Benchmark Yourself
Big Data hat den Gesundheitssektor erreicht. Nie zuvor gab es so viele Möglichkeiten, Daten zu sammeln und auszuwerten, wie heute. Die Biodaten-Begeisterung hat das Potenzial, eine der größten Branchen der Welt tief greifend umzuwälzen. Ein Beitrag aus GDI Impuls 2.14.
Heute Abend ist jeder Platz belegt. Max interessiert sich für Blood-Tracking. Mika will wissen, welche neuen mobilen Tools es gibt. Tom möchte mehr über Bewegungsdaten erfahren. Und Nico fragt sich: Können Tracking-Tools tatsächlich zu einem gesünderen Lebensstil motivieren?
Pst, es geht los. "Der Markt für Wearable Computers wächst rasant", verrät der junge Mann auf der Bühne. Besonders die Deutschen lieben die digitale Selbstvermessung. Das zeigen Statistiken des Selftracking-Anbieters Noom. 57 Mahlzeiten zeichnen deutsche User auf Diätkurs über die Ernährungs-App auf, Amerikaner haben schon nach 30 Mahlzeiten genug, Koreaner geben nach 21 auf. "Wir lieben eben die genaue Planung." Gut, dass die Technik immer smarter und schicker wird. Socken mit Sensoren, im Ohr versenkbare Mikro-Tracker, Armbänder, schlaue Matratzen, Uhren, Pflaster, Implantate. Längst messen, analysieren und zeichnen sie nicht nur mit. Sie sprechen sich zunehmend ab und machen uns Druck. Piepend, vibrierend, unnachgiebig. Los, raus aus dem Sessel! Beweg dich! Sitz gerade! Trink noch was!
Digitale Erfassung
Berlin-Schöneberg, ein Mittwoch im Mai. Im "Hubraum", einer jener New Silicon Valley Locations aus rohem Backstein, Kalkwänden und Retromobiliar in der deutschen Hauptstadt, sitzen gut 60 Mitglieder der Berliner Gruppe Quantified Self (QS) zum Talk beisammen. Heute: "Personal Data meets Big Data". Wie lässt sich die Flut an persönlichen Daten nutzen, die über neue Apps, Sensoren und Co. Millionen Menschen automatisch über sich sammeln können? Zum Beispiel in der Medizin. Was bringt es, Schlafqualität, Herzschlag, Blutdruck, Schritte und Stresssymptome zu messen?
Einmal im Monat treffen sich hier die Self-Quantifier zur Inspiration. Mal geht es um die Möglichkeiten zur Selbstdiagnose. Mal um Verhaltens-Monitoring im Alltag. Mal um datenbasierte Experimente an sich selbst. "Die Daten aus den technischen Tools allein bringen meist wenig", sagt Florian Schumacher, der junge Mann von der Bühne. "Viele Zusammenhänge müssen wir selbst herstellen, um aus den Messwerten Nutzen zu ziehen." Schön, wenn eine Schlafkurve Dauer und Intensität des Schlafes dokumentiert. Aber wie kann ein Self-Quantifier, der sich nachts unruhig im Bett wälzt, seine Schlafqualität verbessern? Welche Auswirkungen haben etwa mehr Bewegung oder ein Nahrungsergänzungsmittel? Schumacher: "Mit Selftracking können wir neue Zusammenhänge aufdecken, die uns im Alltag helfen. Wir lernen etwas über uns selbst."
Vor zwei Jahren hat Schumacher die QS-Gruppe gegründet. Menschen, die sich selbst tracken, messen, digital erfassen. Beim Arbeiten, Joggen, Essen, Schlafen, Leben. 700 Mitglieder sind es in Berlin, einige Tausend in Deutschland. Regelmäßig hält sie Schumacher in einem Blog auf dem Laufenden, als Trendscout und Konzeptioner berät er Hersteller. "Das Thema ist längst aus der Nische raus."
