Reingelesen 2 | 2021
Reingelesen - Buchvorstellungen im Sommer 2021
Hier unsere neue Buchumschau mit - wieder mal - elf Kurzrezensionen aktueller Titel aus den Wirtschafts- und Sachbuchprogrammen der Verlage - querbeet durch Themen und Disziplinen. Dieses Mal geht es um eine Bewegung zum Weniger-statt-mehr, die ungehemmtes Wachstum infrage stellt und einen anderen Lebensstil voranbringt, um Klimaschutz für Unternehmen, um Urteilsfehler, die zu krass ungerechten Entscheidungen führen, um ein Wirtschaftsmodell, das auf der Gleichwürdigkeit aller Menschen beruht, um die Lebendigkeit von Unternehmen und Organisationsmodelle als Kunst, um Nichtstun als Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie, um Angst und die Unfähigkeit des modernen Menschen, mit Unsicherheit zu leben, um Verantwortung unter den Bedingungen von Ungewissheit, um Selbsttäuschung im digitalen Zeitalter, um ein kreatives Verbundensein, das hilft, tiefere Beziehungen zur Welt aufbauen können, und schließlich darum, warum die Lösung immer der beste Fehler ist. Auswahl: Winfried Kretschmer mit Katharina Kiening von pro zukunft, die drei Bücher von Jia Tolentino, Jenny Odell und Kae Tempest in die Auswahl einbringt: "Alle drei widmen sich einer Ökonomie, die auf einer Ausbeutung der Aufmerksamkeit beruht. Es sind Stimmen einer Generation, die langsam, aber sicher anfängt, in Büchern über sich selbst zu sprechen." Reihenfolge: alphabetisch nach den Namen der Autoren. Kurzrezensionen: Winfried Kretschmer (wk), Katharina Kiening (kk) und Dhenya Schwarz (ds)
Tobias Esch:
Mehr Nichts!.
Warum wir weniger vom Mehr brauchen.
Goldmann Verlag, München 2021, 432 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-442-31610-6
Brauchen wir mehr oder weniger Wachstum? Oder vielleicht gar keines? Die zentrale Konfliktlinie, die ökonomische Welten trennt. "Es ist an der Zeit, das verhängnisvolle Lebensmodell des ewigen Mehr infrage zu stellen", schreibt Tobias Esch, Professor für integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke, in seinem neuen Buch. Es geht darin also nicht nur um ökonomisches Wachstum, um Degrowth oder Postwachstum, sondern es geht um eine Lebensart, einen Lebensstil, um ein Prinzip oder Paradigma, das tief in den gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen verankert ist, ebenso wie in den Individuen. Das aber offensichtlich Risse bekommen hat. Esch registriert eine Bewegung zum Weniger-statt-mehr als umfassenden Trend in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Sektoren. Dem spürt er in seinem Buch nach: vor allem in der Medizin, seiner Hausdisziplin, auf gut der Hälfte der Buchseiten, im Feld von Glauben und Achtsamkeit, wo er durchaus kritisch den Trend zu Meditation, Achtsamkeit und Esoterik diskutiert, aber auch auf dem Kerngebiet des Postwachstumsdenkens, in Wirtschaft und Ökologie. Hier versichert er sich der Unterstützung prominenter Expertinnen und Experten. Dieses breite Themenfeld macht schon deutlich: Das Buch handelt nicht allein von der äußeren, sondern vor allem von der inneren Dimension dieses Strebens nach immer mehr. Zielstrebig und ohne sich mit wohlfeiler Kapitalismuskritik aufzuhalten, steuert Esch auf den Kern der Wachstumsfrage zu: Es geht um ein Paradigma, das einem Magnetfeld gleich alles in seinem Bannkreis auf mehr polt, Institutionen wie Organisationen, Individuen, Denkweisen. Das aber in seiner Bindungswirkung zunehmend schwächer wird. Das ist der Gegentrend, den Esch registriert: eine "Bewegung von der Fülle zur Leere", zum metaphysischen Nichts. Ein Nichts, das nicht nichts ist, sondern viele Facetten hat und auch eine Reduktion auf den Kern, auf das Wesentliche sein kann. Seine Schlussfolgerung: "Wir brauchen einen anderen Lebensstil, ein anderes Zusammenleben, mehr Beteiligung und Partizipation, mehr Verantwortung für den Einzelnen, genauso vom Einzelnen für das Ganze." (wk)
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Ferry Heilemann:
Climate Action Guide.
