work, das machen wir jetzt auch!" Immer stellt sich die Frage nach dem Warum: Was ist der Zweck dahinter, neue Methoden oder Werkzeuge einzuführen? Unsere Beobachtung ist: Es gibt ganz konkrete Schmerzpunkte, die jetzt häufiger auftreten als vor einigen Jahren. Deshalb suchen Unternehmen eine andere Art der Zusammenarbeit.
Es ist die erhöhte Komplexität des Umfeldes, die von Unternehmen fordert, sich anders, sich neu aufzustellen?
Florian Rustler: Ja. Das wird dann unter verschiedensten Schlagwörtern zusammengefasst. Digitalisierung vor allem, die durch neue technische Möglichkeiten neue Geschäftsmodelle ermöglicht und damit das Umfeld deutlich dynamischer, schneller und komplexer macht. Unternehmen müssen sich Gedanken machen, wie sie mit dieser erhöhten Komplexität umgehen und wie sie darauf reagieren können. Das Hintergrundrauschen ist diese Epoche der Digitalisierung.
Daniel Barth: Die verschiedenen Entwicklungen bedingen sich häufig gegenseitig. Digitalisierung ist ein ganz starker Faktor, der von außen wirkt, durch Geschäftsmodelle, durch Technologien. Und Methoden wie Design Thinking, Scrum und so weiter kommen genau aus diesem Grund: Sie sollen bessere Produkte schaffen, die näher am Kunden dran sind. Und natürlich ändert sich die Art und Weise, wie die Kunden mit dem Unternehmen und die Mitarbeiter im Unternehmen interagieren. Deshalb ist es ein Trugschluss, zu glauben, man könne Scrum einführen, aber alles andere weiterhin so machen wie bisher. Das klappt einfach nicht. Es muss sich deutlich mehr verändern. Wenn jeder sich mehr einbringen soll, dann muss auch mehr Partizipation möglich sein.
Im Buch lenken Sie den Blick auf die beiden vernachlässigten Räume, den individuellen und den zwischenmenschlichen Raum, und bieten Instrumente, um diese Räume handhabbar zu machen?
Isabela Plambeck: Ich würde nicht sagen, dass wir vor allem den individuellen und den zwischenmenschlichen Raum hervorgehoben haben. Wir adressieren alle Räume, betonen aber immer wieder, dass der individuelle Raum und der zwischenmenschliche Raum mit berücksichtigt werden müssen. Wir schaffen also das Bewusstsein und liefern Werkzeuge für alle Räume.
Florian Rustler: Wir haben jetzt von den Räumen gesprochen und von den Werkzeugen. Aber es gibt noch eine Ebene dazwischen, die aus unserer Sicht ganz zentral ist: die Prinzipien. Prinzipien definieren etwas, was über verschiedene Situationen hinweg gültig ist und immer Sinn ergibt. Wir führen eine Reihe solcher Prinzipien ein, die aus unserer Erfahrung wichtig sind für zukunftsbereite Organisationen. Die konkreten Werkzeuge sind Ausdruck dieser Prinzipien; sie setzen diese um. Werkzeuge müssen je nach Situation angepasst werden, die dahinter stehenden Prinzipien aber bleiben gültig.
Die Prinzipien geben die Richtung vor, in die sich Unternehmen entwickeln sollten?
Daniel Barth: Man kann auch sagen, dass sie Implikationen aufzeigen, die ein Unternehmen mittragen sollte. Tut es das nicht, hat es ein Problem. Ein Beispiel: Es wird immer danach gerufen, dass Mitarbeiter unternehmerisch denken sollen. Damit die das können, muss man ihnen aber auch Informationen zur Verfügung stellen. Zum Beispiel Finanzdaten, also Daten, die üblicherweise einer höheren Führungsebene vorbehalten sind. Wenn das nicht geschieht - wie sollen die Leute dann unternehmerisch handeln? Transparenz ist eines dieser Prinzipien. Verantwortlichkeit, Fairness, Offenheit sind weitere.
Allgemeiner gefragt: Was zeichnet eine zukunftsbereite Organisation aus?