Florian Schumacher schwört selbst auf die digitale Vermessung. Vor vier Jahren fing er mit Sport-Apps zur Leistungsmotivation an. Innerhalb von drei Jahren hat er seine tägliche Schrittzahl so von 5.000 auf 10.000 verdoppelt. Hat den persönlichen Kosten-Nutzen-Effekt unterschiedlicher Diäten ermittelt. Low Carb war zu aufwendig, High Fat in der Bilanz optimal. Morgens rührt sich der 34-Jährige nun einen Kaffee mit Butter und Kokosfett an. Ein perfekter Start in den Tag. Er hat abgenommen, sein Krafttraining optimiert und achtet sorgfältiger auf regelmäßigen Schlaf. Seit er die Sensoren von Basis-Band mit ins Bett nimmt, die Puls, Wärmestrom und Hautwiderstand checken und einmal die Woche eine Grafik in die Mailbox schicken, Tiefschlafphasen inklusive, erfährt er genau, wo er sich etwas vormacht - und kann gegensteuern. "Fakten in Form von Zahlen schärfen das Bewusstsein", sagt Schumacher, "und bewusstere Entscheidungen sind ein wichtiger Beitrag zur Krankheitsprävention."
Bio-Sensoren
Big Data hat den Gesundheitssektor erreicht. Nie zuvor gab es so viele Möglichkeiten, Daten zu sammeln und auszuwerten, wie heute. Der technische Fortschritt in der Sensortechnik und das Wachstum des mobilen Internets treiben die Entwicklung an. Sony, Samsung, Huawei, Intel - alle großen Elektronikunternehmen haben Bio-Sensoren im Angebot. Hundert Millionen sind 2013 verkauft worden, die Wachstumsraten liegen bei 60 Prozent im Jahr. Beflügelt von den neuen Möglichkeiten, greifen die Menschen zu. Was vor vier Jahren als Spiel technikverliebter Fitness-Freaks in der San Francisco Bay begann, erobert langsam die Masse. "Immer mehr Menschen möchten sich selbst überwachen", beobachtet Laurence Jacobs, Research Scientist an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. "In sich reinhören und an der Psyche doktern war gestern", sagt Tobias Neisecke. Er ist Health-2.0-Spezialist und unterstützt die Internetkonferenz re:publica bei der Zusammenstellung der Gesundheitssektion. "Heute gilt die Aufmerksamkeit dem Körper als Maschine, der vermessen, getunt und zukunftsfest gemacht werden soll." Benchmark yourself. Leben und Gesundheit sollen kontrollierbar und voraussagbar werden. Wer weiß, an welchen Schrauben er drehen muss, hat das Schicksal im Griff, heißt das Mantra.
Nie zuvor hatten auch Institutionen, Forschungseinrichtungen, Spitäler so gute Möglichkeiten, Daten zu erfassen und in gewaltigen Banken zu sammeln - sofern der Datenschutz es zulässt. Gendaten, Abrechnungsdaten von Krankenkassen, epidemiologische Daten, Informationen über Krankheitsverläufe. Big Data und die neue Lust an der Selbstüberwachung könnten so in Zukunft Prognostik und Diagnose in der Medizin gewaltig verändern. Unerkannte Verlaufsmuster von Krankheiten werden leichter erkennbar, Vorhersagen über individuelle Risiken präziser möglich. Der Healthcare-Sektor steht vor einer Revolution.
Lifestyle-Navigator
Peter Ohnemus hat das schon seit Langem erkannt. Er ist Chef des Gesundheitsdatendienstleisters Dacadoo aus Zürich. "99 Prozent der Bevölkerung verstehen nicht, was ihr Arzt erzählt", schätzt Ohnemus. Mit einer einfachen Zahl will er für Verständlichkeit sorgen: dem Gesundheitsindex. Dafür erfasst die Dacadoo-App individuelle Gesundheitsdaten (zum Beispiel Blutwerte, Gewicht, Alter, Geschlecht), Informationen zu Lebensstil und psychischem Wohlbefinden. Mit Beratern von der ETH Zürich und dem Bostoner MIT hat die Dacadoo-Crew Kriterien und Messverfahren entwickelt und mit 80 Millionen Daten aus klinischen, pharmazeutischen Studien aus aller Welt abgeglichen. In Echtzeit spuckt die App auf dieser Basis den Gesundheitsindex aus, eine Zahl von 1 bis 1.000. Wer abends noch eine Runde joggen geht oder sich zu Yoga biegt, sieht, wie sich sein Index verändert, und sei es nur minimal.
"Je mehr Daten wir einspeisen können, desto aussagekräftiger ist der Index", so Ohnemus. Ende 2014 kommt ein Lifestyle-Navigator heraus, der den User zum gesundheitsfreundlichen Verhalten steuern soll. Vorsicht, Wassermangel, noch etwas trinken. Hallo, zu viel gesessen, spazieren gehen. Achtung, Blutdruck steigt, hinsetzen, durchatmen - oder ab zum Arzt, dem die Daten in Realtime verschlüsselt übermittelt werden. "Solche Tools können keinen Arzt ersetzen, aber gewaltige Kosten im Gesundheitswesen sparen", sagt Ohnemus. Das Potenzial ist enorm, sechs Billionen Dollar fließen weltweit in den Sektor. "Das digitale, Outcome-basierte Gesundheitswesen wird kommen. Und mit ihm der qualifizierte Patient, der selbst etwas für seine Gesundheit tut."