Klimaschutz für Unternehmen. Konkret. Nachhaltig. Wirksam.
Murmann Publishers, Hamburg 2021, 200 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-86774-679-3
Das ist unmissverständlich: Wer das Buch aufschlägt und die erste Seite mit dem Innentitel umblättert, sieht sich mit einer grünen Doppelseite konfrontiert - links: "Klimaschutz für Unternehmen. Konkret. Nachhaltig. Wirksam." Und rechts ein großformatiger Abspielbutton, wie man ihn von den Videos kennt. Es geht also darum, zu beginnen, endlich anzufangen und ernst zu machen mit dem Klimaschutz. Geredet worden ist genug, jetzt geht es ums Handeln: Action! Das ist die glasklare Botschaft dieses Buches. Jedoch ist es kein blinder Aktionismus, den der Serial Entrepreneur und Klimaaktivist Ferry Heilemann predigt. Und auch kein Nachhaltigkeitswischiwaschi, wie man es aus den entsprechenden Konzernreports kennt. Heilemann setzt sich ein für ein neues Betriebssystem, das den überkommenen Finanzkapitalismus ablöst und die Interessen aller Menschen, des Planeten und der Wirtschaft in Einklang bringt: Impact Capitalism. Das Ziel: eine neue Art von Kapitalismus zu schaffen, der von einem sozialen Zweck durchdrungen ist. Heilemann plädiert auch nicht für Disruption oder Revolution, sondern für eine schnelle, zielgerichtete Transformation hin zu diesem neuen Modell. Nach einem sehr kompakt-informativen Einführungsteil geht es ran an die Climate Action, laut UN-Generalsekretär António Guterres "the barometer of leadership in today’s world". Für die Bereiche Energie, Mobilität, Ernährung, Finanzen, Büro, Rohstoffe, Logistik und Kompensation präsentiert der Autor ganz konkrete, einfache und nachvollziehbare Handlungsanweisungen, wie Unternehmen ihre klimaschädliche Wirkung reduzieren können. Von A wie Atmosphäre bis Z wie Zero Waste. Für Unternehmen das Ratgeberbuch der Stunde.
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Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein:
Noise.
Was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können.
Siedler Verlag, München 2021, 480 Seiten, 30 Euro (D), ISBN 978-3-8275-0123-3
Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat mit Schnelles Denken, langsames Denken einen Weltbestseller vorgelegt. Gleiches gelang Cass R. Sunstein mit Nudge. Nun haben sich die beiden mit Olivier Sibony zusammengetan und ein Buch geschrieben, das ebenfalls das Zeug hat, einer zu werden. Ihr Thema sind Urteilsfehler. Bislang wurden diese vor allem unter dem Oberbegriff Bias thematisiert, also systematische Abweichungen, die auf kognitiven Verzerrungen von Denkprozessen basieren, etwa Selbstüberschätzung, Verankerung, Verlustaversion, Verfügbarkeitsheuristik und andere mehr. Biases leuchten ein, denn sie befriedigen das menschliche Bedürfnis nach kausalen Erklärungen. Noise hingegen ist ein rein statistisches Phänomen. Nur eine statistische Betrachtungsweise befähigt uns, es zu erkennen, und das ist wohl der Grund dafür, dass Noise weniger auffällig und weniger bekannt ist als Bias. Mit dieser Schieflage aufzuräumen, ist das zentrale Anliegen dieses Buches. "Wenn wir Urteilsfehler verstehen wollen, müssen wir sowohl Bias - die systematische Abweichung, die Verzerrung - als auch Noise - die Zufallsstreuung, das störende Rauschen - verstehen." Bei Bias liegen die Abweichungen in einer Richtung, bei Noise sind sie gestreut. Noise liegt vor, wenn Entscheidungen abhängig von der Person des Entscheiders und oder ihn beeinflussender Rahmenbedingungen bei sonst gleichen Voraussetzungen zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen. Etwa wenn straffällig gewordene Menschen für genau die gleiche Straftat unter ansonsten gleichen Bedingungen völlig unterschiedliche Strafmaße erhalten. Oder wenn, wie in den USA geschehen, ein Richter fünf Prozent der Asylsuchenden anerkennt, ein anderer aber 88 