Selbst eine Illusion
Was ist es eigentlich, das diese Zeilen liest? Nach und nach kommen die Neurowissenschaften unserem Bewusstsein auf die Spur. Und legen nahe, dass da nichts ist als ein rhythmischer Tanz neuronaler Entladungen. Informationsverarbeitungsvorgänge, sonst nichts. Ein Bewusstseinsforscher sagt: Das Selbst ist selbst eine Illusion.
„Ich habe Angst!“ Wohl zum ersten Mal ist es kein Mensch, der diesen zutiefst menschlichen Satz ausspricht. Es ist ein Computer. In seinem Nervenzentrum liegt der Astronaut Dave Bowman und hantiert konzentriert an den in warmem Licht leuchtenden Speichereinheiten des Rechners. Modul für Modul fährt er heraus und schaltet es ab. Licht für Licht geht aus, während die Stimme von HAL 9000 tiefer und langsamer wird wie ein Tonband, das jemand mit dem Finger bremst. HALs Funktionen erlöschen, dramatisch und emotional in Szene gesetzt von Stanley Kubrick in seinem Film 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahr 1968. Kubrick, der überzeugt war, dass Computer noch vor der Jahrtausendwende über Intelligenz verfügen würden, hat zusammen mit seinem Drehbuchautor Arthur C. Clarke eine Szene von visionärer Kraft geschaffen. HAL 9000 ist eine Maschine mit Bewusstsein und mit Emotionen. Eine Maschine, die zum Mörder wird. Es entspannt sich ein erbitterter Kampf mit verkehrten Vorzeichen: HAL ist es, der Emotionen zeigt, der Angst äußert und kurz vor seiner Abschaltung noch ein Kinderlied aus seiner Erinnerung singt. Dave Bowman hingegen ist der kühl kalkulierende, emotionslose Gegenspieler, der sich nicht beeindrucken lässt und das Elektronengehirn gnadenlos abschaltet.
Doch was wäre, wenn HAL kein Mörder wäre und seine Abschaltung kein Akt der Notwehr? Sondern sein Geplapper nur lästig, sein Weltschmerz nervig, seine Funktion nicht dem Pflichtenheft entsprechend? Was dann? Darf man eine Maschine einfach abschalten, die über Bewusstsein verfügt? Was dürfen wir mit unserem eigenen Bewusstsein anstellen? Und: Was ist eigentlich ein guter Bewusstseinszustand?
RoboRoach und die Gummihand-Illusion
Fragen wie diese könnten sich schon bald stellen. Es sind ethische Schlüsselfragen, die aus den fortgeschrittenen neurobiologischen Forschungen unserer Tage resultieren. Diese warten mit Erkenntnissen auf, die unser seit Jahrtausenden gewachsenes Selbstbild als Menschen radikal infrage stellen könnten. Denn zum ersten Mal bekommen Neurowissenschaftler eine Vorstellung davon, wie der menschliche Geist funktioniert, und beginnen zu ahnen, was das ist: Bewusstsein. Dabei zeigt sich, was von manchen als „Kränkung“ empfunden wird: Offenbar ist der Mensch nicht die „Krone der Schöpfung“, die er glaubte zu sein; auch Tiere haben Bewusstsein. Zudem ist das menschliche Erkenntnisvermögen alles andere als objektiv und treffsicher, sondern im Kern subjektiv. Und schließlich lassen sich Bewusstseinsvorgänge nicht nur beeinflussen und wohl bald schon gezielt steuern, sondern in einer nicht mehr fernen Zukunft vielleicht sogar künstlich erzeugen. Sei es in Form von intelligenten Computern wie HAL oder in Form von Zwitterwesen, die halb Maschine, halb Lebewesen sind.