Chris Picaso ist so einer. Vor drei Jahren zeigte ihm sein Arzt die Rote Karte: "Wenn Sie so weitermachen, haben Sie bald Diabetes." Damals wog der Basler Krankenpfleger 100 Kilo. Er lud sich Dacadoo auf sein Handy, zeichnete Sportaktivität, Blutdruck und Gewichtsverlauf auf. Die Grafiken motivierten, ein sinkender Punktestand im Bewegungsprofil scheuchte den 31-Jährigen wieder auf die Laufbahn. Mit dem Stresstracker maß er eine Zeit lang seine Tagesstimmung. Heute wiegt Picaso nur noch 67 Kilo, gehungert hat er dafür nicht. "Ich habe das in den Griff bekommen." Zum nächsten Arztbesuch will er seine Daten mitnehmen.
Mit der Cloud ins Wartezimmer
In nicht allzu ferner Zukunft könnte es selbstverständlich werden, dass Patienten mit einem Stoß virtueller Langzeitdaten auf dem Smartphone oder in der Cloud ins Wartezimmer kommen. Schon lange gehören Langzeitmessungen zur Standarddiagnostik: Implantierte Schrittmacher, EKGs oder Blutdruckmesser sammeln und übermitteln Daten. Mit den neuen mobilen Technologien geht das leichter denn je. "In 20 Jahren lassen sich vermutlich sogar Nanomessgeräte per Spritze injizieren", meint Thomas Lüscher, Chefkardiologe am Universitätsspital Zürich. Dann können Ärzte Patientendaten online tracken und wenn nötig eingreifen. In Basel arbeitet heute schon ein medizinischer Beratungsdienst auf Basis computergenerierter Daten und von Telefonaten mit den Patienten. Sogar Rezepte ausstellen ist erlaubt - und umstritten. Lüscher: "Langfristig aber wird die datenbasierte, virtuelle Medizin kommen."
Die neuen Technologien mit ihrer Datenvielfalt könnten dabei auch den traditionellen Blick der Mediziner erweitern und die Wissenschaft auf eine neue Grundlage stellen. Martin Denz, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Telemedizin und E-Health, sieht darin eine gewaltige Chance. "Wir wissen viel zu wenig über die Normalwerte der Bevölkerung, weil wir unsere Erkenntnisse vor allem aus Patientenstudien im Universitätsspital ziehen", so Denz. "Wenn wir im großen Stil Daten über die Bevölkerung in ihrem alltäglichen Lebensumfeld bekämen, würden wir merken: Vielleicht gehen wir überraschend oft von falschen Annahmen aus."
Man könnte dafür Daten in großen Mengen erheben. Auf freiwilliger Basis, ohne Studiendesign und spezifische Fallgruppe. Ralf Belusa, selbst im Medizinbereich promoviert, sammelt solche Daten in seinem Start-up Hallo Doctor. Unter hallodr.com sieht der User, wie viele Menschen gerade krank sind, in welchen Ecken seiner Stadt, des Landes und der Welt die Krankheiten wüten und welche Symptome in den vergangenen 24 Stunden am schnellsten angestiegen sind. Von Durchfall über Bauchkrämpfe bis zu Chlamydien. Die Daten auf der offenen Austauschplattform kommen von den Usern selbst, langfristig will sie Belusa mit Informationen aus medizinischen Zentren, Pharmaunternehmen und Hochschulen ergänzen. 130 Millionen Daten stehen jetzt schon online, abgeglichen mit Geo-, Klima- und Umgebungsinformationen. "Die Auswertung so unterschiedlicher, gewaltiger Datenmengen erlaubt uns, Krankheitsverläufe ganz anders zu verstehen", so Belusa. Neue Korrelationen treten zutage, Muster werden erkennbar. Was hat die Entstehung von Schnupfenwellen mit dem Klima in der Stadt zu tun? Warum gibt es in Berlin im Mai mehr Gürtelrosen als im September in Zürich? Welche Medikamente helfen Diabetikern nicht, Allergikern aber sehr wohl?