Prozent. Noise findet sich überall, wo entschieden wird: in der Medizin, bei Vorhersagen, bei Asyl- und Personalentscheidungen, in der Justiz, bei Versicherungen, im Patentwesen, in der Kriminaltechnik, etwa bei der Beurteilung von Fingerabdrücken - und beinahe immer sind sie verbunden mit krassen Ungerechtigkeiten. Das sei nur die Spitze eines riesigen Eisbergs, reklamieren die Autoren: "Wo Urteile getroffen werden, gibt es Noise - und zwar mehr, als man gemeinhin erwartet." In ihrem Buch befassen sich Kahneman, Sibony und Sunstein ausführlich mit der Entstehung von Fehlurteilen und den Bedingungen der Urteilsbildung; am Ende wenden sie sich der großen Chance zu, die sich mit einer Zurückdrängung von Noise - durch neue Prozesse oder durch Algorithmen - verbinde: "Riesige Summen würden eingespart, die öffentliche Sicherheit würde sich verbessern, das Gesundheitssystem wäre effizienter, es gäbe weniger Ungerechtigkeiten, und viele vermeidbare Fehler würden verhindert." Zweifellos ein eminent wichtiges Buch, weil es die krassen Ungerechtigkeiten ins Blickfeld rückt, die aus rein zufälligen Konstellationen bei Entscheidungen entstehen. Zu hinterfragen ist allerdings die implizite Annahme, dass es für jeden Entscheidungsfall eine bestmögliche Entscheidung gebe. Eine, die sich aus der Sachlage selbst ergibt und nicht erst von den beteiligten Menschen verhandelt werden muss. Allzu technikgläubig erscheint auch das Vertrauen auf Algorithmen. Die mögen Noise zwar treffsicher eliminieren, das Problem ist aber, Algorithmen biasfrei zu bekommen.
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Uwe Lübbermann:
Wirtschaft hacken.
Von einem ganz normalen Unternehmer, der fast alles anders macht. Mit Illustrationen von Lennart Herberhold.
Büchner Verlag, Marburg 2021, 142 Seiten, 0 Euro (D), ISBN 978-3-96317-233-5
"Bei uns arbeiten alle, wo sie wollen, wann sie wollen, und sehen dabei aus, wie sie wollen." So beschrieb Uwe Lübbermann im Interview mit changeX, wie bei Premium Cola gearbeitet wird. Vor sechs Jahren war das, und jetzt gibt es das Buch dazu. Endlich, möchte man sagen, denn das Unternehmens- und Wirtschaftsmodell, das der Autor vertritt, verdient, genauer betrachtet zu werden. So ist in dem Buch nicht nur eingehend beschrieben, wie das kollektiv geführte Unternehmen funktioniert. Uwe Lübbermann, ein Unternehmer, der fast alles anders macht, beschreibt darin auch seine Vorstellung einer Wirtschaft, für die gleiches gilt: die anders ist als das, was wir als Wirtschaft kennen, und das, was als Wirtschaft gelehrt wird: eine Wirtschaft, "die mehr auf Kooperation als auf Konkurrenz setzt, die das Erreichen gemeinsamer Ziele den einsamen Siegen vorzieht, und die wirtschaftlichen Erfolg vor allem daran bemisst, wie gut alle Teilnehmerinnen an der gemeinsamen Unternehmung versorgt werden können". Entsprechend seinem handlungspraktischen Wesen beschreibt Lübbermann dieses Modell einer anderen Wirtschaft an dem egalitären, basisdemokratischen, partizipativen Geschäftsmodell von Premium Cola, das basiert auf den Ideen der Gleichwürdigkeit aller Menschen und der Beteiligung aller Betroffenen, das heißt aller Menschen, die mit dem Unternehmen zu tun haben, von den Lieferanten über die Mitarbeitenden bis hin zu den Kundinnen. Und was ist nun mit "Wirtschaft hacken", dem Buchtitel? Dazu findet sich explizit erst auf der drittletzten Seite etwas, ganz lapidar: "Die Wirtschaft lässt sich hacken." Wurde da noch schnell was dazu geschrieben, um den guten Titel zu rechtfertigen? Irrtum! In dem Buch geht es um nichts anderes: Jeder Gedanke, jede Geschichte, jedes Beispiel handelt eben davon, wie sich die etablierte Art des Wirtschaftens wenden, drehen, hacken lässt. Dieses Buch macht deutlich: Auf die einzelne Handlung kommt es an. Letztlich: Vertraue ich der/dem anderen oder vertraue ich nicht?
