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Das Klima und du

Ein Report und eine Rezension über den Wandel beim Klimawandel
Von Winfried Kretschmer

Ändert sich da gerade etwas in Sachen Klimawandel? Verändert sich die Art und Weise, wie über dieses Thema gesprochen wird? Täuscht es oder wird zunehmend über den eigenen Beitrag zu dem ganzen Schlamassel gesprochen? Über die eigenen Emissionen und die eigene Lebensweise? Gibt es vielleicht eine Erkenntniswende, die die persönliche Verantwortung für das eigene Handeln an die Seite der staatlichen Verpflichtung stellt? Und zwar nicht mehr nur in den ökologisch bewegten Teilen, sondern in die Mitte der Gesellschaft hineinwirkend? Ein Buch steht für diesen Shift im Denken. Unser Beitrag stellt es in einen weiteren Rahmen.

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Franz Josef Radermacher hat recht. So richtig bekannt ist die Sache mit der Klimaneutralität hierzulande noch nicht. Die Idee also, als Person, als privater Haushalt, als Unternehmen oder Organisation seine selbst verursachten Emissionen durch Spenden respektive Investitionen in Klimaschutzprojekte zu kompensieren und sich so klimaneutral zu stellen. Zwar sieht das Umweltbundesamt Klimakompensation im Kommen und vermerkt Wikipedia, 60 Prozent der Deutschen sei die Möglichkeit der Kompensation bekannt und zehn Prozent hätten selbst schon davon Gebrauch gemacht. Aber wirklich in der Gesellschaft angekommen ist die Sache offenkundig noch nicht. Mainstream ist Kompensation sicher nicht. 

Die Frage ist: Wie steht es um Klimakompensation und Klimaneutralität? Oder allgemeiner um die Haltung der Menschen zur Klimafrage? Ein paar Beobachtungen.


Kompensation im Kommen


Zunächst ist die Informationslage eher unübersichtlich. Wer Orientierung sucht, muss sich selbst orientieren. Und sich durch die Webseiten der insgesamt 27 Anbieter von Kompensationsdienstleistungen und die Testberichte zum Beispiel in Finanztest und auf Utopia klicken. Fündig wird man auch beim Umweltbundesamt und der dortigen Deutschen Emissionshandelsstelle (DEHSt), wo sich auch Informationen über Kompensation in der Praxis finden. Aber eine populäre praktische Anleitung - vielleicht im Stil von "30 Minuten Klimakompensation" oder "Klimaneutral für Dummies" - gibt es nicht, weder im Web noch als Buch. 

Und manche Umweltorganisation versteckt die Möglichkeit der Kompensation verschämt auf den hinteren Seiten. Naturefund zum Beispiel, im Buch von Radermacher vorgestellt (und vor Jahren auch von changeX in einem Beitrag über die Gründerin Katja Wiese), stellt die Spende für Naturschutz mittels Ankauf ökologisch wertvoller Flächen wie Moore, Feucht- und Trockenwiesen oder Streuobstflächen klar in den Vordergrund. Die mit der Förderung dieser Projekte verbundene Möglichkeit der Kompensation aber wird ausgeblendet; sie findet sich versteckt hinter einem Link zu einer externen Seite. 

Kompensation haftet noch das Stigma des Ablasshandels an. Wer kompensiert, kauft sich gutes Gewissen. Solche Vorbehalte sind im Schwinden. Die Klimaschützer sind sich weitgehend einig, dass Kompensation ein sinnvolles Instrument ist - allein schon deshalb, weil es bei einem System (wie der Erde) egal ist, an welcher Stelle Emissionen reduziert werden. Die Wirkung schlägt immer im Gesamtsystem zu Buche. Hier enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. 

So kritisiert Radermacher die Dominanz des Klimadreiklangs "vermeiden, reduzieren, kompensieren" - die Ansage also, Klimaschutz habe eben in dieser Reihenfolge zu passieren: Nur wer Emissionen vermeidet und Energie einspart, darf daran denken, seine nicht weiter vermeidbaren Emissionen zu kompensieren. Radermacher hingegen will dieses Junktim über Bord werfen. Er plädiert (siehe unser Interview) für den Vorrang für Kompensation und für eine massive Investition in Klimaschutzprojekte. Und zwar dort, wo die Effizienz am größten ist, in Afrika zum Beispiel, wo vielfach noch wie seit jeher das Holzkohlefeuer zum Kochen dient. Entsprechend groß sind dort die Potenziale, mittels moderner Technik Emissionen einzusparen. 

