Alles eine Frage der Perspektiven
Wo steht und wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Verharrt sie in der Spätmoderne oder setzt sie an zum Sprung zur nächsten Gesellschaft? Und kann sie die Probleme lösen, die sie heraufbeschworen hat? Alles Fragen, die sich ohne Begriffe wie Komplexität, Kontingenz, System und Perspektive nicht beantworten lassen. Und nicht ohne eine Theorie der Gesellschaft, die das alles in einen Zusammenhang bringt. Multiperspektivität ist das Thema, in der Theorie der Gesellschaft wie in der Gesellschaft selbst.
Gesellschaftstheorie ist wenig beliebt und wird in ihrem Nutzen oftmals angezweifelt. Insofern mag es vermessen wirken, das beinahe zeitgleiche Erscheinen zweier Bücher zur Theorie der Gesellschaft als Glücksfall zu bezeichnen. Gleichwohl, es ist einer, denn selten treten die Unterschiede im Denken und in der Beschreibung von Gesellschaft so deutlich zutage wie in diesen beiden Büchern. Es geht um das neue Buch von Armin Nassehi und die gemeinsame Publikation von Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, alle drei bekannte Soziologen, die sich aus unterschiedlicher Richtung mit unterschiedlichem Ansatz und unterschiedlicher Methodik der heutigen Gesellschaft nähern.
Besonders spannend macht dieses Zusammentreffen, dass sich Nassehi schon in der Bestimmung der Grundlagen seines Nachdenkens über die Gesellschaft explizit von den Theorieansätzen von Reckwitz und Rosa abgrenzt und diese wiederum vom Ansatz der Systemtheorie, für den Nassehi steht. Alle drei tun dies explizit und klar argumentierend. So werden Unterschiede und Trennlinien deutlich, die im wissenschaftlichen Alltagsdiskurs meist nicht in dieser Prägnanz zutage treten. Dazu braucht es tatsächlich die Reflexion über Theorie. Diese macht erst den Kontext von Grundannahmen deutlich, der im Alltagsdiskurs oft gar nicht mehr explizit benannt wird.
Hinzu kommt dann ein dritter Titel, ebenfalls zur Theorie der Gesellschaft, aber mit anderem Ansatz und einer anderen Blickrichtung.
Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst
Unbehagen und Überforderung in der Moderne sind geläufige Topoi, um nicht zu sagen Klischees der Gesellschaftsdiagnose. Wenn Armin Nassehi nun gleich beide Begriffe auf die Titelseite seines neuen Buches schreibt und sie damit zu den zentralen Bezugspunkten seiner Gesellschaftstheorie macht, tut er das freilich nicht ohne Hintergedanken. Listig bemächtigt sich der Münchner Soziologieprofessor der beiden eingeführten und fest in einer kultur- und zivilisationskritischen Denktradition verwurzelten Begriffe, um sie zu drehen und für seinen eigenen theoretischen Ansatz nutzbar zu machen.
Das Unbehagen an und in der Moderne ebenso wie die Überforderung in der modernen Gesellschaft beziehen sich fast immer auf die soziale Dimension, so Nassehis Diagnose. Ein großer Teil der soziologischen Selbstbeobachtung der Gesellschaft sei "nach den Sinnverarbeitungsregeln der Sozialdimension gebaut, vernachlässigt aber die Sachdimension". Im Blick steht stets das Individuum, sein Bezug zur Gesellschaft und zu deren Strukturen. Nassehi dreht nun diese Denkrichtung um. Ihm geht es "nicht nur um die Überforderung von handelnden Personen, von Individuen, von Menschen in einer bestehenden Gesellschaft", sondern "auch und vor allem um eine Überforderung gesellschaftlicher Handlungs-, Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten", die damit zu tun hat, "dass die Strukturen und die Form der Gesellschaft sich selbst überfordern".
Diese Umkehrung der Denkrichtung ermöglicht es nun, die Komplexität der Gesellschaft selbst in den Blick zu nehmen, statt sie nur als Auslöser und Ursache von Unbehagen und Überforderung zu beschreiben. Und sie verlagert den Fokus hin zur Sachebene - und auf theoretischer Ebene zur Systemtheorie. Das bedeutet: Funktionale Differenzierung, also die Ausbildung von Funktions- oder Subsystemen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft ist Grundlage der Leistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft, bringt diese gleichzeitig aber "an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität". Weil irgendwann die Eigenlogik der Bereiche eigenmächtig wird und die Lösung übergreifender Probleme erschwert bis unmöglich macht. Stichwort Silostrukturen. Beispiele: die Klimakrise und die Coronakrise, die beiden Referenzkrisen im Buch.