Florian Rustler: Eine zukunftsbereite Organisation zeichnet einmal aus, dass sie mit der gestiegenen Komplexität im Umfeld gut umgehen kann. Das bedeutet, dass sie sich effektiv auf Veränderungen einstellen und sich kontinuierlich daran anpassen kann. Sie kann mit sich verändernden Rahmenbedingungen gut zurechtkommen. Der zweite Punkt ist, dass es in der Art, wie in der Organisation gearbeitet wird, keinen Widerspruch gibt zwischen einem menschlichen Umgang miteinander und wirtschaftlichem Erfolg.
Isabela Plambeck: Und die Voraussetzung ist, dass Unternehmen sich selbst hinterfragen und sich selbst reflektieren können. Und zwar sowohl die Menschen selber - also auf der individuellen Ebene -, aber auch das Unternehmen an sich. Sind unsere Prozesse sinnvoll? Ist unser Produkt sinnvoll? Ist unsere Arbeitsweise sinnvoll? Wo sind wir gut und wo können wir uns verbessern? Ständiges Hinterfragen ist eine der Grundvoraussetzungen für ein zukunftsbereites Unternehmen. Oder allgemeiner: das Bewusstsein, dass alles in Bewegung ist und auch immer in Bewegung sein wird.
Und zu dieser Reflexion gehört auch, die bislang nicht ausreichend wahrgenommenen Räume bewusst zu machen?
Isabela Plambeck: Genau. Nadine Krauss: Aber auch die Bereitschaft, blinde Flecken anzugucken und das ergebnisoffen zu tun. Also nicht: Wir kennen das Ziel und wir müssen einen Weg dorthin finden. Sondern: Wir wissen noch nicht, wie das Ziel aussieht. Wir sind so flexibel und offen wie möglich, einen Weg zu finden.
Florian Rustler: Ein Gegenbeispiel ist erst kürzlich hereingeflattert: Ein Unternehmen fragt an. Sie wollen ihre Organisation weiterentwickeln. Sie wissen noch nicht genau, wo das hingehen soll, aber sie möchten "die Spotify-Methode" einsetzen. Sie wollen also so arbeiten wie Spotify. Interessant ist das schon deswegen, weil Spotify selber nicht weiß, wie Spotify arbeitet, es also eben keine "Spotify-Methode" gibt, zumindest keine, nach der Spotify arbeitet. Das ist der Punkt: Sie haben von einer Methode gehört und wollen die jetzt anwenden, können aber noch nicht mal sagen, wo das hinführen soll.
Was bedeutet das für die Entwicklung von Organisationen? Ergebnisoffenheit als Prinzip?
Nadine Krauss: Wenn diese Offenheit da ist, muss auch nicht gleich das ganze Unternehmen umgekrempelt werden. Die Hürden, etwas auszuprobieren, sind im Team sehr niedrig: Wollen wir unsere Feedback-Struktur ändern? Wollen wir versuchen, uns in unseren Meetings weniger auszubremsen? Es geht sehr einfach, schnell etwas auszuprobieren.
Daniel Barth: Wenn ein Unternehmen ein hohes Maß an Dysfunktion etabliert hat, gibt es vielleicht keinen anderen Weg, als einen großen Transformationsprozess top-down anzustoßen. Aber meist ist es viel zu langwierig, eine umfassende Lösung zu entwickeln. Da ist es viel spannender, zu sagen: Probieren wir halt mal etwas aus. Versuchen wir, anders zu arbeiten, und sei es nur im eigenen Team. Und basierend auf den Erfahrungswerten dann zu überlegen: Was heißt das für unsere Organisation?
Florian Rustler: Eine große Stärke dieser Vorgehensweise ist, dass man mit auf den ersten Blick kleinen Experimenten Schritt für Schritt vorangehen kann, ohne im Vorhinein schon geplant zu haben, was wann zu tun ist. Und ohne zu wissen, wie die Lösung konkret aussieht. Sondern vom Status quo auszugehen: Was wäre, wo wir jetzt gerade stehen, als Experiment denkbar?
Nadine Krauss: Es gilt ganz konkret zu schauen: Was sind mögliche nächste Schritte? Welche Werkzeuge können wir ausprobieren, um die nächsten kleinen Schritte zu gehen?