Andere, wie Claudia Kemfert vom DIW, setzen hingegen in erster Linie auf eine Energiewende im Lande. Und die von Radermacher angegriffene Priorität des Einsparens gilt offiziell nach wie vor als Fundament jeglicher Klimapolitik. "Die freiwillige Kompensation von Emissionen rückt stetig weiter in das Bewusstsein von Privatpersonen und Unternehmen oder auch der öffentlichen Verwaltung. Dennoch gilt, dass die Vermeidung und Reduzierung von Emissionen stets Vorrang hat", bekräftigt Frank Wolke, Leiter des Fachgebietes für internationale Klimaschutzprojekte in der Deutschen Emissionshandelsstelle im Umweltbundesamt, die Position seines Hauses.


Vorrang für vermeiden oder kompensieren?


Vorrang für vermeiden oder für kompensieren also? Das ist die Scheidelinie. Doch wie es scheint, wird sie durchlässig. Zum einen beginnt sich Kompensation durchzusetzen und wird salonfähig. So hat sich der Anteil der durch freiwillige Kompensation stillgelegten Emissionszertifikate nach Angaben des Umweltbundesamtes zwischen 2012 und 2016 verdoppelt: von 3,3 auf 6,6 Millionen Tonnen CO2. Gemessen an der Gesamtemission von 906 Millionen Tonnen in Deutschland (ebenfalls im Jahr 2016) ist das zwar nur ein verschwindend geringer Anteil, aber die Kompensation ist auch noch ein vergleichsweise junges Instrument. Mit ihrer Verbreitung wird Kompensation aber zu einer eigenen Praxis, die nicht zwingend an Vermeidung gekoppelt ist. 

Zum anderen entdecken Unternehmen zunehmend den Klimaschutz als Mittel, um sich auf dem Markt von den Mitbewerbern zu differenzieren, und unterlaufen die bislang akzeptierte Regelung, wonach nur nicht vermeidbare Emissionen als kompensierbar gelten. Von geschicktem Marketing getrieben, weicht der Dreiklang zunehmend auf. So werben Flüssiggasanbieter mit klimaneutralem Gas - klimaneutral natürlich nicht physisch, sondern per Kompensation. Zunehmend wird dem Erdgas auch Biogas zugesetzt, zunächst in eher geringen Mengen, die Botschaft aber kommt an: Gas ist irgendwie fast schon bio (sagt zum Beispiel unser Installateur). Es gibt auch CO2-neutrale Leasingfahrzeuge (gegen Aufpreis); auch der Porsche Cayenne ist CO2-neutral zu haben; eine Fluggesellschaft suggeriert ihren Kunden, direkt mit ihrer Flugbuchung die Umwelt zu schützen; und ein Ölunternehmen bietet eine Klimacard mit einem Klimaschutzbeitrag je getanktem Liter Sprit. 

Zudem: All diese Kompensationsleistungen fließen in Baumpflanzprojekte. Das schaut schön grün aus auf der Website und beruhigt das Gewissen, dem Klimaschutz aber nützt es wenig - respektive nur mit gewaltigem Verzögerungseffekt: weil frisch gepflanzte Bäume Jahre brauchen, bis sie nennenswert CO2 aus der Atmosphäre binden. Darauf verweist etwa der kritische Watch-Blog Klima-Luegendetektor.de, der zahlreiche fragwürdige Kompensationsprojekte auflistet. Greenwashing als der Versuch von Unternehmen, auf den grünen Trend aufzuspringen, ist seit bereits mehr als zehn Jahren in der Diskussion, und erlebt nun ein Revival unter dem Vorzeichen Klimaschutz. Aber Greenwashing ist immer auch ein Beleg für die Relevanz des Trends, an dem Unternehmen zu partizipieren suchen. Und nun ist Klimaschutz der Trend. 

Zwischenfazit: Klimaschutz ist im Trend. Kompensation nimmt zu. Zugleich wird dabei der traditionelle Vorrang der Emissionsvermeidung aufgeweicht. Das wäre die erste Beobachtung. 

Fragt sich nur, ob dies Ausdruck einer tiefer gehenden gesellschaftlichen Veränderung, eines tiefer gehenden gesellschaftlichen Wandels ist. Einer Verschiebung im Mindset der Menschen vielleicht.