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Silke Luinstra:
Lebendigkeit entfesseln.
Acht Prinzipien für ein neues Arbeiten in Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft.
GABAL Verlag, Offenbach 2021, 264 Seiten, 32 Euro (D), ISBN 978-3-96739-031-5
Soweit ersichtlich war es der Unternehmensberater und Buchautor Matthias zur Bonsen, der den Begriff Lebendigkeit zum ersten Mal für Unternehmen verwendet hat, jedenfalls im Sinne einer Kategorie, die den Erfolg einer Organisation erklären soll. "Mit den und nicht gegen die Gesetzmäßigkeiten und Muster des Lebens und lebendiger Systeme zu führen und zu organisieren", war die These seines Buches Leading with Life, das vor elf Jahren erschienen ist. Also noch vor dem großen Hype um das Thema Agilität, dem Begriff, der dann alles andere in den Hintergrund gedrängt hat. Nun, da der Hype abebbt, entsteht wieder Raum für andere Deutungsmuster. Wie das von Silke Luinstra, deren Buch "Lebendigkeit" im Titel trägt, und nicht nur in der Unterzeile wie in dem von zur Bonsen. Während der eine Theorie von Organisationen im Blick hatte, speist sich Luinstras Ansatz ganz konkret aus der eigenen Arbeitserfahrung: der Lähmung von Lebendigkeit in diversen Anstellungsverhältnissen, die sie erfuhr - und dann mit den Augenhöhe-Filmprojekten erfolgreich abstreifen konnte. Lebendigkeit entfesseln ist somit auch eine sehr persönliche Geschichte. Luinstras Prinzipien für eine neue Arbeitswelt speisen sich aus ganz konkreten Erfahrungen mit der alten. Das Buch ist eine Erkundungsreise durch eine im Entstehen begriffene neue Arbeits- und Organisationswelt. Sie führt entlang von acht grundlegenden Prinzipien für die Entfesselung von Lebendigkeit in Organisationen: leise wirken, Sinn entfalten, Augenhöhe anstreben, Autopoiese respektieren, Selbstorganisation organisieren, selbst denken und selbst machen, Wege erforschen und Entwicklung neu denken. Lebendigkeit ist für die Autorin dabei die entscheidende Zukunftsfrage: "Ohne Lebendigkeit werden Unternehmen auf die immer größer werdende Dynamik nicht dauerhaft antworten können." Natürlich geht es bei dieser Erkundungsreise immer wieder auch um Formen der Organisation, um Organisationsmodelle. Und darum, was diese nicht sind, nämlich Blaupausen oder Betriebssysteme. Aber was sind sie dann? Hier bringt Silke Luinstra einen schönen Gedanken ins Spiel: Für sie sind Organisationsmodelle so etwas wie Kunstwerke. Sprich: Mit ihnen sollte man umgehen wie mit Kunst …
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Jenny Odell:
Nichts tun.
Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen.