Wie RoboRoach, die Roboterkakerlake. Noch hat sie kein Bewusstsein, aber man kann sie mittels einer einfachen Fernbedienung anhalten sowie vorwärts, rückwärts, nach rechts und nach links laufen lassen. Möglich macht das eine noch etwas überdimensionierte Steuerungseinheit, die auf dem Kopf des Insekts installiert ist und deren Elektroden unmittelbar in dessen Gehirn reichen. Mittels solcher Elektroden lässt sich auch beim Menschen Bewusstsein an- und ausschalten. Und zu allem Überfluss entpuppt sich unser Bewusstsein als nicht so stabil und gefestigt, wie wir das gerne hätten. Ein Experiment: die Gummihand-Illusion.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem Tisch, Ihre Arme liegen seitlich Ihres Körpers auf der Tischplatte, aber Sie können sie nicht sehen, weil sie von einer Trennwand abgedeckt sind. Stellen Sie sich nun weiter vor, vor Ihnen liegt eine Gummihand, vielleicht so, wie Ihre Hand liegen würde, wenn sie nicht hinter der Abtrennung versteckt läge. Nun beginnt jemand, mit Wattestäbchen synchron Ihre verdeckte Hand und die vor Ihnen liegende Gummihand zu streicheln. Was passiert? Bei Thomas Metzinger dauert es zwischen 60 und 90 Sekunden, bis er die Gummihand als seine eigene Hand wahrnimmt. Versuchspersonen fühlen die Streicheleinheiten regelmäßig sogar in dieser Gummihand und erleben diese als Teil eines virtuellen Arms, der von der Schulter bis in die Gummifinger reicht. Derselbe Effekt lässt sich in einem virtuellen Raum als Ganzkörperillusion realisieren. Eine Versuchsperson erlebt dabei einen virtuellen künstlichen Körper, der durch ein auf dem Kopf getragenes Display vor die Augen projiziert wird, als ihren eigenen Körper.
Man könnte sagen, das sei ein billiger Varieté-Trick, eine Illusion wie andere Gaukler- oder Zaubertricks auch. Aber man kann diese Frage auch umdrehen: Was wäre, wenn unser Selbst selbst eine Illusion wäre, eine Art von virtueller Realität, mit dem einzigen Unterschied, dass das Virtuelle in diesem Fall nicht durch elektromagnetische, sondern durch neuronale Schaltungen realisiert würde?
Selbst-lose Ego-Maschinen
Diese Ansicht vertritt der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger. In seinem Buch Der Ego-Tunnel entwirft er eine neue Philosophie des Selbst, die auf den Erkenntnissen der Hirnforschung basiert, und weist den Weg zu einer Bewusstseinsethik, die das Fundament für die ethischen Debatten der Zukunft bilden soll. Denn in einem Punkt ist sich Metzinger sicher: Die von den Neurowissenschaften angestoßene Bewusstseinsrevolution wird „unser Bild von uns selbst dramatischer verändern als jede andere naturwissenschaftliche Revolution in der Vergangenheit“.
Denn die moderne Philosophie des Geistes und die kognitiven Neurowissenschaften sind dabei, den Mythos des Selbst zu zertrümmern. Das Selbst gibt es nicht, es ist eine Illusion, die das Gehirn erzeugt, so Metzingers These. Unser Gehirn konstruiert ein Modell der Wirklichkeit, das aber nicht als Konstrukt erfahren wird, sondern als subjektiv erlebte Wirklichkeit. Was wir wahrnehmen, ist nichts als „ein virtuelles Selbst in einer virtuellen Realität“. Die zentrale Metapher, die Metzinger dafür einführt, ist der „Ego-Tunnel“. Zwei Schritte braucht es, um diese Metapher zu verstehen: das Motiv des Tunnels und die Eigenschaft der Transparenz.
Der erste Schritt erfordert, sich von der Vorstellung zu verabschieden, wir hätten auf irgendeine Weise unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit. Die Neurowissenschaften bestätigen, was Konstruktivisten behauptet haben: Was wir bewusst erleben, ist nicht nur ein inneres Konstrukt, sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Information. Was wir wahrnehmen, ist ein Ausschnitt, ist konstruierte Wirklichkeit. „Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel“, schreibt Metzinger: „Was wir sehen und hören oder ertasten oder erfühlen, was wir riechen und schmecken, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Außenwelt existiert. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und die uns trägt.“ Unser Gehirn „bohrt“ gewissermaßen einen Tunnel durch diese Wirklichkeit und malt „die Innenwände des Tunnels ... in verschiedenen Farbtönen an“.
Der zweite logische Schritt hat damit zu tun, warum wir uns dessen nicht bewusst sind und diese von uns konstruierte Wirklichkeit als die Wirklichkeit an sich erleben. Warum wir also mit dem philosophischen Fachbegriff ausgedrückt „naive Realisten“ sind: Das Vertrackte ist nämlich, dass wir das Modell nicht als Modell erkennen, weil es vollkommen „transparent“ ist: „Sie – die physische Person als Ganze – schauen direkt durch es hindurch. Sie sehen es nicht. Aber Sie sehen mit ihm.“ Die Illusion des Selbst entsteht, weil wir nicht erkennen können, dass das Selbstmodell, das in unserem Gehirn entsteht, ein Modell ist. Oder noch mal anders formuliert: weil das Gehirn keine Chance hat zu entdecken, dass dieses Modell „einfach das Ergebnis von Informationsverarbeitungsvorgängen ist, die gegenwärtig in ihm selbst stattfinden“.