Der eigene Beitrag


Also: Verändert sich da gerade etwas? Ändert sich die Art und Weise, wie über den Klimawandel gesprochen wird? Seit einiger Zeit und verstärkt nach der Klimakonferenz in Kattowitz? 

Ganz plakativ gesagt: Wenn es ums Klima geht, regierte bislang ein kollektiver Imperativ: Die Staaten müssen es richten. Sie müssen sich auf globale Klimaziele verständigen, die den Temperaturanstieg auf zwei, besser noch eineinhalb Grad begrenzen. Das ist das große Rad, das zu drehen ist. Doch reicht das? Ist das alles? Allmählich, so der Eindruck, beginnt sich die Perspektive, die Form der Thematisierung zu ändern. Und rückt anstelle des kollektiven Wir das Ich in den Mittelpunkt: Was ist mein Beitrag zu dem ganzen Schlamassel? 

Kein geringer auf jeden Fall. Elf Tonnen Treibhausgasemissionen verursacht jeder Bundesbürger pro Jahr. Für eine davon kann er nichts. Eine Tonne, das ist der Staatsanteil: die Treibhausgase, die durch staatliche Tätigkeiten in Verwaltung, Infrastruktur und Bildung anfallen. Andere außerhalb des eigenen Einflussbereichs liegende Faktoren mögen hinzukommen. Viele sind auf dem Weg zur Arbeit auf das Auto angewiesen, viele wohnen in Mietwohnungen, wo sie auf Dämmung und Heizung keinen Einfluss haben. Dennoch bleibt von diesen elf Tonnen ein beträchtlicher Anteil, der von der persönlichen Lebensgestaltung abhängt: ob und wie viel jemand fliegt, ob er oder sie mit dem Auto fährt, mit der Bahn oder dem Fahrrad, ob sie oder er Fleisch isst, regionale und saisonale Produkte kauft, Energie spart oder nicht … und so weiter. Es sind auch eigene Entscheidungen, von denen die Höhe der persönlichen Emissionen abhängt. Wie damit umgehen? 

Die Antwort war bislang gleichbedeutend mit der Entscheidung für einen Lebensstil, vielleicht sogar der Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu: Öko, ja oder nein? In der Ökoszene bilden die Frage nach dem eigenen Beitrag und die Forderung nach einer Änderung der persönlichen Lebensweise, des Einkaufs- und Konsumverhaltens seit jeher eine Grundkonstante des Mindsets. Öko ist nie abstrakt, sondern immer auch eine Frage der Lebensweise.


Die wirkungsvollsten Klimatipps


Eine Suche im Angebot auf dem Buchmarkt ist immer ein guter Indikator für Themen und Formen der Thematisierung. Zwei Beispiele in unserem Kontext. 

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Da sind zum einen die Klimasparbücher aus dem Münchner oekom verlag, die es für eine Vielzahl von Städten in Deutschland gibt. Über 40 Städte und Kommunen sind es nach Angaben des Verlags mittlerweile. Die Reihe erreicht damit eine recht beachtliche Breitenwirkung, zumal es in vielen Städten bereits mehrere Auflagen gibt, zehn sind es zum Beispiel bei der Frankfurter Ausgabe. Ein "handlicher, praxisorientierter Ratgeber und Stadtführer für den Klimaschutz vor Ort" will das Klimasparbuch sein. Neben praktischen Tipps zu Klimaschutz im Alltag enthalten die Bücher auch Gutscheine und Rabattangebote für umweltfreundliche Produkte. Die Reihe will so zu einer klimaschonenden Lebensweise anregen, bedient damit aber letztlich doch nur die Klientel der bereits überzeugten Ökos. Klimakompensation übrigens ist in den Büchern auch ein Thema - dem Dreiklang folgend auf Platz zehn der Top Ten der wirkungsvollsten Klimatipps. 

