Nichts ist real
Realität ist nichts, was an sich existiert. Sondern alles, was wir für real erachten, ist sozial konstruiert. Das ist die These des sozialen Konstruktionismus: Wirklichkeit existiert nur in den sozialen Beziehungen der Menschen zueinander.
Stellen Sie sich vor, jemand läuft allein die Straße runter und ruft „Schachmatt!“ Sie finden, diese Vorstellung macht keinen Sinn? Ganz genau. Denn hier wird ein Wort, das zu einem „Sprachspiel“ – wie Ludwig Wittgenstein das nannte – gehört, außerhalb des Handlungsmusters gebraucht, in das es gehört. Sinn dagegen entsteht nur, wenn das Sprachspiel in dem Handlungsmuster angewandt wird, in das es durch Konvention eingebettet ist. Im Deutschen ist die Anwendung des Wortes „schachmatt“ in erster Linie auf das Handlungsmuster Schachspiel bezogen: „Dieser Satz“, schreiben Kenneth J. und Mary Gergen, die Autoren des Büchleins Einführung in den sozialen Konstruktionismus daher, „macht nur Sinn, wenn Menschen bestimmte vorgeschriebene Aktivitäten ausführen und vorgeschriebene Objekte verwenden.“
So weit, so alt, könnte man meinen. Aber der soziale Konstruktionismus geht weiter. Er behauptet: Genau so verhält es sich mit der Realität. Die ist demnach nichts, was „an sich“ existiert. Sondern: „Alles, was wir für real erachten, ist sozial konstruiert“, schreiben die Gergens. Das Schlüsselwort ist hier „sozial“. Denn im Unterschied zum Konstruktivismus – in dem „der individuelle Geist als Ursprung der Wirklichkeitserzeugung“ gilt – entsteht im Konstruktionismus Wirklichkeit nur in den sozialen Beziehungen der Menschen zueinander, also relational.
Methoden der Welterzeugung.
Daraus folgt: „NICHTS ist real, solange Menschen nicht darin übereinstimmen, dass es real ist.“ Eine Kultur, eine Wertegemeinschaft oder eine Tradition handelt im sozialen Miteinander also nicht nur ihr Wertesystem aus. Sie entscheidet auch darüber, was in ihrer Gemeinschaft als „Fakt“ gilt und was nicht – ob Gott die Welt in sieben Tagen erschuf beispielsweise oder ob die Erde in vielen Millionen Jahren entstand. Denn ja, auch die Wissenschaft wird in diesem Ansatz zu einer Art der „Welterzeugung“ – die gleichberechtigt neben der religiösen Art der „Welterzeugung“ steht. Wissenschaftliche Wahrheit gibt es also nur innerhalb der wissenschaftlichen Tradition, in der sie erzeugt wird. Gleichwertig daneben existieren religiöse Wertesysteme, die ihre eigene Form der Wahrheit hervorbringen. Auf eine universell gültige Wahrheit kann man dann also nicht mehr Anspruch erheben: „Wahrheit ist nur innerhalb von Gemeinschaften zu finden“, schreiben die Autoren.
Das ist der Paukenschlag, mit dem das Büchlein in den ersten beiden Kapiteln startet, die philosophische Grundsteinlegung sozusagen, auf der alles Weitere beruht – und gegen die sich auch die Einwände der Kritiker richten, die im letzten Kapitel behandelt werden: Nihilismus, Realismus und moralischer Relativismus sind die häufigsten Vorwürfe. Der soziale Konstruktionismus ist allerdings keine philosophische Strömung, sondern eine Ausrichtung der Sozialpsychologie.
Eine neue Zukunft schaffen.
Das zeigt sich bereits im Fazit des ersten Kapitels, wenn die Autoren meinen, „die wichtige Frage ist nicht, ob unsere Worte wahr oder objektiv sind, sondern vielmehr, was mit unserem Leben passiert, wenn wir in diese oder jene Form des Verständnisses und der Bedeutungsgebung eintreten.“ Und der Erforschung dieser Frage gelten dann auch die nächsten beiden Kapitel.
Das dritte untersucht, welche Auswirkungen der Konstruktionismus auf das professionelle Handeln in den Bereichen Therapie, Organisationsentwicklung, Bildung und Berufsentwicklung hat. Individualistische Ansätze werden zurückgewiesen, die Beschäftigung mit Ressourcen, kollaboratives Lernen und ein konstruktiver Umgang mit Konflikten rücken in den Vordergrund.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich damit, wie ein konstruktionistischer Ansatz die Forschung verändert. Die Darstellungsformen in den Geistes- und Sozialwissenschaften werden pluralistisch, selbstreflexiv und innovativ. In der Aktionsforschung werden die Forscher praktisch und mischen sich ein: Sie gehen selbst an Orte wie beispielsweise eine Anlaufstelle für Straßenkids und forschen gemeinsam mit Sozialarbeitern und Jugendlichen darüber, wie man den Ort attraktiver und funktionaler machen kann: Sie versuchen also, „direkt eine neue Zukunft zu schaffen“.
Und das ist auch die große Stärke dieses Ansatzes, so wie ihn die Gergens in ihrer anschaulichen und kompakten Einführung darstellen: seine unmittelbare Relevanz für eine friedliche Zukunft in einer globalisierten Welt, in der die Menschen sowohl in ihrer unmittelbaren Umgebung als auch auf Konferenzen oder am Arbeitsplatz mit Menschen zu tun haben, die aus unterschiedlichen Kulturen kommen oder verschiedenen Wertesystemen anhängen. Werden die anderen und ihre Traditionen als gleichwertig akzeptiert, eröffnet sich ein gemeinsamer Diskursraum, in dem ein sozialer Umgang miteinander ausgehandelt werden kann. Auf dass etwas Neues entstehe.
changeX 02.11.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Kenneth J. Gergen / Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2009, 118 Seiten, ISBN 978-3-89670-681-2
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Autorin
Annegret NillAnnegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.