Methoden für politische Mündigkeit
"Mikro", das bedeutet klein, kurz, fein, auch gering. "Mikro" findet sich in zahlreichen Begriffen, von der Mikroanalyse bis zum Mikrozensus. Im Kontext von Innovation und Transformation steht "mikro" für kleinteilige, angepasste Instrumente, Methoden und Lösungen. Darum geht es in unserer Serie. Und um die Menschen und ihre Beweggründe, einen Mikroansatz zu wählen. Dieses Mal: Mikromethoden und Microteaching.
Dr. Peter Massing, Universitätsprofessor a. D., war seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialkunde und Didaktik der Politik am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Sein Arbeitsschwerpunkt: Politikdidaktik und Politische Bildung.
Um grundsätzlich zu beginnen: Was verstehen Sie unter einer Methode und worin liegt der Nutzen von Methoden?
Etymologisch stammt das Wort Methode aus dem Griechischen: "méthodos", das heißt der Weg, der Weg zu etwas hin, zu einem bestimmten Ziel. Schon von der Wortbedeutung her wird deutlich, dass Methoden immer kontextabhängig sind. Sie implizieren sowohl die Ziele als auch die Inhalte. Mir selbst begegnen Methoden auf zwei Ebenen:
Als Politikwissenschaftler setze ich mich mit sozialwissenschaftlichen Methoden auseinander. Hier sind Methoden der Sammelbegriff für wissenschaftliche Verfahren der Begriffsbildung, der Gestaltung von Forschungsplänen und der Interpretation von wissenschaftlich bedeutsamen Quellen. Dies schließt alle Regeln und Handlungsanleitungen sowie technische Verfahrensweisen ein, mit denen ein bestimmtes politisches oder gesellschaftliches Problem erfasst, eine bestimmte Fragestellung entwickelt, eine Theorie angewendet, überprüft oder hervorgebracht und damit ein vorher festgelegtes Forschungs- oder Erkenntnisziel erreicht werden kann.
In meinem wissenschaftlichen Schwerpunkt der Politikdidaktik begegnen mir Methoden in erster Linie als Unterrichtsmethoden. Im Politikunterricht helfen Methoden, notwendiges Wissen zu erschließen, zu sichern und wieder neu zu präsentieren. Sie bieten Möglichkeiten, Kritik zu formulieren, Urteile zu fällen, zu revidieren und in öffentlichkeitswirksame Formen zu bringen. Methoden sind ein entscheidender Weg, um politischer Mündigkeit Ausdruck zu verleihen. Methoden im Politikunterricht sind eine entscheidende Hilfe, damit zukünftige mündige Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Kritik-, Urteils- und Handlungsfähigkeit Demokratien langfristig lebendig halten.
Sie unterscheiden zwischen Makromethoden und Mikromethoden. Was verstehen Sie unter Mikromethoden und was leisten sie?
Die Unterscheidung zwischen Makromethoden und Mikromethoden ergibt sich im Wesentlichen aus ihrer Funktion für den Unterricht. Makromethoden unterstützen die Gesamtheit des Lernprozesses. Sie tragen eine gesamte Unterrichtsstunde oder eine gesamte Unterrichtseinheit und beeinflussen dabei alle zentralen Unterrichtsphasen - die Informationsphase ebenso wie die Anwendungsphase und die Problematisierungsphase beziehungsweise die Phase der politischen Urteilsbildung. Makromethoden im Politikunterricht sind häufig handlungsorientierte Methoden wie Planspiele, Pro-und-Contra-Debatten, Talkshows, aber auch Fallanalysen, Erkundungen oder Sozialstudien.
Mikromethoden beziehen sich auf einzelne Phasen des Lernprozesses, leiten diese ein oder schließen sie ab. Mikromethoden beinhalten auch Arbeitstechniken, Techniken des Lernens sowie den Umgang mit Materialien und Medien. Dazu gehören Methoden des Lesens, Markierens, Exzerpierens, des Umgangs mit Statistiken und Tabellen, des Präsentierens und Vortragens, der Moderation und viele andere mehr. Die Beherrschung von Mikromethoden ist damit auch eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung von Makromethoden. Insofern bilden Mikromethoden das tragende Gerüst, die Grundstruktur des Politikunterrichts. Hinzu kommt, dass sie weniger zeitaufwendig sind als Makromethoden. Dennoch bilden diese, vor allem in der Form von handlungsorientierten Methoden, einen wichtigen Teil des kompetenzorientierten Politikunterrichts. Sie tragen vor allem zur Förderung der zentralen Kompetenzen der politischen Urteilsfähigkeit und der politischen Handlungsfähigkeit bei.
Welche Bedeutung hat "mikro" für Sie?