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Zweitens ist da ein Buch, das nicht von innen, aus der ökologischen Szene kommt, sondern sich von außen annähert - und genau deshalb interessant ist: Louisa Dellert mit Mein Herz schlägt grün. Dellert ist Influencerin, was heißt, dass sie Einfluss in sozialen Medien hat. Sie ist Fitnessbloggerin mit 325.000 Followern auf Instagram. Ihr Buch ist eine sehr persönliche und praxisorientierte Einführung in das Thema Nachhaltigkeit, gerichtet vor allem an die eigenen Follower. Und Dellert erklärt Kompensation recht überzeugend: Sie versuche, das CO2, das ihre Reisen verursachen, zu kompensieren. "Dabei zahle ich freiwillig zusätzlich zum Flugpreis einen Klimaschutzbeitrag, der dazu verwendet wird, erneuerbare Energien in sogenannten Entwicklungsländern auszubauen: Solaranlagen oder Biomasseverwerter zum Beispiel. Die Menschen vor Ort profitieren davon, weil durch die dort einsetzende Industrialisierung die Luft nicht so arg verpestet wird. Weltweit profitieren wir, weil so die Gesamtlast an CO2 in der globalen Atmosphäre geringer bleibt, als wenn dort Kohlekraftwerke nach westeuropäischem - überholtem - Vorbild gebaut werden." Interessant dabei: Die Kompensation fließt nicht in Baumpflanzprojekte, sondern in Technologie, die unmittelbar Emissionen reduziert. 

Das Buch der Fitnessbloggerin bedient freilich (erklärtermaßen) zuallererst die eigene Followerschaft. Es ist aber ein Indiz für die zweite und wichtigere Beobachtung: Die Frage nach dem eigenen Beitrag, nach der eigenen Lebensweise tritt offenbar heraus aus dem inneren Umfeld der Ökoszene und diffundiert in die Gesellschaft hinein.


Auf der Suche nach einer klimaschonenden Lebensweise


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Noch einmal eine Suche, dieses Mal mit der Suchmaschine von Amazon. Stichwort klimaneutral. Ergebnis: ein paar Fachbücher und - ganz oben - ein populäres Sachbuch, Vier fürs Klima von Petra Pinzler und Günther Wessel, erschienen im Frühjahr 2018 bei Droemer. Es ist das Buch zum Thema. Denn es geht darin allein um die Frage, wie man seine Lebensgestaltung am Klimaschutz ausrichten kann. Es ist die Geschichte eines Experiments: Ein Vierpersonenhaushalt beschließt, möglichst klimaneutral zu leben: "Wir haben versucht, über ein Jahr hinweg unser Leben klimafreundlicher zu gestalten", schreiben die Autoren. Die vier, das sind die Zeit-Journalistin Petra Pinzler, ihr Mann Günther Wessel, ebenfalls Journalist, und ihre beiden Kinder Jakob und Franziska. 

Es war Franziska, die Jüngste, die das Projekt angestoßen hat. Einem Impuls aus dem Unterricht folgend hatte die Zwölfjährige im Internet mal nicht YouTube-Pferdevideos geguckt (so die Mutter), sondern den Klimarechner des WWF aufgesucht. Mithilfe des Vaters hatte sie dann den Fragebogen dort ausgefüllt - und das Ergebnis war "ziemlich niederschmetternd: Unsere Familie ist … durch unsere Art zu leben für 42 Tonnen CO2 im Jahr verantwortlich. Dadurch, dass wir Auto fahren, wie wir wohnen und essen, wie viel wir kaufen und reisen, sprich, durch unseren Lebensstandard, tragen wir Mitschuld am Klimawandel." 

Das ist der Punkt. Das Faktum, um das sehr viele Menschen erkenntnismäßig einen ziemlich weiten Bogen machen: Dass sie selbst Klimagase emittieren und mit ihrem Verhalten so zum Klimawandel beitragen. Sie selbst, und nicht die Industrie, nicht die Wirtschaft, die Autos oder die Kohlekraftwerke. Und auch nicht die Bundesrepublik Deutschland, die auf den Klimakonferenzen der Staatengemeinschaft als eine Art Gesamtverursacher aller Emissionen auf dem Staatsgebiet auftritt. Das macht es einfach, die Verantwortung an ein anonymes und abstraktes Kollektiv abzugeben - obwohl die Klimagase doch auch aus dem eigenen Auspuff und Schornstein kommen (und anderes Zeug dazu).


Dokument einer Erkenntniswende


Ein Jahr lang haben die vier recherchiert, haben Fragen gestellt, haben diskutiert, gewichtet, gewertet und ihre Schlussfolgerungen festgehalten. Entstanden ist daraus ein wirklich bemerkenswertes Buch. Es ist ein Dokument einer Erkundungsreise. Und einer Erkenntniswende: Wir sind mitschuldig an dem Klimaschlamassel. 

