Reingelesen 4: Herbst 2019
Die aktuelle Bücherliste mit Neuerscheinungen der Saison
Wir leben in einer Übergangszeit. Einer Welt des Dazwischen. Das ist das übergreifende Thema der aktuellen changeX-Buchempfehlungen. Die Mehrzahl der vorgestellten Titel dreht sich um diesen Umbruch, und auch sonst geht es um Brüche und um Perspektivenwechsel. Und sei es in Gestalt der Einsicht, wie wenig wir doch tatsächlich wissen. Auswahl und Texte: Winfried Kretschmer. © Coverabbildungen: Verlage Beltz, Campus, Carl-Auer, C.H.Beck, Franz Vahlen, GABAL, Murmann
Armin Nassehi:
Muster.
Theorie der digitalen Gesellschaft.
C.H.Beck, München 2019, 352 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-406-74024-4
Mit der Digitalisierung gibt es offenkundig ein Problem. Denn vieles, was zeitgeistig als "digital" beschrieben wird, wurzelt genau besehen in längerfristigen Entwicklungen, die in Zeiten zurückreichen, da Computer sich längst noch nicht flächendeckend durchgesetzt hatten oder gar erst als Prototyp oder Denkmodell existierten. Was war zuerst: die Digitalisierung oder der Wandel der Gesellschaft? Das ist das Thema von Armin Nassehis neuem Buch. Er fragt, "für welches Problem die Digitalisierung eine gesellschaftliche Lösung ist". Seine These lautet, "dass die Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur". In seinem Buch will Nassehi zeigen, "dass die moderne Gesellschaft bereits vor dem Einsatz digitaler Computertechnologien eine digitale Struktur hatte". Oder anders gesagt: "Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst." Während vormoderne Gesellschaften bei aller Vielfalt ihrer Ausdrucksformen doch recht einfach strukturiert waren und sich alles, so Nassehi, in ein Oben-unten-Schema fügte, wird Gesellschaft in der Moderne unübersichtlicher. Unterschiedliche Ordnungsformen existieren nebeneinander. An dieser Komplexität der Gesellschaft setzt die Digitalisierung an - indem sie in deren Unübersichtlichkeit Muster erkennt. Damit liegt, so Nassehis Schluss, "die Digitalität der Gesellschaft in ihrer eigenen Struktur und in ihrer Komplexität begründet".
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Thomas Beschorner:
In schwindelerregender Gesellschaft.
Gleichgewichtsstörungen der modernen Welt.
Murmann Publishers, Hamburg 2019, 200 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-86774-631-1
Unsere Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Scheint irgendwie aus den Fugen geraten. Sie ist schwindelerregend geworden. Das Wortspiel mit dem Begriff Schwindel bildet die verbindende Metapher der Zeitdiagnosen, die der Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner in seinem neuen Buch anbietet - in einem doppelten Sinn: Nicht nur die Gesellschaft mit ihren systematischen Schieflagen ist schwindelerregend geworden, ihre Unübersichtlichkeit und Komplexität ruft auch Schwindler auf den Plan, die mit einfachen Antworten die Menschen hinters Licht führen. In der Tat hat der Schwindel als Gleichgewichts- wie als Wahrheitsstörung dieselbe Wortwurzel, wie der Autor in Grimms Wörterbuch nachschlagend zeigt. Schwindlig machen kann einen auch die Heterogenität der 24 Kapitel des Buchs, die sich wie eine Achterbahnfahrt durch die Gesellschaft lesen. Die Texte sind bereits als Zeitschriften- oder Blogbeiträge erschienen, wurden aber nicht nur aneinandergeklatscht, sondern redaktionell bearbeitet und miteinander verschränkt. Drei Diagnosen Beschorners stechen hervor: Erstens befinden wir uns in einer "liminalen Periode", einer Zeit des Übergangs, in der herrschende Ordnungs- und Regelungsprinzipien ihre Gültigkeit verlieren. "Die Welt verflüssigt sich." Zweitens bildet sich ein "neues Ich" heraus, das "seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmittelpunkt stellt", gleichwohl aber keine stabile, sondern nur eine fluide Identität herauszubilden vermag. Drittens braucht es dringend neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe, braucht es soziale Experimente, um dieses flatterhafte neue Ich in die Gesellschaft einzubinden. Und zugleich den Schwindlern Einhalt zu gebieten.
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Jeremy Rifkin:
Der globale Green New Deal.