Disease Map
Dass Belusa von manchen Medizinern heftigen Gegenwind bekommt, entmutigt ihn nicht. Keine validen Patientendaten, keine medizinischen Versuchsreihen? "Sicher, aber wir berücksichtigen mehr Parameter und haben mehr Patienten", so Belusa. "Durch die schiere Masse von Patientendaten lassen sich aussagekräftige Schlussfolgerungen ziehen und Tendenzen erkennen." Auch Patienten selbst sollen von seiner Disease Map lernen - indem sie leichter einschätzen können: Welche Krankheitsrisiken kommen als Nächstes auf mich zu? Worauf muss ich als Allergiker achten? Bei welchen Symptomen sollte ich zum Arzt gehen? Als eine Art Krankheits-Wiki für jedermann kann sie zum wirksamen Präventionshebel werden.
Es sei denn, sie verirren sich im permanent anschwellenden Datenwust. Was können Patienten mit den Daten anfangen? Inwieweit können sie damit umgehen? Welche Voraussagen daraus ableiten? Wie ihre Entscheidungen auf dieser Basis verbessern?
Die Chancen sind da: Der mündige Patient, der dank Big Data zum Experten seiner Krankheit wird. Der, motiviert und begleitet von neuen, spielerischen Techniken zur Selbstüberwachung, gesunde Lebensführung tatsächlich umsetzt. Der sich, ausgestattet mit mobilen Datenmessern, die ihn in Echtzeit mit Informationen über seinen Krankheitsstand versorgen, mit seiner chronischen Diabetes weitgehend selbst durch den Alltag steuern kann. Bislang freilich gibt es noch keine Studie, die nachweist, dass Patienten durch Selftracking-Apps oder elektronische Disease-Management-Systeme tatsächlich langfristig ihr Verhalten ändern.
Laien-Expertise
Die Risiken sind sichtbar: Beobachter der Szene wie der Berliner E-Health-Experte Tobias Neisecke haben schon erlebt, wie sich Patienten im Datenwust verhaken. Manche verfransen sich in einer Online-Parallelwelt, die sie ohne Ende mit neuen Informationen vollpumpt. Handeln auf eigene Faust, statt zum Arzt zu gehen. Verlieren sich in Foren oder holen sich Rat in Patienten-Communitys. Kreisen um die eigene Krankheit. Vermessen sich selbst und versuchen, eigene Schlüsse zu ziehen. Oft liegen sie damit falsch. Das fängt mit einfachen Dingen an. "Wer nichts über Abbauzeiten von Koffein weiß, liegt schon in der Interpretation von Zusammenhängen zwischen Kaffeekonsum und Schlafverhalten schnell daneben", so Neisecke. "Laien unterschätzen oft die Vielfalt der Faktoren, die Vorgänge im Körper beeinflussen."
Und überschätzen die Aussagekraft von Selbstüberwachungs-Gadgets, deren Qualität äußerst unterschiedlich ist. Erst neulich stolperte Neisecke über seltsame EKG-Werte, die eine Bekannte zufrieden auf Twitter postete: Den Arzt kann ich mir sparen. Bei genauerem Hinschauen erkannte er: Die Mikro-App hatte den Blutfluss im Finger durchleuchtet und damit die Pulswelle gemessen. "Für eine EKG-Kurve braucht man völlig andere Daten", sagt Neisecke. Zudem: "Um seriös zu messen, reichen meist keine einfachen Smartphones aus dem Consumer-Markt. Medizinische Messgeräte, die Daten aufs Handy schicken, sind in vielen Fällen unverzichtbar." Nicht umsonst gibt etwa das Nike-Fuelband nicht den Verbrauch in Kalorien an, sondern in einer eigenen Einheit, dem Fuel. Für Kalorienangaben ist es zu ungenau. Andere Tracker schließen von der Schüttelintensität des Handys auf körperliche Aktivität. Zehn Minuten Sit-ups zählt da nicht mehr als auf dem Sofa abhängen, zehn Minuten Rudern vielleicht ein wenig, zehn Minuten Seilspringen dagegen enorm. Mit dem realen Verbrauch hat das wenig zu tun.