Das klingt alles sehr theoretisch, ist aber an einer brandaktuellen Ausgangsfrage aufgehängt, die unmittelbar der Lebenswirklichkeit der Menschen - hier: von Nassehis Studierenden - entnommen ist: Die Frage, warum es trotz allen Wissens und trotz aller möglichen Einsicht nicht gelingt, die Probleme der Welt zu lösen, bildet das mehrfach wiederholte Leitmotiv des Buches. Auch das ein Kunstgriff. Ein beliebter Vorwurf an die Systemtheorie lautet, sie würde gewissermaßen so weit über den Wolken fliegen, dass sie die soziale Wirklichkeit nicht mehr in den Blick bekommt. Nassehi baut dem nun vor, indem er reale Sorgen realer Akteure zum Ausgangs- und Bezugspunkt seiner Überlegungen macht. Er stellt aber zugleich klar: Aus dieser Überforderung gibt es kein Entrinnen. Die wenig beruhigende Diagnose lautet, dass die Gesellschaft sich offensichtlich in einem permanenten Krisenzustand befindet, schon weil es einen nicht-krisenhaften Zustand nicht (mehr) gibt. Der oft gehörte Appell, nun endlich rauszukommen aus dem ewigen Krisenmodus, führt somit in die Irre.
Problem und Lösung zugleich
Wie aber kann nun eine Gesellschaft diese Dilemmasituation auflösen? Nassehis Antwort: Die Überforderung ist Problem und Lösung zugleich. Sie kann die Basis für Lösungsperspektiven sein. Hier könnte man sich an Baron von Münchhausen erinnert fühlen, der sich vorgeblich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Doch liegt der Schlüssel zum Verständnis dieses Arguments in der eigenartigen Doppelgestalt der Komplexität. Wachsende Komplexität macht auf der einen Seite Probleme und bringt bestehende Strukturen, Denkweisen, Prozesse und Routinen in Schwierigkeiten, stellt zugleich aber neue Lösungsansätze bereit und erweitert so den Möglichkeitsraum. Doch wie lassen sich neue Möglichkeiten nutzen, wenn doch gewachsene Komplexität gesellschaftlich zunehmende Ausdifferenzierung bedeutet, die, wie diagnostiziert, in Überforderung mündet?
Hier gewinnt nun der sperrige soziologische Begriff der "Anschlussfähigkeit" konkrete Gestalt. Dies meint, dass an eine Kommunikation oder Handlung eine weitere Kommunikation oder Handlung anschließen kann - sprich: dass ein anderer damit etwas anfangen und damit weiterarbeiten kann. Gefragt sind also "Arrangements zwischen den unterschiedlichen Funktionslogiken", die Handlungsfähigkeit herstellen und Zielkonflikte bearbeitbar machen. Zum Beispiel, indem man Leute und Logiken zusammenbringt, die üblicherweise nicht zusammenkommen. Oder Lernprozesse durch Rekombination ermöglicht. Das ist getragen von der theoretisch geleiteten Zuversicht, dass eine Gesellschaft, die in ihrer funktionalen Differenzierung ihre Komplexität gesteigert hat, ihr Komplexitätsniveau nochmals zu erhöhen vermag, um die mit ihrer Ausdifferenzierung gewachsenen Probleme in den Griff zu bekommen.
In eine unerwartete Richtung zielt auch die Überlegung des Autors für einen Ausweg aus der Klimakrise. Möglicherweise, schreibt Nassehi, sei eine Verhaltensänderung durch Konsum leichter zu erreichen als durch Aufklärung - und hat dabei wohl die zahllosen Start-ups, Unternehmen, Biolandwirte, Köche, Gastronomen, Lebensmittelretter et cetera im Blick, die genau daran arbeiten: an einer nachhaltigen Veränderung des Konsums.
Was leistet die Gesellschaftstheorie?