Warum die fossil befeuerte Zivilisation um 2028 kollabiert - und ein kühner ökonomischer Plan das Leben auf der Erde retten kann.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2019, 319 Seiten, 26.95 Euro (D), ISBN 978-3-593511351
Auf Jeremy Rifkin ist Verlass. Der Bestsellerautor hat ein sicheres Gespür für die Themen der Zeit - was Rifkin sagt, ist Trend oder wird es. Er ist der Mann für die großen Zukunftsbilder, die großen Entwürfe, die Wendepunkte in der Entwicklung der Zivilisation markieren: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Die empathische Zivilisation, Die dritte industrielle Revolution, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft , so seine Bestseller. Und nun der Green New Deal. Ursprünglich wurde die Idee von Thomas Friedman formuliert, 2007 war das, und hat seither einige Unterstützung erfahren. Aber Rifkin wäre nicht Rifkin, wenn er es dabei belassen würde, einen vorliegenden Gedanken auszuführen. Natürlich wird bei ihm der Green New Deal zum Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte, zum Aufbruch in eine (nun endlich) nicht-fossile Form des Wirtschaftens. Jedoch ist sein Green New Deal kein bewusst in Gang gesetztes politisches Programm (ganz anders übrigens als in Naomi Kleins kürzlich erschienenem Buch zum selben Thema). Rifkin denkt von der Ökonomie her. Bei dem kommenden Umbruch handele es sich "weitgehend um eine Äußerung des Marktes". Rifkins entscheidende Vorhersage lautet: "Während der nächsten acht Jahre werden Solar- und Windstrom ‚bei Weitem billiger‘ werden als Energie aus fossilen Trägern, was zwangsläufig zu einem Showdown mit dem fossilen Energiesektor führen wird." Die Folge: gestrandete Anlagewerte in Höhe von 100 Billionen US-Dollar. Kurzum: "Die Kohlenstoffblase verspricht die größte ökonomische Blase aller Zeiten zu werden." Das ist die kommende, die große Disruption. Laut Rifkin hat sie bereits begonnen. Mit der Energiewende in Europa. In China. Und weltweit mit dem Rückzug institutioneller Investoren aus den fossilen Energien unter Führung der Pensionskassen. Das Kapital der Arbeiterschaft wird damit zum wichtigsten Treiber der Energiewende.
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C. Otto Scharmer:
Essentials der Theorie U.
Grundprinzipien und Anwendungen.
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2019, 173 Seiten, 24.95 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0274-8
Die Theorie U, so der bekannte Organisationspsychologe Edgar Schein, "bietet eine neue Sprache und lehrt uns neue Wege, die Erkenntnisse der Psychologie der Achtsamkeit mit der Soziologie von Gruppen und den Kräften des politischen und wirtschaftlichen Systems zu integrieren". Schein umschreibt damit treffend, was die Theorie U leisten kann. Zehn Jahre nach Erscheinen seines theoretischen Werkes legt Otto Scharmer nun ein neues Buch vor, die Essentials der Theorie U, in dem es um deren Grundprinzipien und Anwendungen geht. Theorie U ist "eine bewusstseinsbasierte Methode für die Veränderung von Systemen", schreibt Scharmer. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf den blinden Fleck von Führung und Organisation: den "inneren Ort" oder "die Quelle, aus der unser Wirken entspringt". Im Kern geht es darum, das "Herunterladen" von Mustern der Vergangenheit zu durchbrechen. Den Schleier der alten Denkgewohnheiten und früheren Erfahrungen zu zerreißen. Sehen mit neuen Augen zu lernen. Theorie U weist den Weg, "wie Individuen, Gruppen und Organisationen ihr höchstes Zukunftspotenzial erspüren und verwirklichen können". Denn die grundlegende Einsicht, die Scharmer gewonnen hat - wie, das beschreibt er in seinem neuen Buch ebenso persönlich wie anschaulich - lautet: "Die Qualität von Ergebnissen, die ein System erzielt, hängt von der Qualität des Bewusstseins ab, auf dessen Basis die Menschen in diesem System handeln. Das heißt: Form folgt Bewusstsein."
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Joana Breidenbach, Bettina Rollow:
New Work needs Inner Work.
Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation.