Auch die Aussagekraft einzelner Prognosen ist unterschiedlich. So lässt sich recht gut vorhersagen, wie stark etwa ein Rauchstopp oder die Senkung des Blutdrucks die Wahrscheinlichkeit reduziert, in den nächsten zehn Jahren an einem Herzinfarkt zu erkranken. Doch ob der Konsum von zwei Salatköpfen pro Tag wirklich die Aussicht auf ein Kolonkarzinom reduziert, ist kaum mehr als Kaffeesatzlesen. "Viele Risiken sind multifaktoriell und bündeln sich", sagt der Kölner Biostatistiker Walter Lehmacher. Mit Wahrscheinlichkeiten können viele Menschen ohnehin nur wenig anfangen. "Statistical illiteracy", nennt das der Berliner Entscheidungsforscher Gerd Gigerenzer. "Wenn ich Patienten sage, ihr Risiko sei zweifach erhöht, an Darmkrebs zu erkranken, schauen sie mich meist groß an", bestätigt die Pharmakologin Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke. Und selbst wenn sie es verstanden haben, ist die Frage: Was fange ich damit an? Was kann ich überhaupt tun?
Krebsrisiko im Gentest
Selbst Mediziner kann das ins Schwitzen bringen. Der Arzt Harald Kamps hat im vergangenen Jahr den Selbstversuch gewagt. Ohne Vorerkrankungen, ohne konkrete Fragestellung. Bei der amerikanischen Online-Gendatenbank 23 and Me hat er für 99 Euro einen Gentest gemacht. Im Deutschen Ärzteblatt 22/2013 berichtet er von seinen Erfahrungen. In einigen Passagen ist es ein Dokument der Verwirrung, widersprüchlicher Daten und Empfehlungen. Er hat ein erhöhtes Diabetes- und Prostatakrebsrisiko, soll dagegen ausreichend Folsäure essen, aber sich vor Tabletten hüten, denn die erhöhten wiederum vielleicht das Risiko für Prostatakrebs. Vielleicht ist es aber doch nicht so schlimm, da dieser vor allem bei Männern mit einer Variante des Brustkrebsgens BRCA besonders bösartig verläuft, und die hat er nicht, zumindest nicht die drei häufigsten, die anderen - es gibt Hunderte - wurden nicht getestet.
Fazit: Ein bisschen mehr bewegen, etwas Spinat essen und darauf vertrauen, dass die Standardmedikamente bei Herzinfarkt und Diabetes bei ihm gut anschlagen. "Meine Genanalyse hat mir meine persönliche Situation nicht erklären können", schreibt Kamps. "Und das Prostatakrebsrisiko könnte mich verleiten, eine Vorsorgeuntersuchung durchführen zu lassen. Ich habe mich bisher gegen eine solche Untersuchung entschieden, da ich die Gefahren der Diagnose für größer halte als den Nutzen." Als Nichtmediziner hätte er das so nicht einordnen können. Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) hat die Risiken inzwischen erkannt. Seit November 2013 sind generelle Genanalysen über die Online-Plattform verboten.
Hausarzt-Renaissance
Martin Denz weiß, wie schwer vielen Patienten die Orientierung im Datengewirr fällt. Wenn Patienten mit fünf Kilo Ausdrucken aus der Internetrecherche und einer Liste von Statistiken zu ihm ins Krankenhaus kommen, setzt sich der Humanmediziner daher mit ihnen an den PC. "Das schmeißen Sie jetzt in den Müll, und wir suchen gemeinsam im Internet nach Informationen." Was will ich wissen? Wo finde ich aussagekräftige Daten? Wie kann ich sie einordnen? "Die Menschen brauchen einen ärztlichen ,Skyguide‘, der sie durch die Datenflut navigiert", sagt Denz. "Jemand, dem sie vertrauen. Wir müssen das alte Hausarztmodell wiederbeleben - der Arzt wird zum lebenslangen Gesundheitscoach." Das gilt bei der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten, der Beurteilung von Genanalysen ebenso wie für die Auswertung der Selbstbeobachtung. Denz: "Auch die Daten unseres Autos können wir schließlich nicht ohne Hilfe des Mechanikers richtig interpretieren." Oder, wie es Pharmazie-Professorin Thürmann formuliert: "Telemedizinische Devices können wir nicht verordnen wie eine Pille. Vor allem ältere Patienten können wenig damit anfangen, trauen sich aber nicht, nachzufragen. Die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation ist unverzichtbar."
