Nennen wir sie Greta

Jugendforscher Klaus Hurrelmann über die "Generation Greta" und die Auswirkungen der Coronakrise auf die Generationenbildung
Interview: Winfried Kretschmer

Die Generationenbezeichnungen bisher waren Metaphern: X für die rätselhafte, undurchschaubare Generation der Nach-Babyboomer, Y für das Why, das Warum als herausragendes Merkmal der vor 2000 Geborenen. Z fällt da aus dem Rahmen: ein Buchstabe, mehr nicht. Ein Buch plädiert für eine Umbenennung, eine neue Metapher: "Greta" für die neue, politische Generation der Klimaaktivistinnen.

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Jugendforscher Klaus Hurrelmann plädiert nun erneut für eine Metapher: "Greta" für die neue, politische Generation der Klimaaktivistinnen. 

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist der wohl bekannteste Kindheits- und Jugendforscher in Deutschland. Er ist seit 2009 Senior Professor an der Hertie School of Governance in Berlin. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Sozialisation, Bildung und Gesundheit von Kindern in Familien und Schulen. Zusammen mit dem Journalisten Erik Albrecht plädiert er dafür, die neue, junge, bislang mit Z bezeichnete Generation die Generation Greta zu nennen, so der Buchtitel. Nach dem über die Generation Y (Die heimlichen Revolutionäre) ist es ihr zweites gemeinsames Buch.
 

Herr Hurrelmann, bislang wurde die neue junge Generation mit dem Buchstaben Z bezeichnet. Sie nennen sie nun die Generation Greta. Was führt Sie zu dieser Umbenennung? 

In der Generationenforschung herrscht Übereinstimmung, dass die jungen Menschen, die seit 2000 geboren wurden, sich deutlich von den vor 2000 geborenen unterscheiden, der sogenannten Generation Y. Statt dem bisherigen Muster zu folgen, nach dem auf die Generation Y die Generation Z folgt, wählen wir eine Bezeichnung, die eine symbolische Bedeutung hat: Nennen wir sie die Generation Greta.
 

Was spricht für diese Bezeichnung? 

Sucht man nach einem Bild, einer Metapher für diese neue Generation, bietet sich die Umweltbewegung an. Der Klimawandel beschäftigt die jungen Leute sehr stark. Mit der Klimafrage ist ihr politisches Interesse gewachsen. Und Greta Thunberg hat die Bewegung Fridays For Future, die Formen des Protestes und der Auseinandersetzung mit Themen ganz deutlich geprägt. Wir geben also der Generation Z - das ist sozusagen die Ordnungsbezeichnung - einen inhaltlichen, symbolhaften Namen, so wie es auch bei den meisten Generationen davor der Fall war.
 

Dennoch: Was spricht gegen Generation Z? Der Begriff schließt intuitiv an Generation Y an. 

Es spricht gar nichts dagegen, es folgt dem Alphabet, aber es passt nicht. Es ist an der Zeit, nach einem Begriff zu suchen, der bildhaft beschreibt, was typisch, auffällig, prägend ist für diese jungen Leute, die nach 2000 geboren wurden. Und das ist eindeutig diese starke Politisierung, die Betonung von Klima- und Umweltthemen, auch im Eigeninteresse als junger Generation, verbunden mit dem Aufruf zu einer gemeinsamen Vorgehensweise, zur Solidarität.
 

Wie unterscheiden sich die Ausgangsbedingungen, die die beiden Generationen vorfanden und die sie prägten? 

Die Generation Y, vor 2000 geboren, hatte keine Sicherheit, in Ausbildung und Beruf hineinzukommen. Die wirtschaftliche und politische Lage war unkalkulierbar. Das prägt junge Leute und macht sie suchend, kritisch, taktierend, sondierend: Schauen, wo man bleibt. Dies wird symbolisiert von dem Fragezeichen, dem Warum als herausragendem Merkmal der Generation Y. Die nach 2000 Geborenen hingegen hatten eine ausgezeichnete wirtschaftliche Perspektive. Sie konnten sehr sicher sein, in Ausbildung und Beruf zu kommen. Das ist wohl der Grund, dass sie sich nicht mehr so stark um sich selbst kümmern, um ihre eigenen Interessen. Diesen Zusammenhang findet man auch in früheren Generationen.
 

Kann man sagen, dass sich das Eigeninteresse jetzt in das Politische wendet? 

Ja. Wie bei der Generation Y steht auch bei der Generation Z oder Greta selbstverständlich das Interesse am Überleben im Vordergrund. Aber es richtet sich nun nicht mehr vorrangig auf das persönliche Fortkommen. Wenn die jungen Leute bei ihrer eigenen, persönlichen Planung nicht zittern müssen, ob sie in Ausbildung und Beruf kommen, dann ist der Kopf frei, um sich um das zu kümmern, was wirklich existenziell bedrohend ist. Das ist die Klimafrage. Also ein Eigeninteresse bei beiden Generationen - natürlicherweise, wie immer bei einer jungen Generation -, aber in sehr unterschiedlicher Gestalt.
 