Florian Rustler: Das ist etwas grundlegend anderes als klassisches Change Management: Nämlich mit kleinen, evolutionären Schrittchen vorangehen. Nur eine Zielrichtung zu haben, die große Richtung zu kennen, im Prozess aber sehr, sehr flexibel zu sein, was als Nächstes zu tun ist.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation?
Florian Rustler: Zukunftsbereite Organisationen sind stärker selbstorganisiert als die meisten Organisationen heute. Sie arbeiten mit mehr Elementen von Selbstorganisation. Ganz einfach deswegen, weil selbstorganisiertere, dezentralere Organisationen mit steigender Komplexität besser umgehen können. Das heißt nicht, dass es überhaupt keine zentralen Strukturen mehr gibt, aber es wird deutlich mehr Elemente von Selbstorganisation geben. Das kann das ganze Unternehmen umfassen oder zumindest Teile davon; es kann auch eine wie auch immer gefundene Mischung aus zentralistischen Elementen und dezentralen, selbstorganisierten Elementen sein.
Daniel Barth: Die Fähigkeit, schneller auf Veränderungen reagieren zu können, ist systemisch durchaus darstellbar. Das kann man sogar berechnen. Dezentrale Steuerung ist einfach schneller und flexibler als eine zentrale Weisung von ganz oben, die über mehrere Ebenen nach unten weitergegeben wird. Selbstorganisation ist also kein Selbstzweck. Es ist nicht bloß schick und modisch, selbstorganisiert zu sein. Im Vordergrund steht ganz klar, schnell und flexibel auf Veränderungen reagieren zu können. Und dazu braucht es ein größeres Maß an Selbstorganisation in größeren Teilen der Organisation.
Was bedeutet Selbstorganisation dann genau? Dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie anfallen und wo das Wissen ist?
Florian Rustler: Ja, das bedeutet es unter anderem. Selbstorganisation heißt, dass ein Team oder eine Organisationseinheit, also eine ganze Gruppe von Menschen, die sich um einen Inhalt oder um ein Feld von Inhalten kümmern, innerhalb ihres Teams Entscheidungen treffen können, ohne dass es eine von außen einwirkende Person oder einen Agenten gibt, der diese Entscheidung vorgibt oder beeinflusst. Natürlich gibt es Themen, die nicht nur ein Team betreffen. Dann müssen sich diese Teams abstimmen, wie sie etwas entscheiden, das auf alle beteiligten Teams Einfluss hat. Aber sie können das untereinander ausmachen.
Nadine Krauss: Ein Grundprinzip ist, Menschen in ihre Eigenverantwortung zu bringen. Es möglich zu machen, dass Menschen im Rahmen ihrer Kompetenzen eigene Entscheidungen treffen können. Damit wird dieses Missverhältnis, das wir in vielen Unternehmen unter den derzeitigen Strukturen wahrnehmen, wieder in Balance gebracht: das Missverhältnis, dass Menschen, die in ihrem privaten Umfeld große Verantwortung tragen, in einem Unternehmen nicht einmal einen Stift nachbestellen dürfen, sondern erst bürokratisch einen Antrag stellen müssen - weil es nicht in ihrer Kompetenz liegt, diesen Stift selbst zu bestellen. Das ist natürlich überspitzt ausgedrückt, aber das ist das herrschende Missverhältnis.
Isabela Plambeck: Wir haben jetzt über das Thema Entscheidungsfindung gesprochen. Das ist ein wichtiger Aspekt von Selbstorganisation. Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Unterscheidung zwischen Menschen und Rollen. Selbstorganisation versucht, diese Rollen unabhängig von den Menschen und von den Positionen zu definieren. Rollen werden nach Tätigkeiten definiert. Eine Rolle ist zudem unabhängig von Personen. Eine Rolle kann an einen Mitarbeiter gegeben werden und nach einer gewissen Zeit zu jemand anderem wechseln. Diese Unterscheidung zwischen klassischer Stellenbeschreibung und Rolle ist ein zentraler Aspekt der Definition von Selbstorganisation.
Und mit der Stellenbeschreibung sind wir wieder bei den real existierenden Strukturen?