Als Glücksfall kann man es wie gesagt sehen, dass beinahe zeitgleich zu dem Buch von Armin Nassehi ein weiteres erscheint, das sich der Gesellschaftstheorie zuwendet: das neue Buch der Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa. Ihr gemeinsames Buch hätte auch für sich und ohne das Zusammentreffen mit Nassehi seine Berechtigung und seinen Wert, zumal es die beiden Theorien und ihren jeweiligen theoretischen Hintergrund übersichtlich präsentiert und die beiden Autoren darüber hinaus in einem ausführlichen Gespräch zusammenbringt. Das zeitliche Zusammentreffen der beiden Publikationen ermöglicht es jedoch, Trennlinien in der Soziologie der Gegenwart genauer zu bestimmen. Denn wie Nassehi grenzen sich auch Reckwitz und Rosa klar von anderen theoretischen Ansätzen ab. Und beide bestimmen - wie Nassehi - den Standort ihrer Theorie in einem metatheoretischen Kontext. Sagen also, was Theorie allgemein leisten soll, wo ihr Ansatz konkret verortet ist und wodurch er sich von anderen abgrenzt. Dies ermöglicht Einordnung.
Was also leistet die Gesellschaftstheorie? Sie liefere, schreibt Reckwitz, "eine komplexe und systematische Interpretationsweise, um die chaotische Fülle der gesellschaftlichen Tatsachen in ihrer Gesamtheit zu begreifen". Idealerweise ist es das, was eine Theorie leisten kann. Stehen aber mehrere Theorien nebeneinander (und gegeneinander), reproduziert sich das Chaos schnell auf einer höheren Ebene. Dann ist Einordnung gefragt: ein systematischer Vergleich und eine Klärung von Grundlagen und Prämissen. Das leisten Reckwitz und Rosa in ihren ausführlichen, 99 und 125 Seiten umfassenden Buchbeiträgen. Und sie skizzieren einen Weg, wie die soziologische Theorie aus dem Dilemma zwischen system- und handlungsorientierten Ansätzen herauskommen könnte: beide Perspektiven parallel anwenden, sie analytisch trennen, aber zugleich in ihrem Zusammenwirken beschreiben. Multiperspektivität ist das Thema, in der Theorie der Gesellschaft wie in der Gesellschaft selbst.
Trennlinien in der Soziologie der Gegenwart
Andreas Reckwitz unterscheidet zunächst zwei grundlegend unterschiedliche Verständnisse von Theorie. Theorie als System stellt vom Allgemeinen her kommend ein Begriffssystem mit eindeutigen Definitionen, Prämissen und Schlussfolgerungen auf, das in sich geschlossen ist. Theorie als Werkzeug hingegen kommt nicht vom Allgemeinen, sondern sucht an konkreten sozialen Erscheinungen begriffliche Werkzeuge für weitere empirische Forschung zu gewinnen. Für den ersten Ansatz stehen die Klassentheorie von Marx und Engels sowie die Differenzierungstheorie von Parsons und Luhmann - und in der Folge die Systemtheorie, die ja mit "Theorie als System" schon begrifflich angesprochen ist. Für den Ansatz Theorie als Werkzeug stehen exemplarisch die verstehende Soziologie Max Webers und viele zeitgenössische Klassiker der Soziologie von Michel Foucault oder Bruno Latour bis hin zu Anthony Giddens oder Luc Boltanski. Auch Hartmut Rosas Plädoyer für den bestmöglichen Deutungsvorschlag (Best Account) als Leitstern soziologischer Forschung ordnet sich in diesen Werkzeugansatz ein.
Rosa macht in seinem Beitrag dann auch deutlich, wo die Unterschiede liegen. Kurz referiert: Während Klassenanalyse und Systemtheorie strukturalistisch vorgehen und einen Zugang in der Perspektive der dritten Person suchen, fußen an sozialen Handlungen interessierte Ansätze hingegen auf der Perspektive der ersten Person. Hier geht es um die kulturellen Antriebskräfte, die aus den Selbstdeutungen der Akteure resultieren. Und diese Selbstdeutungen stehen im Blickpunkt. Welcher Zugang gewählt wird, also ob über etwas gesprochen wird oder in der Perspektive der beteiligten Personen, hat Folgen.