Gerade in Praxen wie der von Elisabeth Gödde. Sie ist Professorin an der Universität Witten/Herdecke und Ärztin für Humangenetik in Recklinghausen, Genanalysen sind ihr Alltag. Zu ihr kommen Menschen, die es genauer wissen möchten und Entscheidungshilfe brauchen: Habe ich besondere genetische Risiken? Oft häufen sich bestimmte Krankheiten in der Familie. Diabetes, Darm- oder Brustkrebs etwa. Wenn Tochter und Nichte wissen wollen, ob sie ein erhöhtes Risiko haben, wie Mutter und Tante an Brustkrebs zu erkranken, erinnert sie daran: "Bitte machen Sie sich klar, dass es nur eine von ihnen treffen könnte. Und dass der Test nur Sinn macht, wenn Sie über die möglichen Konsequenzen nachgedacht haben." Welcher Art auch immer. Das kann eine Präventivoperation sein oder die Entscheidung zu intensiverer Vorsorge; eine neue Lebensplanung oder eine andere Einstellung zur Gegenwart. Will ich mich wirklich selbständig machen? Möchte ich Kinder bekommen, an die sich das genetische Risiko weitervererben könnte? Was ist mir wichtig im Leben?
"Patienten gehen sehr unterschiedlich mit Risiken um", sagt Gödde. "Wenn ich sage, Sie haben ein achtmal höheres Risiko als der Durchschnitt, diese spezifische Erkrankung zu bekommen, ist das für den einen viel, für einen anderen wenig." Wie beim Motorradfahren - die einen gehen das Risiko ein, den anderen ist es zu gefährlich. Gödde: "Mit persönlicher Begleitung lernen die meisten Getesteten nach dem ersten Schock, gut mit schlechten Nachrichten umzugehen, und treffen erhobenen Hauptes ihre weiteren Entscheidungen."
Genprofil-Plattform
Gendaten sind ein großes Potenzial für Big Data. Breit angelegte Genuntersuchungen könnten etwa Dispositionen für Krankheiten offenlegen, deren genetische Grundlagen lange nicht im Visier waren. Rechtliche Fragen sind dabei freilich noch ungeklärt. Welche Daten sind geschützt? Welche dürfen unter welchen Bedingungen genutzt werden? Und was ist mit Plattformen voller Patientendaten - von Genprofilen bis zu Krankheitsverläufen -, die Betroffene freiwillig füttern - in der Hoffnung, dass es ihnen eines Tages nützt. "Die meisten Daten sind in der klinischen Anwendung stark geschützt", sagt Effy Vayena, Senior Research Fellow am Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich. "Sobald sie von Patienten online gestellt werden, bewegen wir uns in einer Grauzone des Gesetzes." Die kommerziellen Plattformen bedienen sich der Daten und verdienen Geld damit. Wofür, weiß der Patient nicht. Anbieter wie Open SNP, die Patientendaten auf freiwilliger Basis der Forschung zur Verfügung stellen, sind die Ausnahme. Vayena fordert deshalb: "Wann immer wir Daten für Prognosen verwenden, müssen wir absolut transparent machen, welche Daten wir nutzen und woher wir sie haben." Im Sommer wird die Europäische Union über ein Gesetz entscheiden, das die Datennutzung auch durch die Forschung entscheidend einschränken könnte, die Data-Protection-Regulation. Vayena: "Für Big Data kann das eine große Bremse werden."
Computermedizin
Doch erst die heutigen (oder morgigen) gewaltigen Datensätze mit einer Vielzahl von Parametern vermögen Muster aufzudecken, die bislang verborgen blieben. Nach Einschätzung von Laurence Jacobs von der Universität Zürich hat Big Data das Potenzial, die Prognosen in der Medizin so gewaltig zu verändern, dass kein Datenschutz die Entwicklung langfristig aufhalten kann. "Zwar haben im Moment alle noch Angst, die Daten würden gegen sie verwendet. Doch wir sind einfach gewöhnt daran", sagt Jacobs. "Schon aus ökonomischen Gründen kommen die Gesundheitssysteme nicht daran vorbei."
Mehr noch: Auch die medizinische Profession werde sich rasant wandeln. Während die Zunft traditionell sehr spezialisiert in Fachdisziplinen arbeitet, könnte sich das in Zukunft radikal ändern. Jacobs: "Die komplexe Maschine namens Big Data wertet Daten aus allen Fachbereichen und allen Teilen des Körpers aus - sie könnte die traditionellen Vorgehensweisen der Medizin gründlich auf den Kopf stellen." An der Universität Zürich diskutieren die Experten bereits über Konsequenzen: Wie wäre es mit einem fachübergreifenden Lehrstuhl - in Computerial Medicine?
Der Beitrag ist erschienen in GDI Impuls 2.14, S. 14-21
changeX 11.12.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.