Auch Gegenwärtigkeit ist dabei eine Illusion: Weil diese Informationsverarbeitung natürlich Zeit beansprucht, ist das, was wir als Gegenwart erleben, bereits Vergangenheit. Genau genommen sind beides Begriffe, die für die Welt da draußen keinerlei Bedeutung haben. Für sie nämlich gilt wohl Heraklits alte Erkenntnis „alles fließt“.
Ein Selbst gibt es somit nicht. Es gibt Informationsverarbeitungsvorgänge, einen „rhythmischen Tanz neuronaler Entladungen“, sonst nichts. Sie konstruieren eine Repräsentation der physikalischen Wirklichkeit, die notwendig subjektiv ist. Daher spricht Metzinger von einem Ego-Tunnel: Das Ego ist ein transparentes mentales Bild, wir sind „selbst-lose Ego-Maschinen“. In der Evolution hat sich das als gewaltiger Vorteil entpuppt. „Das Ego ist ein Instrument zur Planung und Kontrolle unseres Verhaltens, und gleichzeitig ist es ein inneres Instrument, das Verhalten anderer zu verstehen“ – mittels Spiegelneuronen. Sie spiegeln gewissermaßen die Ego-Tunnel anderer im eigenen Ego-Tunnel und öffnen „ein neues Fenster in die soziale Wirklichkeit: Einfühlung wurde möglich.“
Eine neue „Bewusstseinsethik“
Für eingefleischte Konstruktivisten mag das alles recht vertraut und allenfalls in der Wortwahl ungewöhnlich klingen, für erkenntnistheoretisch naive Realisten, die von objektiver Erkenntnis sprechen, von wissenschaftlichen Entdeckungen träumen und vielleicht sogar von der Vorstellung geleitet sind, da draußen im Universum neue Zahlen zu finden, für sie freilich mag das als Zumutung wirken. Die Bedeutung von Metzingers Buch liegt zum einen darin, dass er die Erkenntnisse der Neurowissenschaften philosophisch interpretiert und zu einer Theorie des Bewusstseins bündelt. Das tut er mit einer starken Sprache, einprägsamen Bildern und manchmal geradezu poetisch anmutenden Formulierungen. Zweifellos ist ihm ein furioses Buch gelungen. Zum anderen hat der Autor ein sicheres Gespür für die Debatten und Konflikte, die kommen werden. Auf sie will Metzinger vorbereiten und zugleich den philosophischen Boden bereiten, auf dem sie ausgetragen werden können. Wir brauchen eine neue „Bewusstseinsethik“, so seine Forderung.
Die Realisierung künstlicher phänomenaler Selbstmodelle, also die Entwicklung von Maschinen mit Bewusstsein, ist dabei nur die eine Seite. Die andere ist die gezielte Manipulation von Bewusstseinsinhalten, sei es durch Gehirndoping, durch Hirnprothesen oder die in den Anfängen steckende medizinische Neurotechnologie. „Früher oder später werden sich Teile der Neurotechnologie in Bewusstseinstechnologie verwandeln“, ist Metzinger sich sicher. „Genau wie wir uns bereits heute für eine Brustvergrößerung, für Schönheitschirurgie, Piercing oder andere Arten von Körperveränderung entscheiden können, so werden wir bald in der Lage sein, die neurochemische Landschaft in unseren Köpfen auf kontrollierte, fein abgestimmte Art und Weise zu verändern.“
Die Fragen, die sich dann stellen werden, sind: Welche Hirnzustände sind erwünscht? Welche sollen legal sein, welche illegal? Und die Fragen reichen weiter, gehen tiefer: „Was ist der Mensch? Und was sollte aus dem Menschen in Zukunft werden?“ Das ist für Metzinger das Thema. Es geht darum, „eine neue Ebene der Autonomie beim Umgang mit unserem bewussten Geist“ zu erreichen. Und darin kann man ihm nur entschieden zustimmen.
changeX 01.03.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin Verlag, Berlin 2009, 384 Seiten, ISBN 978-3-827-00630-1
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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