Rosa: "Es ist nicht möglich, aus der strukturellen und institutionellen Verfassung einer sozialen Formation, die man in der Perspektive der dritten Person beschreiben und analysieren kann, ein Verständnis sozialer Bewegung und sozialer Dynamik zu gewinnen." Diese Antriebsenergie sei wiederum "nur aus dem kulturellen Hintergrund erschließbar, nämlich aus den Ängsten und Hoffnungen oder Begehrungen der Akteure - und damit aus der Perspektive der ersten Person". Und die versuche er, so Rosa "so ernsthaft wie möglich" einzunehmen. Die Systemtheorie hingegen könne "nur immer wieder darauf verweisen, dass die moderne Gesellschaft nun einmal komplex, differenziert und multiperspektivisch sei und dass jedes Subsystem seinem eigenen Code folge". Das sind grundsätzliche Differenzen, und so verwundert es nicht, dass in den Sozialwissenschaften die Suche nach dem "Best Account" nicht zu dem erwünschten Ergebnis geführt hat, wie Rosa eingesteht.
Nur - warum sollte es der Gesellschaftstheorie besser ergehen als der Gesellschaft selbst - auch sie muss ja damit zurechtkommen, dass es eine Zentralperspektive und eine verbindende Deutung nicht mehr gibt. In diese Richtung denkt auch Reckwitz, wenn er am Ende seines Beitrags für eine "theoretische Mehrsprachigkeit" plädiert. Multiperspektivität also auch auf dem (weiten) Feld der Theorie. Auch der Vorschlag Hartmut Rosas für einen Best Account zielt in diese Richtung: Soziologische Forschung müsse "die Perspektive der ersten und die der dritten Person parallel einnehmen und die beiden Seiten analytisch unterscheiden, dabei aber sowohl in ihrem Eigensinn als auch in ihrem Zusammenwirken und in ihrer Verschränkung untersuchen". Und wenn nicht alles täuscht, zielt Nassehis Buch zum Beispiel mit einer Fallstudie zur Palliativmedizin eben in diese Richtung.
Zur neuen Perspektivenvielfalt passt es, dass das dritte Buch, um das es nun geht, wiederum eine andere Blickrichtung eröffnet.
Die Sache mit der Kontingenz
In einer Welt in schnellem Wandel, einer Welt, die zunehmend komplex, unbestimmt und uneindeutig erscheint, wird Kontingenz zu einem zentralen Begriff. Kontingenz, das heißt: Es könnte auch anders sein. Kontingenz identifiziert Christian Schuldt, Soziologe, Systemtheoretiker und Studienleiter am Zukunftsinstitut, als bestimmendes Strukturmerkmal der heraufziehenden nächsten Gesellschaft, die sich vor allem durch ihre hochgradige Vernetzung auszeichnet. Das bedeutet, dass es kein Zentrum, keine zentrale Perspektive, keine Deutungshoheit und keine verbindliche, allgemeingültige Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit mehr gibt. Anknüpfend an Niklas Luhmanns Systemtheorie und diese weiterführend beschreibt Schuldt die neue Dimension von Kontingenz, die sich in der nächsten Gesellschaft auftut.
Gesellschaftstheorie ist also auch das Thema von Schuldts neuem Buch - allerdings auf einer anderen Ebene als in den beiden oben vorgestellten Titeln: Es geht nicht um Theorievergleich und um metatheoretische Einordnung, sondern um die Darstellung und Weiterführung einer bestimmten Theorie, nämlich Luhmanns Systemtheorie. Diese bildet den Ausgangspunkt für Schuldts Überlegungen. Damit bietet das Buch keine grundlegende Einführung in das soziologische Denken über Kontingenz, sondern behandelt Kontingenz in dem von Luhmann gesteckten Rahmen.
Wer indes mehr zum Begriff der Kontingenz in der Soziologie ganz allgemein wissen will, wird wiederum bei dem genannten Buchbeitrag von Andreas Reckwitz fündig. Der nämlich begreift Kontingenz als grundlegendes Kennzeichen der Moderne. Deren Entstehung gehe einher "mit einem elementaren Kontingenzbewusstsein", immer verbunden mit der Grundidee der Gestaltbarkeit, Veränderbarkeit und Steuerbarkeit der sozialen Welt. "Soziales kann in der Moderne also nicht nicht kontingent sein", schreibt Reckwitz. Die Entwicklung der Moderne beschreibt er als Prozess der Kontingenzöffnung und -schließung, also einer Schaffung und Einschränkung von Möglichkeiten, einen Prozess, der auch den Übergang von der industriellen Moderne zur Spätmoderne beginnend im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts charakterisiert. Spätmoderne in der Krise lautet ja auch der Buchtitel.