Es mag sein, dass in vielen Bereichen ein Trend hin zu "mikro" wünschenswert wäre, zum Beispiel im Bereich der Umwelt. Im Bereich der Bildung, der Schule und der Universität sehe ich einen Trend in diese Richtung allerdings nicht. Eher im Gegenteil, die Schulen und die Schulklassen sowie die Seminare und Vorlesungen in den Universitäten werden immer größer. "Mikro" im Sinne von kleineren Klassen mit weniger Schülerinnen und Schülern oder kleineren Seminaren mit weniger Studierenden an den Universitäten wäre dringend erforderlich!
Tatsächlich gibt es auch Versuche, durch interne Differenzierung und individuelle Förderung in Schulklassen dem Rechnung zu tragen. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch an den Universitäten. Dazu gehören erste Versuche, eine entsprechende Hochschuldidaktik zu entwickeln oder zum Beispiel in der universitären Lehrerbildung Formen von "Microteaching" einzuführen. Dabei wird versucht, in Lehramtspraktika Unterrichtssituationen herzustellen, deren Komplexität gegenüber der üblichen Lehrsituation erheblich reduziert ist, sowohl hinsichtlich der Länge (eine Unterrichtseinheit dauert fünf bis 20 Minuten), der Anzahl der Schülerinnen und Schüler (fünf bis zehn) und der zu trainierenden Verhaltensweisen pro Unterrichtsversuch. Inhaltlich sollen vor allem Techniken der Verhaltens- und Interaktionsregelung, der Motivation, der Stoffdarbietung und der Förderung kognitiver Fähigkeiten geübt und beobachtet werden. Aufgrund des hohen organisatorischen Aufwands dieses Modells sind in jüngster Zeit erneut Versuche mit Unterrichtsvideos gemacht worden. Dabei werden Unterrichtsplattformen erstellt, die ganze Unterrichtsstunden, Videoausschnitte, Interviews, aufbereitete Kernkonzepte sowie Begleitmaterialien wie Transkripte, Unterrichtsentwürfe, Checklisten und so weiter umfassen. Auch dies ist ein Versuch, den Mikro-Aspekt des Unterrichts in der Lehramtsausbildung stärker zur Geltung zu bringen.
Ob sich daraus ein Trend entwickelt, wird sich zeigen. Ich bin allerdings skeptisch. Vor dem Hintergrund des Lehrkräftemangels wird es eher darum gehen, möglichst viele möglichst schnell und mit möglichst geringem Aufwand in die Schulen zu bringen.
Sie registrieren in der Politikdidaktik im Hinblick auf Methoden eine erhebliche begriffliche Unsicherheit und Unübersichtlichkeit. Wie erklären Sie diesen Befund?
Dieses Problem zeigt sich schon in der Politikwissenschaft. Die politikwissenschaftliche Forschung ist von einer Vielfalt von Erkenntniszielen, Methoden und Erklärungen gekennzeichnet. Dabei wird unter dem zentralen Begriff Methoden sehr Unterschiedliches verstanden. Der Sprachgebrauch ist ambivalent und gelegentlich diffus. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Wahl der Methode dem Forscher selbst überlassen bleibt. Wie Gegenstand, Erkenntnisziel und Methoden sinnvoll aufeinander zu beziehen sind, ist allein von ihm zu entscheiden. Die daraus notwendig folgende methodische Flexibilität endet gelegentlich in Beliebigkeit mit den oben beschriebenen Folgen. In der Politikdidaktik finden sich ähnliche Tendenzen. Hinzu kommt, dass auf der wissenschaftlichen Ebene der Politikdidaktik die Methodik des Politikunterrichts noch immer zu den vernachlässigten Bereichen der politikdidaktischen Diskussion gehört. Zwar gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Methodenbüchern zum Politikunterricht, die aber im Wesentlichen für die Anwendung in der Unterrichtspraxis geschrieben sind. Die Vielzahl der komplexen theoretischen und wissenschaftstheoretischen Probleme, die mit dem Methodenbegriff verknüpft sind, und deren logisch-systematischer Zusammenhang sind kaum Gegenstand politikdidaktisch-wissenschaftlicher Reflexion.
Des Weiteren weiß die Politikdidaktik wenig empirisch Fundiertes zum Methodenrepertoire der Politiklehrerinnen und -lehrer, es existieren keine abgesicherten Erkenntnisse über die tragfähige Stufung, Reihenfolge und Graduierung von Methoden im Politikunterricht. Es fehlen fach- und bereichsspezifische Systematiken zum Methodenspektrum. Es gibt keine Langzeitstudien darüber, in welchem Alter welche Methoden sinnvoll angeeignet werden können. Ebenso fehlen Lernbiografien von Kindern und Jugendlichen im Sinne stufendidaktischer Konzepte. Auch die Beziehung zwischen Methoden und Lernprozessen oder die Wirkungen bestimmter Methoden auf das Lernergebnis sind empirisch kaum erforscht. Aussagen über die Funktion von Methoden im Politikunterricht beruhen zurzeit im Wesentlichen noch auf Plausibilitätsüberlegungen und Augenscheinvalidität.