Daniel Barth: Es geht immer um Klarheit und Sinnhaftigkeit im Arbeiten. Es gibt total unsinnige Regelungen oder Prozesse in Unternehmen. Alle wissen, dass diese nicht gut funktionieren, aber niemand ist in der Lage, etwas zu verändern. Das ist eine Form von Entmündigung. Und weil sich das verselbständigt, geht es irgendwann nicht mehr um die inhaltliche Frage, ob eine Entscheidung sinnvoll ist, sondern allein darum, sein Amt oder seine Position zu verteidigen. Weil der Inhaber sich darüber definiert. Rollen ermöglichen nun, dieses Politische rauszunehmen. Um zu einer sinnhaften Form von Zusammenarbeit zurückzufinden, in der es um die Themen geht, die das Unternehmen voranbringen.
Die Ablösung von Positionen durch Rollen bezeichnet einen grundlegenden Wechsel im Organisationsmodell?
Florian Rustler: Bisher hat sich die Logik in Organisationen an Funktionen und Positionen orientiert. Es gab Stellenbeschreibungen, in die verschiedene Aufgaben und Aufgabenbündel reingepackt und unter diese Position subsumiert wurden. Kam eine Person in eine bestimmte Position, waren diese gebündelten Aufgaben zugleich mit dieser Person verknüpft. Die Logik von Rollen ist anders. Sie versucht, die Aufgaben, die klassischerweise unter einer Position subsumiert wurden, in verschiedenen Rollen zu denken. Und in der Konsequenz diese Rollen von den Personen zu trennen. So wird es möglich, dass eine Person mehrere Rollen innehat - und dann auch unterschiedliche Aussagen von einer Person kommen können, je nachdem, in welcher Rolle diese Person denkt.
Eine Detailfrage: Welche Bedeutung hat Pull für die Selbstorganisation, in Abgrenzung zu Push?
Florian Rustler: Eine ganz zentrale Bedeutung. Pull impliziert, dass sich Menschen selbst organisieren. Sie entscheiden selbst, wie sie ihre Arbeit, in welcher Reihenfolge, in welcher Priorität, erledigen - und ziehen sich dann die anstehenden Tätigkeiten. Push bedeutet, dass es einen von außen wirkenden Einflussfaktor gibt, der den Mitarbeitern etwas aufdrückt, ihnen Aufgaben zuteilt. Dann sind die Menschen nicht selbstorganisiert.
Der Kern von Management ist, anderen Leuten zu sagen, wie sie ihre Arbeit zu tun haben. Das ist Push?
Florian Rustler: Ja. Selbstorganisation bedeutet, dass Aufgaben, die traditionell einem Manager oder einer Führungskraft zugeordnet waren - wie zum Beispiel Priorisierung, Ressourcenzuteilung, Zeitplanung - nun in die Gruppe oder ein Team gegeben werden und dann von den Leuten selbst übernommen werden. Was bisher auf eine Managementposition konzentriert war, wird nun dezentral in eine Gruppe abgegeben und verteilt.
Isabela Plambeck: Auf den individuellen Raum übertragen bedeutet das mehr Selbstbestimmung der Mitarbeiter. Mit dem Ergebnis, dass jeder von ihnen daraus erhöhte Motivation und erhöhte Identifikation mit dem Unternehmen zieht. Wenn ich fremdgesteuert bin und nur von außen zugeteilt bekomme, was ich zu tun habe, dann ist das bloß meine Arbeit, aber ich bin eigentlich jemand anders. Wenn ich aber in der Lage bin oder dazu befähigt werde, selber diese Entscheidungen zu treffen und meine Arbeit selbstbestimmt zu organisieren, macht das einen gewaltigen Unterschied. Florian Rustler: Für manche Leute ist das allerdings erst einmal eine Zumutung …
Isabela Plambeck: … ja …
Florian Rustler: … weil sie nun etwas übernehmen müssen, was früher der Manager angesagt hat. "Jetzt muss ich mich darum auch noch kümmern!", heißt es dann. Doch ich glaube, die meisten Menschen empfinden es als etwas sehr Positives, wenn sie mehr Einflussmöglichkeiten und mehr Eigenverantwortung haben. Aber wir erleben schon auch, dass es für manche Menschen eine Zumutung ist.
