Mal mit Weitblick
Die Zukunft geht uns alle an. Was liegt also näher, als alle hierzu zu befragen? Einen Schritt in diese Richtung gegangen ist die deutsche Bundeskanzlerin. Sie hat einen Experten- und Bürgerdialog über Deutschlands Zukunft ins Leben gerufen. Ergebnis: Ideen, Fragen, Visionen über den politischen Kurzfristhorizont hinaus.
Zukunft ist ein schillernder Begriff und mindestens in zweierlei Hinsicht offen: Zum einen ist in der Regel unklar, welchen Zeitraum wir im Blick haben, wenn wir von der Zukunft sprechen; und zum anderen können wir schlicht nicht wissen, was die Zukunft bringt. Diese Offenheit oder - dramatischer ausgedrückt - Lücke hatte die deutsche Bundeskanzlerin im Auge, als sie 2011 einen Dialog über Deutschlands Zukunft ins Leben rief. So heißt das von ihr herausgegebene Buch auch schlicht Dialog über Deutschlands Zukunft, das sich als eine von der Öffentlichkeit längst erwartete Strategiebemühung mit Weitblick beschreiben lässt. Mit über 100 Experten hat Merkel in diesem Forum diskutiert, vor allem zugehört und den Zukunftsbegriff festgezurrt - mittelfristig: Es geht um die nächsten zehn Jahre in Deutschland, und die im Gespräch ermittelten Themen stecken mögliche Zukünfte ab.
Die drei Leitfragen des Dialogs, die neben dem Expertengremium auch mit Bürgern Deutschlands live und via Internet diskutiert wurden, lauten: Wie wollen wir zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Und: Wie wollen wir lernen? Merkel ist sich sicher: "Ein Dialog über Deutschlands Zukunft war überfällig. War das zu Beginn zunächst nur eine Ahnung, so wurde diese Ahnung während des Dialogs immer mehr zur Gewissheit", schreibt sie in ihrem Vorwort. Und: "Mir ging und geht es um einen neuen Ansatz, mit dem wir zu grundsätzlichen Überlegungen zur Zukunft in Deutschland kommen, die auf einer möglichst breiten Grundlage der Beteiligung angestellt werden. Zu Überlegungen, die neue und unerwartete Antworten auf neue und unerwartete Trends und Entwicklungen ermöglichen. Überlegungen, die helfen, die Akzeptanz und Legitimation politischer Prozesse zu stärken."
Aufgeschrieben und in eine kurzweilig zu lesende Buchform hat der Journalist Christoph Schlegel das Experiment gebracht. Dabei ging es ihm weder um ein Protokoll noch um ein Referat ausführlicher Expertenentwürfe; vielmehr ist seine Fassung eine Art Werkstattbericht: eine atmosphärische Schilderung des Projekts, in der die Dialogteilnehmer selbstverständlich auch zu Wort kommen, aber eher in Form von Schlaglichtern. Drei kurze, als "Zwischenruf" gekennzeichnete Autorentexte der drei Themenkoordinatoren des Dialogs ergänzen Schlegels Aufzeichnungen.
Bottom-up statt top-down
Wie wollen wir zusammenleben? Die erste Frage, die erste Expertenrunde des Dialogs. Ein wichtiges Thema: Bürgerbeteiligung. Wie kann man den einzelnen Bürger erreichen? Funktioniert so etwas wie direkte Demokratie? Und wie kann unmittelbare politische Teilhabe realisiert werden? Man ist sich einig, dass diese Form zivilgesellschaftlichen Engagements viele gesellschaftliche Bereiche umfassen sollte. Auf der Ebene von Gemeinden könnte das bedeuten: "Kommunale Politik soll keine Top-down-Veranstaltung des Rathauses für die Bürger sein, sondern vielmehr ein Bottom-up-Projekt engagierter Bürger in der lokalen Öffentlichkeit und in den Rathäusern", sagt Professor Berthold Tillmann, der von 1999 bis 2009 Oberbürgermeister in Münster war.
Als Kraftzentren für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft hat Sabine Walper, Professorin für Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut in München, in ihrem Zwischenruf die Familie ausgemacht, die als Urzelle des Zusammenlebens zu fördern und zu unterstützen sei. Denn: "Familie ist der Ort, wo man Gemeinschaft ‚im Kleinen‘ lebt: wo man Bindungen eingeht und wechselseitiges Geben und Nehmen erfährt, wo man lernt, Konflikte auszutragen und Kompromisse zu finden, wo man über die eigene Perspektive hinausblickt und Verantwortung übernimmt."