Warum ist Methodenkompetenz Ihrer Ansicht nach so wichtig?
Methodenkompetenz beinhaltet die Fähigkeit von Schülerinnen und Schülern, sich mithilfe von politikwissenschaftlichen Analysemodellen - wie zum Beispiel dem Politikzyklus oder den drei Dimensionen des Politischen und den darin enthaltenen politikwissenschaftlichen Fachkonzepten und zentralen Begriffen wie Macht, Interesse, Konflikt, Konsens, Werte, Ideologie und so weiter - selbst politische Sachverhalte, politische Probleme sowie politische Entscheidungen und ihre Folgen zu erschließen. Methodenkompetenz bedeutet, in der Lage zu sein, sich selbständig und gezielt über Massenmedien, neue und soziale Medien - insbesondere in Zeiten von Fake News - Informationen zu beschaffen, auszuwählen und kritisch zu verarbeiten. Dazu gehören dann auch die ideologiekritische Bearbeitung von Texten und Quellen, die Auswertung von Statistiken, Karten, Diagrammen und Grafiken sowie die Interpretation von politischen Karikaturen. Politische Methodenkompetenz heißt auch, über die Fähigkeit zu verfügen, auf verschiedenen politischen Handlungsfeldern agieren und am politischen Diskurs teilhaben zu können.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Methoden im Politikunterricht einen Doppelcharakter besitzen. Einerseits stehen Methoden als Unterrichtsmethoden im Dienste der Vermittlung von Inhalten, Kompetenzen und Fachwissen. Andererseits ist der kompetente Umgang mit Methoden selbst Ziel des Politikunterrichts - ganz besonders dann, wenn es sich um Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt, die der aktiven politischen und gesellschaftlichen Teilhabe mündiger Bürgerinnen und Bürger förderlich sind. Vor allem darin ist die besondere Bedeutung von Methodenkompetenz als Ziel des Politikunterrichts zu sehen.
Das Wichtigste ganz kurz?
Politikunterricht, politische Bildung und Demokratie stehen in einem engen Zusammenhang. Aufgabe des Politikunterrichts ist es, die politische Mündigkeit der Individuen zu fördern, damit sie in der Lage sind, an einer offenen Gesellschaft teilzuhaben und das demokratische System kritisch zu begleiten und mit zu gestalten. Dabei handelt es sich möglicherweise um eine - auf den ersten Blick - paradox erscheinende Grundeinsicht: Gerade die Kritikfähigkeit der Individuen gegenüber dem demokratischen System und ein damit einhergehender Wandel führen zur Stabilität der Demokratie. Im Umkehrschluss ermöglicht nur die Demokratie dem mündigen Individuum diese Freiheit zur Kritik und zur gesellschaftlichen Veränderung. "Guter" Politikunterricht versucht, Kompetenzen und Wissen bezüglich dieses Zusammenspiels von Individuum und Demokratie nicht zuletzt anhand von Methoden zu fördern.
Serienintro: "Die Kraft des mikro" war der Titel unseres Werkstattgesprächs über soziale Mikroinnovation, das vor gut zwei Jahren erschienen ist. Die Intention damals: Zu prüfen, ob der Begriff "soziale Mikroinnovation" dazu taugt, ein zu wenig beachtetes gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben: die Kraft kleinteiliger Veränderungen. Seither ist uns das "Mikro" immer wieder begegnet, in ganz unterschiedlicher Gestalt. Sei es in Form quasi minimalinvasiver Interventionen, sei es in Form der Reduktion auf ein Minimum von etwas. Das war der Anstoß, zu schauen, welche Ansätze innovativer, kleinteiliger, angepasster Instrumente, Methoden und Lösungen in ganz unterschiedlichen Themenfeldern zu finden sind. Die Herangehensweise: fragen. Und offen sein für die Ideen und Gedanken hinter dem Begriff. Eine Suchbewegung.
Das Interview haben wir schriftlich geführt.
Zitate
"Methoden sind ein entscheidender Weg, um politischer Mündigkeit Ausdruck zu verleihen. Methoden im Politikunterricht sind eine entscheidende Hilfe, damit zukünftige mündige Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Kritik-, Urteils- und Handlungsfähigkeit Demokratien langfristig lebendig halten." Peter Massing: Methoden für politische Mündigkeit
"Gerade die Kritikfähigkeit der Individuen gegenüber dem demokratischen System und ein damit einhergehender Wandel führen zur Stabilität der Demokratie." Peter Massing: Methoden für politische Mündigkeit
changeX 29.06.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Siegfried Frech, Hans-Werner Kuhn, Peter Massing (Hrsg.): Methodentraining für den Politikunterricht I. Mikromethoden - Makromethoden. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2014, 240 Seiten, 29.80 Euro (D), ISBN 978-3-89974096-7
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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