Bolzen mit System

Fritz B. Simons Vor dem Spiel ist nach dem Spiel.
Text: Dominik Fehrmann

Die WM in Südafrika zeigt Fußball erneut als einzigartiges Massenphänomen. Leidenschaftliches Interesse für das Spiel eint die unterschiedlichsten Menschen. Ballverliebt zeigt sich sogar die oft spröde Systemtheorie. Und siehe da: Wenn Luhmann auf Herberger trifft, entwickelt sich ein munteres Match mit vielen Steilpässen in die Tiefe des theoretischen Raumes.

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„Fußball ist unser Leben“ – so hieß das offizielle WM-Lied der deutschen Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft 1974. Als Beckenbauer, Vogts und Co. diese Zeilen seinerzeit anstimmten, war mit „unser Leben“ zunächst mal ihr eigenes Profifußballerleben gemeint. Zehntausende mitgrölende Fans aber meinten gewiss auch damals schon ihr Leben als Fan. Aber könnte man nicht noch viel stärker abstrahieren? Könnte der Fußball nicht geradezu als eine eigene Lebenswirklichkeit gedacht werden, deren Komplexität mittlerweile so groß ist, dass mit ihrer Analyse zugleich Wesentliches über das Leben an sich entdeckt wäre? 

Zumindest ist der Fußball heute für mehr Menschen Teil des Lebens als je zuvor. Der Fußball hat die schmuddelig-prollige Jeanskutte abgestreift, die ihm noch bis in die 1990er-Jahre umhing. Das Fußballfieber grassiert längst nicht mehr vorrangig in der männlichen Arbeiterschicht. Spätestens mit der WM 2006 ist, gerade auch in Deutschland, Anteilnahme am Fußballgeschehen zu einem Mainstream-Vergnügen geworden, treffen sich auch Frauen zum Public Viewing und behängen Akademiker ihre Volvos mit Fanartikeln. War ihr Interesse für Fußball vormals tendenziell rechtfertigungsbedürftig, so scheint heute umgekehrt eine entsprechende Abneigung oder Uninteressiertheit fast schon als Ausdruck genereller Freud- und Kulturlosigkeit zu gelten.


Weitaus ernster


Dabei muss dieses Interesse nicht so weit gehen, wie Liverpools früherer Trainer Bill Shankly einmal andeutete, als er sagte: „Einige Leute halten Fußball für einen Kampf auf Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Es ist weitaus ernster.“ Doch ernst kann man Fußball durchaus nehmen, und zwar nicht nur in brennender Leidenschaft, sondern auch als Objekt nüchterner Wissenschaft. Gerade jenseits des rein Sportwissenschaftlichen, nämlich als gesellschaftliches Phänomen, bietet der Fußball dem forschenden Geist viel freien Raum zum Kombinieren. Und kaum ein soziologisches Erklärungsmodell dürfte diesen Spielraum so effektiv zu nutzen wissen, wie Niklas Luhmanns Systemtheorie. 

Wie aufschluss- und facettenreich eine systemtheoretisch fundierte Beschäftigung mit dem Phänomen Fußball sein kann, zeigt der von Fritz B. Simon herausgegebene Band Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Darin erläutert eine Auswahlmannschaft namhafter Systemtheoretiker die besondere Funktionsweise und Bedeutung des Fußballs als eines sozialen Systems. Und tatsächlich bietet dieser Band damit, ganz wie vom Herausgeber gewünscht, „nicht nur denjenigen, die sich für Fußball interessieren, eine milde Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, sondern auch denjenigen, die sich für Systemtheorie und Konstruktivismus interessieren, eine Einführung in die Geheimnisse des Fußballs“. 

Beispielhaft erklärt etwa Helmut Willke in seinem Beitrag zum „Spiel ohne Ball“ das systemtheoretische Konzept der Emergenz. Sprich: den Übergang von einer Systemebene zu einer nächsten Ebene organisierter Komplexität. Dieser Übergang, so Willke, vollziehe sich beim Fußball, „wenn aus der Summe der Einzelspieler eine übersummenhafte Einheit entsteht, welche die individuellen Fähigkeiten der Spieler zu einem nahtlos ineinandergreifenden System verbindet“. Erst mit diesem Übergang entstehe eine Mannschaft im modernen taktikwissenschaftlichen Sinn, als einer Einheit, die sich auf das für den Spielerfolg entscheidende Spiel ohne Ball konzentriert.


Mittel gegen die Sinnunsicherheit des Alltags


Norbert Bolz dagegen nimmt die gesamtgesellschaftliche Rolle des Fußballs in den Blick und verweist auf dessen kompensatorisches Potenzial. Das Fußballspiel, so Bolz, kompensiere die „Sinnunsicherheit des Alltags, indem es den geordneten Rückzug auf ein als sinnvoll definiertes Körperverhalten ermöglicht“. Insofern sei Fußball ein „Asyl der Männlichkeit“, zudem ein Bereich „gemeinschaftlicher Produktion künstlicher Differenzen“, ein „Generator von Lebensspannungen“ in einer ideologisch ansonsten weitgehend nivellierten Welt.  

Auf Spannung als regulativer Idee des Fußballspiels verweist auch Reinhard K. Sprenger. Ihm gelingt ein einleuchtender Transfer von Erkenntnissen aus dem System „Fußball“ ins System „Wirtschaft“. Denn auch im Unternehmen, so Sprenger, sei Spannung der Schlüssel zur Motivation der Mitarbeiter und damit zum Unternehmenserfolg. Spannung aber setze einen durch möglichst wenige Regeln geschaffenen Freiraum voraus. Überregulierung wirke daher demotivierend. Und auch in der fußballtaktischen Entwicklung hin zum kooperativen Mannschaftsspiel sieht Sprenger Erkenntnispotenzial für die Wirtschaft. Seine Analyse mündet in der deutlichen Mahnung: „Die Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste verwandelt Unternehmen wie Fußballvereine in legitimatorisch entkernte Organisationshülsen. Es gibt sowohl ethische wie systemtheoretische Gründe, davor zu warnen.“


Systemische Blutgrätsche


Am Ende steht die Erkenntnis, dass man mit diesem Buch erst am Anfang ist. Dass das soziologische Phänomen Fußball – wie jeder respektable Untersuchungsgegenstand – immer neue Fragen aufwirft. Zum Glück hat der Herausgeber inzwischen noch den Fußball-Blog „Systemische Blutgrätsche“ eingerichtet (siehe Link). Dort wird in diesen Wochen der Weltmeisterschaft das Phänomen Fußball systemtheoretisch weiter ausgeleuchtet, en gros und en détail, ganz im Sinne der schopenhauerschen Gewissheit (die im Original irrtümlicherweise auf Musik statt auf Fußball bezogen ist): „Gesetzt, es gelänge, eine vollkommen richtige, vollständige und in das Einzelne gehende Erklärung des Fußballs in Begriffen zu geben, so würde diese sofort auch eine genügende Erklärung der Welt in Begriffen, also die wahre Philosophie sein.“
 


changeX 11.06.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2010, 197 Seiten, ISBN 978-3-89670-692-8

Vor dem Spiel ist nach dem Spiel

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Autor

Dominik Fehrmann
Fehrmann

Dominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.

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