Verlag C.H.Beck, München 2021, 296 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-406-76831-6
Nichts tun klingt zunächst ziemlich entspannend, wie wir aber im Verlauf der Lesereise durch Jenny Odells Gedanken herausfinden, hat es nicht selten auch etwas mit Disziplin, Mut und Widerstand zu tun. Es geht bei Weitem nicht um einen Zustand von Faulheit, sondern um einen Gegenentwurf zur Aufmerksamkeitsökonomie. Nichts tun hat nach Odell demnach mit der Rückgewinnung der Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zu tun, mit dem Ausstieg aus dem Dogma, dass "etwas tun" nur im Sinne der Produktivität möglich ist. Und damit, sich Räume und auch Zeit zu schaffen, um den Blick und die Gedanken schweifen lassen zu können. Räume, in denen ökonomische Prinzipien nur einige von vielen sind und das "höher, schneller, weiter" der kapitalistischen Realität dem "was und wer ist um mich" weicht. Wir begleiten Odell auf Spaziergängen und Ausflügen in Stadt und Natur, in denen sie den Wert dessen deutlich macht, was sie im Hier und Jetzt leben nennt. Sie tut mit diesem Buch genau das, wovon sie uns auch erzählt: Sie leitet unsere Aufmerksamkeit nur wenig, überall bleibt genug Raum, um abzuschweifen, den zahlreichen Beispielen oder eigenen Gedanken nachzugehen, sie wahrzunehmen und für sich zu reflektieren. Was bedeutet: Kontext wiederzugewinnen. Widerstand zu leisten gegen die "neue Kontextlosigkeit" der sozialen Medien. Das verlangt geschärfte Aufmerksamkeit und "fordert uns dazu auf, uns von der Vorstellung separater Entitäten, eindimensionaler Entstehungsgeschichten und klarer Kausalitäten, in denen B aus A folgt, zu lösen. Es benötigt aber auch Demut und Offenheit, denn Kontext zu suchen heißt, sich bereits einzugestehen, dass man nicht die ganze Geschichte kennt." Und es braucht Zeit: "Kontext ist das, was zum Vorschein kommt, wenn man seine Aufmerksamkeit lange genug auf etwas richtet; je länger man sie aufrechterhält, desto mehr Kontext tritt zutage." Unter Verwendung eines Textes von Dhenya Schwarz (ds)
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Roland Paulsen:
Die große Angst.
Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor.
Mosaik Verlag, München 2021, 416 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-442-39386-2
Was, wenn dieses Buch doch diesen Titel getragen hätte: Was, wenn? Auf Schwedisch Tänk om, der Originaltitel. Nun hat sich der deutsche Verlag für Die große Angst entschieden, verwischt damit aber leider den feinsinnigen, differenzierenden Ansatz des Originals. Denn es geht nicht um die große Angst, es geht um die kleinen Ängste, die die Menschen umtreiben, und die sich schon zu einem gesellschaftlichen Phänomen summieren, aber eben nicht in Sinne einer Megaangst. Roland Paulsens Diagnose ist eine andere. Sie besagt, dass sich in neuerer Zeit immer mehr Menschen diese kleine Frage stellen: "Was, wenn?", und damit eine Unsicherheit gegenüber der Zukunft artikulieren, die historisch neu zu sein scheint, obwohl sie eben nur kleinteilig und disparat ist. Paulsens Ausgangspunkt ist ein viel zitierter Befund: "Alle verfügbaren Statistiken kommen zum selben Ergebnis: Wir fühlen uns schlechter denn je." Am Beispiel von Zwangsstörungen und Zwangsgedanken, ausgebreitet in zahlreichen persönlichen Interviews, entwickelt der schwedische Soziologe das "Krankheitsbild" der modernen Gesellschaften: "Der moderne Mensch ist ganz allgemein unfähig, mit Unsicherheit zu leben." Das Buch will zeigen, wie das soziale Fundament der Gegenwart erodiert ist, weil der Zukunftshorizont sich "bis zur Unbegreiflichkeit ausgedehnt" hat. Das Denken in Kausalitäten (was, wenn …) ist ein Hilfsmittel im Umgang mit Unsicherheit. Menschen stellen sich Dinge vor, die passiert sind oder vielleicht passieren könnten, sie berechnen Wahrscheinlichkeiten und wägen Risiken gegeneinander ab. In starker Verdichtung zeigt sich in der Coronapandemie, was Paulsen als Kennzeichen der Moderne schlechthin ausmacht: die fortwährende Beschäftigung mit Risiken, verbunden mit gleichzeitiger Unfähigkeit, damit umzugehen. "Was, wenn", das drückt aus, "wie kompliziert das Leben geworden ist". So gesehen ist es der Verlust des Vertrauens auf eine sichere Zukunft, der unsere Zeit auszeichnet. Das ist als Generalthese nichts Neues, aber beeindruckend ist, wie der Soziologe diesem Phänomen nachspürt: feinsinnig, offen und interessiert daran, wie sich das Kleine im Großen spiegelt. Sein Interesse gilt dabei Ersterem, Gesellschaftstheorie ist nicht sein Ding. Aber seine Diagnose ist in diese Richtung offen. "Was, wenn", das artikuliert im Grunde die Erfahrung von Kontingenz: Es bedeutet, es könnte auch anders sein. Ist unsere Gesellschaft also als Kontingenzgesellschaft zu beschreiben? Noch ein Bezug fällt auf: Die Ausdehnung des Zukunftshorizonts bedeutet zugleich, dass die Menschen immer weniger im Augenblick, im Jetzt leben und den Bezug dazu verloren haben, zeitlich wie örtlich. Diese Spur wiederum spiegelt sich in einigen anderen aktuellen Publikationen. Sie gilt es weiterzuverfolgen. (wk)
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Ina Schmidt:
Die Kraft der Verantwortung.