Diese Erkenntniswende vollzieht sich im geschützten Diskursraum einer Kleinfamilie, steht aber für einen breiteren, einen gesellschaftlichen Wandel. Für einen Mindshift: Das Wissen um die individuelle Mitverantwortung am Klimaproblem beginnt aus dem ökologisch orientierten Milieu in die breitere Gesellschaft auszustrahlen. Es ist ein Prozess, der heute zunehmend spürbar wird, der weitere Teile der Gesellschaft zu erfassen beginnt. 

Wie weit diese Erkenntnis sich in der Gesellschaft verbreiten und zu welchen Konsequenzen sie führen wird, ist freilich eine offene Frage. Ebenso, welche Gegenreaktionen dies auslösen wird, siehe die Gelbwestenbewegung in Frankreich. Und mehr noch ist vollkommen offen, was passieren wird, wenn es nach der Braunkohle wirklich ans Eingemachte geht: ans Öl und ans Auto. Und damit an die Selbstverständlichkeiten der gewohnten (und unhinterfragten) Lebensweise. Wenn also nicht nur Konzerne Adressaten der Klimapolitik sein werden, sondern die Einzelnen mit ihren Heizungsanlagen, ihren Pkws und ihren Fahr- und Mobilitätsgewohnheiten. Das wird noch einmal ein ganz neues Kapitel eröffnen. 

Aber das Buch nimmt diese Wende vorweg. Es wirft die Frage nach der individuellen Verantwortung auf und dokumentiert einen Aufbruch. Nicht besserwisserisch, sondern fragend und nach Antworten suchend. Das macht das Buch so spannend. Was aber erstaunt: dass dies das einzige Werk auf dem Buchmarkt ist, das diese Erkenntniswende zum Thema macht.


Kognitive Dissonanz


Lange Zeit haben die Menschen, viele Menschen, offenbar geglaubt, die Staaten könnten für Klimaschutz einstehen und die Klimaschutzziele umsetzen, ohne jemandem wehzutun. Ganz so, als könnten Staaten Emissionen einfach so in Luft auflösen. Das ist natürlich ein gewaltiges Missverständnis. Letztlich wird Klimaschutz beim Einzelnen ankommen: als Veränderung der gewohnten Lebensweise. Die Frage ist nur, wie sich dieser Wandel durchsetzen wird: in Form von Verboten, höheren Preisen und staatlichen Anreizen - oder aber durch eigene Einsicht. Es scheint den Menschen langsam bewusst zu werden, dass es sich mit diesem Missverständnis, mit dieser Lebenslüge nicht gut leben lässt. Die Autoren beschreiben dies als kognitive Dissonanz: also "wenn Verhalten und Wissen nicht zueinanderpassen". 

Und wie reagieren Menschen, wenn sie mit den ganzen Klimafragen konfrontiert werden? Pinzler und Wessel beschreiben auch die Reaktionen in ihrem Umfeld, bei Freunden und Bekannten: "Warum ist das Reden über den privaten Klimaschutz so heikel wie das Geständnis, einer esoterischen Glaubensgemeinschaft beigetreten zu sein? Warum sorgt es bei ganz unterschiedlichen Leuten für betretenes Schweigen oder Aggression?" 

Interessant ist aber auch die Beobachtung, dass diese ablehnende Reaktion offenbar nur dann auftritt, wenn das Gegenüber mit einer als richtig erkannten Einsicht konfrontiert wird, mit einer Wahrheit. Von oben herab belehrt werden wollen die Leute nicht. Wenn die Autoren hingegen "von ihren Mühen erzählen und kleinen Erfolgen, vom Versagen und dem inneren Schweinehund", dann kommen Geschichten zurück. Und es wird deutlich, wie auch andere sich bemühen, es richtig zu machen im Leben. Pinzler und Wessel macht das Mut, "Mut, Unangenehmes anzugehen". Und sie finden im Buch die richtige Darstellungsweise. Nicht besserwisserisch, sondern suchend, abwägend, um die richtige Haltung ringend.


Komplexität der Entscheidungslagen


Das Buch reflektiert zugleich die Komplexität der Entscheidungslagen in einer hoch entwickelten, ausdifferenzierten Gesellschaft. Eine Komplexität, die durch die Frage nach der richtigen Lebensweise im Klimawandel noch einmal erhöht wird. Pinzler und Wessel fragen nach, sie verfolgen die Wege, auf denen das Essen auf den Tisch kommt, und holen sich die passenden kompetenten Gesprächspartner zum jeweiligen Thema. Diese fundierte Recherche macht die Entscheidungsgrundlagen transparent und enthebt die nachvollziehbar gezogenen Schlüsse dem Verdacht ökologischer Bevormundung und Gängelei. 