Daniel Barth: Am Anfang überwiegt oft das positive Gefühl, nun selber machen und entscheiden zu dürfen. Wenn aber deutlich wird, dass es natürlich eine Verpflichtung dem Team gegenüber gibt, dass das, was entschieden wurde, auch funktionieren muss, und es immer noch eine Art von Sanktion gibt, wenn Commitments nicht eingehalten werden, dann merken manche, dass das gar nicht so einfach ist. Isabela hat davon gesprochen, dass man befähigt wird zu Selbstorganisation. Das heißt, man muss auch in der Lage sein, selbstorganisiert zu handeln.
Das Interview haben wir telefonisch in einer Telefonkonferenz geführt.
Zitate
"Auch populäre Methoden wie Scrum oder Design Thinking sind erst einmal im operativen Raum aufgehängt." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Wenn jeder im Unternehmen sich mehr einbringen soll, dann muss auch mehr Partizipation möglich sein." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Wenn Menschen aufeinandertreffen, können vielfältigste Dynamiken entstehen, die wir nicht planen oder antizipieren können." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Strukturelle Veränderungen sind meist Veränderungen des Zuschnitts der Organisation von oben herab. Die Art und Weise, wie gearbeitet wird, verändert sich dagegen überhaupt nicht." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Bei klaren Rahmenbedingungen und stabilen Verhältnissen kann es wunderbar funktionieren, dass jemand eine Ansage macht, die andere auszuführen haben, und es einen Prozess gibt, der sicherstellt, dass am Ende das gewünschte Ergebnis herauskommt. Aber das funktioniert nicht mehr in dem komplexen Umfeld, in dem viele Organisationen sich heute befinden. Dann wird es wichtiger, dass Dinge dezentral und selbstorganisiert passieren." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Ständiges Hinterfragen ist eine der Grundvoraussetzungen für ein zukunftsbereites Unternehmen. Oder allgemeiner: das Bewusstsein, dass alles in Bewegung ist und auch immer in Bewegung sein wird." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
Veränderung in Organisationen I: "Was wäre, wo wir jetzt gerade stehen, als Experiment denkbar? Was sind mögliche nächste Schritte?" Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
Veränderung in Organisationen II: "Welche Werkzeuge können wir ausprobieren, um die nächsten kleinen Schritte zu gehen?" Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
Veränderung in Organisationen III: "Wir wissen noch nicht, wie das Ziel aussieht. Wir sind so flexibel und offen wie möglich, einen Weg zu finden." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Zukunftsbereite Organisationen sind stärker selbstorganisiert als die meisten Organisationen heute. Sie arbeiten mit mehr Elementen von Selbstorganisation. Ganz einfach deswegen, weil selbstorganisiertere, dezentralere Organisationen mit steigender Komplexität besser umgehen können." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Selbstorganisation ist kein Selbstzweck. Es ist nicht bloß schick und modisch, selbstorganisiert zu sein. Im Vordergrund steht ganz klar, schnell und flexibel auf Veränderungen reagieren zu können. Und dazu braucht es ein größeres Maß an Selbstorganisation in größeren Teilen der Organisation." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Selbstorganisation heißt, dass ein Team oder eine Organisationseinheit, also eine ganze Gruppe von Menschen, die sich um einen Inhalt oder um ein Feld von Inhalten kümmern, innerhalb ihres Teams Entscheidungen treffen können, ohne dass es eine von außen einwirkende Person oder einen Agenten gibt, der diese Entscheidung vorgibt oder beeinflusst." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Selbstorganisation versucht, Rollen unabhängig von den Menschen und von den Positionen zu definieren." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
"Ich glaube, die meisten Menschen empfinden es als etwas sehr Positives, wenn sie mehr Einflussmöglichkeiten und mehr Eigenverantwortung haben. Aber wir erleben schon auch, dass es für manche Menschen eine Zumutung ist." Florian Rustler: Ganzheit der vier Räume
"Um die Komplexität von Unternehmen zu beschreiben, verwenden wir das Modell der vier Räume. Es macht deutlich, dass die Komplexität eben nicht nur den operativen und den strukturellen Raum betrifft, von denen meistens die Rede ist, sondern auch den individuellen und den zwischenmenschlichen Raum, wo es um das menschliche Miteinander geht. Mit diesen vier Räumen zielen wir auf die Ganzheit des Unternehmens ab." Interview Florian Rustler, Nadine Krauss, Daniel Barth und Isabela Plambeck: Ganzheit der vier Räume
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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