Über eine Haltung mit Zukunft.
Edition Körber, Hamburg 2021, 272 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-89684-285-5
Viel ist von Verantwortung die Rede - was aber ist, was bedeutet eigentlich Verantwortung? Keine einfache Frage, denn offensichtlich ist Verantwortung ein vielschichtiger Begriff, der beschreibende wie bewertende Elemente enthält und sich auf ganz unterschiedliche Aspekte bezieht. Der Begriff ist uneindeutig, und Eindeutigkeit ist auch konstitutiv dafür, wenn Verantwortung ins Spiel kommt: Gerade weil es auf viele Fragen "keine eindeutigen Antworten gibt, ist das gefragt, was wir Verantwortung nennen", schreibt die Philosophin und Publizistin Ina Schmidt in ihrer sehr ansprechenden Abhandlung zum Thema. In ihrem Buch Die Kraft der Verantwortung klärt sie die Begriffe, beschreibt Verantwortung als soziales Phänomen und entwickelt die Rahmenbedingungen einer denkbaren Praxis der Verantwortung. Verantwortung begreift sie dabei als ein dem Menschen innewohnendes Streben, das Gute zu wollen und zu tun, mithin als eine soziale Praxis. In kürzestmöglicher Formulierung ist Verantwortung "die Suche nach guten Antworten". Dazu, so Schmidt, brauchen wir eine moderne Form der Klugheit - gerade unter Bedingungen von Ungewissheit. "Denn in der volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt, in der wir leben, geht es gerade deswegen darum, klug zu handeln, weil wir die genauen Mittel und Wege nicht kennen."
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Kae Tempest:
Verbundensein.
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2021, 138 Seiten, 12 Euro (D), ISBN 978-3518471647
Rap, Lyrik, Literatur - Kae Tempest brilliert darin. Nicht zuletzt der Ted Hughes Award, der Lyrikpreis der britischen Poetry Society, zeugt davon. Nun liegt ein erster Essayband vor. Es geht darin um das Verbundensein: "Darum, wie uns das Eintauchen in Kreativität hilft, uns gegenseitig näherzukommen und unser Selbstbewusstsein zu stärken. Wie wir durch ein feineres kreatives Verbundensein Mitgefühl entwickeln und tiefere Beziehungen zur Welt aufbauen können." Die formulierten Ideen mögen nicht neu sein, aber es ist ein Erlebnis, sie in dieser dringlichen, kunstvollen Sprache - die englische Originalausgabe sei ans Herz gelegt - zu lesen und damit einen anderen Zugang zu erhalten. Tempest schreibt von einer Kreativität, die sich auf alles bezieht, das mit Aufmerksamkeit, Geschick und Erfindungsgabe einhergeht; von Verbundensein, das sich mit einem starken Selbst-Bewusstsein, einem Gefühl des Seins, einer Verankerung in der Gegenwart beschreiben lässt; und von einer Kombination dessen, einem kreativen Verbundensein: wie wir durch Kreativität eine tiefere Beziehung zu uns selbst, unseren Mitmenschen und der Welt aufbauen können. "Abstumpfung ist die logische Reaktion auf den Ansturm der Zeit", sagt Tempest und schreibt dagegen an, indem sie etwa von Performance- und Lebenserfahrungen, von Menschenbegegnungen, digitalen Räumen und Achtsamkeit berichtet und all das stets mit Kapitalismuskritik verflicht. (kk)
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Jia Tolentino:
Trick Mirror.