Wichtiger noch: Das Buch reduziert diese Komplexität der Entscheidungslagen und übersetzt sie in einfache Regeln - Simple Rules -, die sich anwenden lassen, ohne stets die überbordende Komplexität im Blick haben zu müssen. Zwei Beispiele: "Unsere Faustregeln fürs klimagerechte Essen … sind einfach. Je weniger Lebensmittel transportiert werden müssen, desto besser. Lieber Gemüse als Fleisch - das ist ganz nebenbei auch gesünder. Und Bio hilft zwar nicht immer dem Klima, aber der Artenvielfalt. Also am besten regionales Biogemüse essen - und ab und zu mal ein Wildschwein aus dem nahen Wald." Oder: "Der Haushalt beschließt außerdem, Obst, Gemüse und Eier ab sofort nur noch (mit kleinen Einschränkungen, denn nicht immer ist dort alles zu haben) auf dem Markt zu besorgen." 

So finden sich für die unterschiedlichen Lebensbereiche klare Praxistipps für eine klimagerechte Lebensweise. Für umweltbewusst lebende oder zumindest diesbezüglich gut informierte Menschen mag vieles davon bekannt sein, wenngleich vielleicht auch nicht in der Summe und der Klarheit der angebotenen Regeln präsent. Aber die Lehren zielen auf den Mainstream. Es ist ein Buch, das in die gesellschaftliche Mitte zielt. Das macht seinen Wert aus. Die letzte Lehre des Jahres lautet dann auch: "Wir wissen jetzt, dass wir uns politisch stärker einmischen müssen."


Unsere Art zu leben steht zur Disposition


Es ist also eine offene Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Entwickelt sich eine klimaschonende Lebensweise? Breitet sich diese von der Ökonische kommend in die Gesellschaft hinein aus? Gewinnt praktizierter Klimaschutz gesellschaftliche Relevanz in dem Sinne, dass er vom Nischenthema zum Mainstream wird? Und: Welche neuen Konfliktlinien tun sich auf und welche neuen Allianzen entstehen? Und wie bildet sich das alles im Parteienspektrum ab? 

Das sind Fragen, die dem Klimawandel zusätzliche, gesellschaftliche Relevanz geben. Es geht dabei auch um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Weil unsere Art zu leben zur Disposition steht. 


Zitate


"Das politische Versagen entschuldigt nicht die private Faulheit." Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

"2,2 Tonnen. So viel CO2-Emissionen darf jeder Mensch verursachen. Pro Jahr!" Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

"Wir - nicht unsere Familie, sondern die Gesellschaft als Ganzes - bestellen zu viel bei Versandhändlern, saufen zu viel Coffee to go aus Plastik- oder Pappbechern, zu denen wir dann irgendwelche plastikverpackten Sandwichs vertilgen oder uns irgendwas vom Pizzataxi oder einem anderen Lieferservice bringen lassen, kaufen zu viel Fertigessen oder halbfertige Produkte in Mini-Portionen, statt selbst zu kochen, und zu viele Dinge in winzigen Packungseinheiten, von denen wir problemlos größere Mengen bevorraten könnten. Wir haben uns zu sehr in eine To-go-Gesellschaft verwandelt." Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

"Wir müssen bei unserem Verhalten auch Umwelt- und Klimafragen berücksichtigen." Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

"Die Landwirtschaft ist für einen erstaunlich großen Teil des Klimaproblems verantwortlich." Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

"Klimaschutz ist theoretisch leicht. Praktisch aber muss er wieder und wieder geübt werden." Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

"Gute Vorsätze helfen zwar. Aber es dauert, bis neue Verhaltensweisen zur Normalität werden." Petra Pinzler, Günther Wessel: Vier fürs Klima

 

changeX 13.02.2019. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Mein Herz schlägt grün. Weltverbessern für Anfänger. Verlag Komplett Media, München/Grünwald 2018, 208 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3831204717

Mein Herz schlägt grün

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: Vier fürs Klima. Wie unsere Familie versucht, CO2-neutral zu leben. Droemer Verlag, München/Grünwald 2018, 304 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-426-27732-4

Vier fürs Klima

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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