Inwieweit spielt die Erfahrung einer hochkomplexen Wirklichkeit für die beiden Generationen eine Rolle? 

Die Generation Y war die erste Generation, die erlebte, dass alles möglich, aber nichts sicher ist. Dass man sein Leben nicht planen kann, sondern tentativ tastend, sondierend gucken muss, welche Chancen sich situativ ergeben, und diese opportunistisch nutzen muss. Solch eine Grundhaltung gibt es bei der Generation Z/Greta nicht mehr, weil sie durch das Umweltthema ein anderes Handlungsmuster internalisiert hat. Diese Generation stellt eine Entscheidung in den Vordergrund, die alle anderen Komplexitätsentscheidungen als nachgeordnet erscheinen lässt: die umweltpolitische Relevanz. Sie hat sozusagen ein Entscheidungskriterium gefunden, um die Komplexität von Handlungsmöglichkeiten und Lebensoptionen zu reduzieren. Hier kann man den Unterschied zwischen diesen beiden Generationen deutlich sehen.
 

Sie sagen: Klima ist erst der Anfang. Wird die Politisierung auf andere Themen ausstrahlen? 

Unsere Prognose in unserem Buch ist, dass die starke Politisierung und die damit einhergehende Kompetenz, sich Gehör zu verschaffen, sich über Umweltthemen hinaus ausbreiten werden. Aber in der Coronakrise läuft diese Ausweitung nicht so glatt ab, wie ich es mir vor Corona vorgestellt hatte. Aber ich will bei der Hypothese bleiben. Eine so politisch engagierte junge Generation wird sich nach kurzer Pause wieder zu Wort melden. Sie fängt ja bereits an. Möglicherweise zeichnet sich in den aktuellen Bewegungen gegen Diskriminierung und Rassismus bereits ein neuer inhaltlicher Trend ab.
 

Diese Generation erlebt eine Überlagerung von Krisenerfahrungen: zunächst die Klimakrise, dann die Coronakrise. Wie geht eine Generation mit so einer Erfahrung um? 

Wie die junge Generation auf die derzeitige Krise reagieren wird, kann man erst in zwei, drei Jahren sagen. Wir wissen aus der Generationenforschung: Eine junge Generation lässt sich nicht durch die unmittelbare Situation beeinflussen. Sie reagiert nicht sofort, sondern immer mit einem Zeitverzug. So wird die jetzige junge Generation erst einmal beobachten: Was bedeutet das für uns? Kommen wir in Ausbildung und Beruf? Werden wir von Arbeitslosigkeit betroffen sein? Das ist noch nicht absehbar, aber davon wird es abhängen.
 

Wird die Krise in der Wahrnehmung junger Generationen zum Normalzustand? 

Diese Generationen sind krisenerprobt. Sie sind groß geworden in einer Zeit, in der man sein Leben nicht mehr planen kann, wo Unsicherheit herrscht. Wenn junge Leute so groß geworden sind, kann man davon ausgehen, dass ihre Grundbereitschaft und ihre Grundfähigkeit, mit Unsicherheiten und mit Krisen umzugehen, sehr ausgeprägt sind. Sie sind im Krisenmodus groß geworden.
 

Wird sich durch die Coronakrise eine neue Generation formieren? 

Diese tief greifende Krise spricht dafür, bei der Generationenforschung einen Schnitt zu machen. Wenn junge Leute in der formativen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung eine so epochale Krise erleben, dann müssen wir damit rechnen, dass sich auch eine neue Generation bildet. Wir werden in einigen Jahren sehen, wie sie das verarbeiten und welche Spuren es hinterlässt. Die Ereignisse - politische, kulturelle, wirtschaftliche, technische - sind es, die Generationen prägen. Entscheidend dabei ist, ob sich in einer Krise Unterschiede in den wirtschaftlichen und den beruflichen Zukunftsperspektiven der jungen Leute auftun. Auf dieser Ebene entwickeln sich die Generationenmuster. Denn für junge Menschen ist die zentrale Frage, wie sie in die Gesellschaft hineinkommen und dort einen Platz finden können.
 

Zum Schluss: Sie schreiben, Jugendforschung ist Zukunftsforschung. In der jungen Generation bildet sich bereits ab, was die Zukunft prägen wird? 

Man kann bei den jungen Leuten erkennen, welches die wichtigsten Herausforderungen für die Zukunft sind. Es ist ein seismografisches Verhalten, das junge Leute ganz naturgemäß mitbringen. Deswegen ist Jugendforschung immer auch ein Stück weit Zukunftsforschung.
 

Das Interview ist die Kurzfassung eines längeren Gesprächs, das im Magazin erschienen ist. Es wurde per Telefon geführt. 


changeX 29.08.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Beltz Verlag, Weinheim Basel 2020, 271 Seiten, 19.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-86623-3

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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