Über das inszenierte Ich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 368 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-10-397056-2
Neun Essays versammelt Jia Tolentino in diesem Band, alle haben sie eine unterschiedliche thematische Ausrichtung, und alle forcieren eine gewinnbringende Reflexion des Selbst, soweit dies in Anbetracht der immer da seienden Wissens- und Verständnisgrenzen möglich ist. Jeder Essay gibt einer Idee oder vielmehr einer Frage Raum, über die sich Tolentino Klarheit zu verschaffen sucht. Wir können gewissermaßen ihrem Gedankenprozess folgen und nachvollziehen, wie sie sich einer Thematik mittels diverser Zugänge nähert, diese regelrecht einkreist, um die komplexen Bestandteile einer immer schneller werdenden, auf Monetarisierung jedes Teilbereichs ausgerichteten Welt sowie die meist mitspielende Rolle des Individuums darin ein Stück weit besser zu verstehen. Tolentino verdeutlicht gesellschaftliche Dynamiken voller Widersprüche anhand ihrer Biografie, die 1988 beginnt. Roter Faden ist das "inszenierte Ich", wie es im Untertitel heißt, Mechanismen der Selbsttäuschung im digitalen Zeitalter. Ihr Bestreben ist es, Sinnmuster in einem spätkapitalistischen Chaos zu entdecken, in dem alles ausgeschlachtet wird, "nicht mehr nur Güter und Arbeitskraft, sondern auch Persönlichkeit, Beziehungen und Aufmerksamkeit". Auch wenn es in den Essays keine Antworten zu finden gibt, provoziert Tolentino doch mit scharfsinnigen, moralisierenden Überlegungen eine Verschiebung der Weltsicht - ihrer eigenen wie die ihrer Leserïnnen. Konsequent selbstkritisch bleibt sie dabei bis zum Schluss: "Ich kann das leise, unangenehme Summen der Selbsttäuschung hören, wann immer ich über all dies nachdenke - ein Ton, der nur noch lauter wird, je mehr ich versuche, ihn durchs Schreiben loszuwerden. Ich spüre, wie der tiefsitzende und wiederkehrende Verdacht an mir nagt, dass alles, was ich über mich selbst denken könnte, irgendwie zwangsläufig falsch sein muss." (kk)
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Paul Watzlawick:
Die Lösung ist immer der beste Fehler.
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2021, 61 Seiten, 10 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0389-9
"In Gegenwart eines anderen Menschen ist alles Verhalten Kommunikation. Daher kann man nicht nicht kommunizieren." Das ist die berühmte und viel zitierte Formulierung von Paul Watzlawick, genauer das erste grundlegende Axiom seiner Kommunikationstheorie. In dieser Formulierung findet es sich in einem kleinen Bändchen, das der Carl-Auer Verlag zum 100. Geburtstag von Paul Watzlawick veröffentlicht hat, einen bislang nicht publizierten Vortrag, den der Stanford-Professor 1995 auf einem Kongress in München gehalten hat. Es ist ebenso charmante wie witzig-weise Einführung in die grundlegenden Axiome von Watzlawicks Kommunikationstheorie mit einem finalen Schlenker hin zum radikalen Konstruktivismus. "Die Kommunikation erzeugt … auf mannigfachste Weise Wirklichkeiten - auch manchmal in einer Weise, die den Betreffenden gar nicht klar ist", sagt Watzlawick. Und folgert: Da immer nur Als-ob-Annahmen wirklich sein können, ist "die Lösung … immer der beste Fehler". Mit zahlreichen Anekdoten, aus dem Leben gegriffenen Begebenheiten und Fallbeispielen aus der therapeutischen Praxis ist das höchst amüsant zu lesen und lehrreich zudem (und sei es als Wiederholung und Auffrischung). Wir erfahren zugleich ganz nebenbei - und das ist vielleicht die netteste Pointe dieses so charmanten Vortrags, wie es der Meister dann doch schaffte, nicht zu kommunizieren. Wenn sich der Sitznachbar im Flugzeug, ein Amerikaner wahrscheinlich, auch durch beharrliches Aus-dem-Fenster-Starren nicht davon abhalten lässt, das Gespräch zu suchen, und fragt: "Woher kommen Sie?", dann, so Watzlawick, "sehe ich ihn freundlich an und sage: ‚Yes‘. Das ist meist das Ende dieser Kommunikation."
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