Verlag Franz Vahlen, München 2019, 152 Seiten, 19.80 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6137-4
Wenn es um Selbstorganisation, Agilität und Unternehmenstransformation geht, stehen meist die Erfolgsgeschichten im Vordergrund. Nicht die Fehlschläge, die Misserfolge, die gescheiterten Versuche. Doch auch aus ihnen lässt sich lernen. Joana Breidenbach und Bettina Rollow haben einen maßgeblichen Grund für das Scheitern von Organisationsentwicklungen identifiziert: Diese konzentrieren sich beinahe alle "auf die äußere, sichtbare Dimension des Wandels". Sprich die Veränderung von Rollen, Regeln und Strukturen. Doch jede maßgebliche Veränderung in der Außenwelt brauche eine entsprechende Veränderung im Innenleben der einzelnen Menschen, betonen die Autorinnen. Das bedeutet, die subjektiven Empfindungen und Wahrnehmungen der Mitarbeitenden ins Zentrum der Veränderung zu stellen. Es gilt also beides, "Außen und Innen, objektive Strukturen und subjektive Erfahrungen ins Blickfeld" zu nehmen. Nur wenn beides in einen Zusammenhang gebracht wird, kann Veränderung funktionieren, sagen die beiden Autorinnen. Joana Breidenbach ist Gründerin von betterplace, Bettina Rollow beschäftigt sich mit neuen Organisations- und Führungsformen und hat den Wandel bei betterplace begleitet. Die beiden haben ihr Buch zunächst durch Crowdfunding finanziert, nun hat es Vahlen ins Programm genommen. Zu Recht. Das Buch beleuchtet den blinden Fleck in der Organisationsentwicklung, die oftmals zu sehr auf die äußere Dimension, auf Strukturen und Modelle abstellt. Modelle aber, so die Autorinnen "sind idealtypische Abstraktionen: Alle Modelle sind falsch und einige sind hilfreich."
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Steven Sloman, Philip Fernbach:
Wir denken, also bin ich.
Über Wissen und Wissensillusionen.
Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2019, 358 Seiten, 22.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-86558-8
Wir Menschen unterschätzen unser Wissen grundsätzlich und systematisch. "Wir alle wissen weniger, als wir zu wissen glauben", sagen Steven Sloman und Philip Fernbach. Die beiden Kognitionswissenschaftler nennen das "die Wissensillusion": "Wir leben in der Illusion, dass wir die Welt besser verstehen, als wir es tatsächlich tun." Die wichtigste Erkenntnis der beiden Forscher ist, wie unglaublich oberflächlich unser Alltagswissen ist. Wir sind kaum in der Lage, "uns auch nur annäherungsweise ein Bild von der wahren Komplexität der Welt zu machen, und dabei erkennen wir noch nicht einmal, wie wenig wir von den banalsten Dingen wissen und verstehen". Das ist die subjektive Dimension. In ihrem erhellenden Buch lenken die beiden Autoren den Blick indes auf die soziale Dimension des Wissens. Wir müssen gar nicht alles wissen, weil es andere gibt, die es wissen. Das ist die hoffnungsfrohe Botschaft dieses lesenswerten Buchs: "Wenn wir erkennen, wie sehr wir in die Wissensgemeinschaft eingebunden und von ihr abhängig sind, sind wir besser in der Lage, eigene Voreingenommenheiten zu durchschauen."
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Bernhard von Mutius:
Disruptive Thinking Work- und Playbook.
Wie disruptives Denken im Alltag wirksam wird.
GABAL Verlag, Offenbach 2019, 192 Seiten, 34.90 (D), ISBN 978-3-86936-932-7
Unverkennbar gibt es einen starken Wunsch nach praktischer Umsetzbarkeit. Theorie ist gut, aber sie soll praktisch werden. Das gab den Anstoß: Ob es nicht mehr von den anschaulich schönen Bildern gebe, und wie man diese als Tool einsetzen könne - Fragen an Bernhard von Mutius nach seinem Buch Disruptive Thinking. Seine Antwort ist das Work- und Playbook dazu: eine praxisnahe Einführung, fast ein Grundkurs in neuem Denken. Einem Denken, das mit Brüchen, Widersprüchen und Ambiguitäten umzugehen versteht. Disruptive Thinking, wie Mutius es nennt. Disruptive Thinking bezieht seine Kraft aus einem Wechselspiel: "Es besteht nicht nur aus dem Brechen von Mustern und Regeln, sondern auch aus dem Verstehen von Mustern und Regeln." Und erst dieses Verstehen ermöglicht den "verständigen Gebrauch von Tools", gibt Mutius zu bedenken. Sein Workbook ist nicht nur als Einführung interessant, sondern bietet auch Gelegenheit, sich der Grundlagen seines Denkens zu versichern und sein Toolset aufzufrischen. Das Work- und Playbook ist gegliedert in vier Etappen: Der Weg führt, gleich einem Bergweg, über vier Herausforderungen hinweg - die mentale, die strategische, die organisationale und die kulturelle Herausforderung. Für das Buch hat Mutius die Denkbilder und Tools weitgehend neu entwickelt und sich dabei an die Bitte nach praktischer Umsetzbarkeit gehalten. Das Denkbuch zu den Umbrüchen der Zeit.
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