Schöne neue Arbeitswelt
"Wovon wollen wir leben?" ist die Frage, die den zweiten Themenkreis des Zukunftsdialogs eingrenzt, und die man auch als Frage nach der Zukunft der Arbeit verstehen kann. Von Anfang an ist klar: Wer über die Zukunft der Arbeit spricht, redet über Demografie, Fachkräftemangel, ältere Belegschaften, den Umbau des Bildungssystems und vieles mehr. Ein Paradigmenwechsel kündigt sich an. Dieter Spath, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, ist sich sicher: "Radikale Innovationen, und zwar in Form von ressourceneffizienten Produkten und ressourceneffizientem Handeln, werden zu Erfolgsfaktoren." Das ist die positive visionäre Aussicht.
Die andere, den einzelnen Arbeitnehmer betreffend, ist, dass der feste Arbeitsplatz künftig eher zum Schleudersitz mutieren wird - als Katapult hinaus in immer wieder neue Arbeitsverhältnisse und neue Aufgaben. Ulrich Klotz, der als Informatiker beim IG-Metall-Vorstand seit den 1970er-Jahren der Frage nachgeht, wie der Computer die Arbeitswelt verändert, ist davon überzeugt, dass durch das Internet neue Arbeitsformen entstehen, bei denen Projekte in kleinste Arbeitspakete zerlegt und via Internet weltweit ausgeschrieben werden - mit dem Ergebnis: Die Arbeit bleibt, aber der feste Arbeitsplatz ist futsch. Klotz: "Die Arbeitswelt wird vielfältiger, die Ausnahmen werden zur Regel, das ‚Normalarbeitsverhältnis‘ und die ‚Normalbiografie‘ sind auf dem Rückzug. Ein Höchstmaß an Eigenverantwortung und Selbstorganisation kombiniert mit minimalen Absicherungen und Planbarkeiten sind die Fesseln der neuen Freiheit."
Klaus Henning, Elektrotechniker und Politikwissenschaftler, setzt sich in seinem Zwischenruf "Plädoyer für nichtakademische Arbeit" für eine verbesserte Wertschätzung der nichtakademischen Facharbeit ein. Diese Berufsfelder müssten attraktiver gestaltet werden. Und: "In diesem Zusammenhang sehe ich generell Bildung als einen bisher vernachlässigten Exportzweig." Warum nicht Bildung exportieren, und zwar von der beruflichen bis zur akademischen? Boom-Staaten wie Indien stünden heute vor der großen Herausforderung, breiten Bevölkerungsschichten eine Schulbildung zu ermöglichen. "Das wäre eine Aufgabe für Deutschland. Da fehlt es an Schlagkraft im amerikanischen Stil."
Sich freudig Herausforderungen stellen
Dass Lernen, ja lebenslanges Lernen etwas ist, um das künftig keiner mehr umhinkommt, der irgendwie mitspielen will in der schönen neuen Arbeitswelt, ist schon mal klar. Bleibt also die Frage "Wie wollen wir lernen?" - als dritter und letzter Themenstrang des Zukunftsdialogs. Hier setzt sich Stephan Breidenbach, Lehrstuhlinhaber für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Internationales Wirtschaftsrecht und Mitgründer und Dean der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin, in seinem Zwischenruf "Plädoyer für Partizipation und Fehlerfreundlichkeit" für eine neue Lernhaltung und mehr Fehlertoleranz ein: "Im Kern bedeutet dies, dass wir die Entfaltung der vielfältigen Potenziale jedes Einzelnen und eine grundsätzliche Freude am Lernen lebenslang unterstützen müssen." Kurzfristige Lernerfolge im Gleichmaß, das Bestehen von Prüfungen, gehörten auch dazu. Vor allem zählten jedoch hierzu "Einstellungen und innere Haltungen, die bestimmen, wie wir im Leben stehen, die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, sich Herausforderungen mit Zuversicht zu stellen, und die Freude daran, sich beständig weiterentwickeln zu können".
Nach dieser Bestimmung ist auch der Zukunftsdialog eine neue Form des Lernens, und nach den 250 Seiten voller Ideen, Fragen und Ausblicke mag man durchaus optimistisch gestimmt sein: Kreativität und Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu schauen, sind da. Und genau da beginnt schließlich die Zukunft.
changeX 17.08.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Angela Merkel (Hg.): Dialog über Deutschlands Zukunft. Murmann Verlag, Hamburg 2012, 256 Seiten, 19.90 Euro, ISBN 978-3-86774-187-3
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Autor
Sascha HellmannSascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.