Schuldt hingegen geht von einer neuen Öffnung des Kontingenzraums, einer Ausweitung der Kontingenzzone im Übergang zur nächsten Gesellschaft aus. Er identifiziert damit einen kommenden Strukturbruch, den er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt.
Zentral wird: Kontingenzvertrauen
Diese nächste Gesellschaft entwickle eine neue Dimension von Kontingenz: "Das Prinzip der Kontingenz prägt sämtliche Lebens- und Arbeitswelten, mit unmittelbaren praktischen Konsequenzen für Organisationen und Staaten sowie für jedes einzelne Individuum." Der Krisenmodus werde gleichsam zum Normalzustand, schreibt Schuldt, Dirk Baecker zitierend: "Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist." Kontingenz wird damit zur elementaren Erfahrung der nächsten Gesellschaft.
Die Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit der Gesellschaft ist auch für Schuldt zentral. Sein Thema ist die "schöpferische Kraft der Kontingenz". Ihn bewegt die Frage "Was hält eine Gesellschaft, die heterogen vernetzt und damit auch zunehmend ‚exkludierend‘ ist, überhaupt noch zusammen?". Seine Antwort: Entscheidend für eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts werde "ein systemisches Gesellschaftsverständnis". Und das verlangt vor allem einen anderen Umgang mit Komplexität und Kontingenz: verlangt, diese ernst zu nehmen.
Kontingenz ernst zu nehmen bedeutet, die Gesellschaft als Möglichkeits- und Gestaltungsraum zu begreifen. Und es setzt voraus, mit Komplexität angemessen umgehen zu lernen: sie zuzulassen und aufzubauen statt sie bekämpfen oder reduzieren zu wollen. Schuldt mahnt: "Lerne, mit diesem Komplexitätsaufkommen umzugehen. Lerne, die vernetzte Komplexität adäquat und zukunftsweisend zu verstehen und zu kontrollieren." Es gehe darum, "eine Kultur für Komplexität zu etablieren". Zentral wird: "Kontingenzvertrauen".
Dieses ist Voraussetzung dafür, die Erweiterung des Kontingenzraums, die mit dem Anwachsen von Komplexität einhergeht, als Chance begreifen zu lernen. Also "den Verlust an Planbarkeit, Orientierung und Sicherheit nicht allein als Risiko oder Bedrohung zu verstehen, sondern auch als eine historische Möglichkeit zum Entdecken und Gestalten alternativer, lebenswerterer und zukunftsfähigerer Wirklichkeiten."
Kontingenz, die Schwester der Komplexität
Gefragt ist also ein Lernprozess, ein grundlegender Perspektivwechsel. Das setzt voraus, zwischen Komplexität und Kontingenz hin und her wechseln zu können. Vielleicht lassen sich die Zusammenhänge so beschreiben: Zunahme von Komplexität bedeutet zunächst einmal einen Verlust an Planbarkeit, Orientierung und Sicherheit. Dass alles anders sein könnte - kontingent also -, kann ebenso durchaus als bedrohlich erscheinen. Aber diese Kontingenz öffnet auch einen Raum neuer Möglichkeiten. Wobei die Zunahme der Zahl von Möglichkeiten wiederum nur ein anderer Ausdruck für wachsende Komplexität ist. Kontingenz wäre dann so was wie die Schwester der Komplexität.
Vielleicht lassen sich Komplexität und Kontingenz als zwei Seiten einer Medaille begreifen oder als zwei Gesichter, die jeweils unterschiedliche Blickrichtungen eröffnen. Ähnlich wie Janus, der zweistirnige Gott in der römischen Mythologie, dessen zwei Gesichter die Dualität symbolisieren sollten, verstanden nicht als Gegensatz, sondern als zwei Möglichkeiten. Nicht im Sinne eines Entweder-oder also, sondern eines Sowohl-als-auch.
Wo die Perspektiven so auseinanderdriften, scheint es unmöglich, so etwas wie ein Fazit ziehen zu wollen. Außer vielleicht dieses: Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze zeigen deutlich, welche Bedeutung Begriffe wie System, Komplexität, Kontingenz, Perspektive für die Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben. Sie sind Schlüsselbegriffe eines zeitgemäßen Weltverständnisses. Und kennzeichnen zugleich auch die Lage auf dem Feld der Theorie, wo längst auch Multiperspektivität bestimmend geworden ist.
Zitate
"Die Gesellschaft nutzt ihre Eigenkomplexität zur Lösung von Problemen - und sie stößt gleichzeitig an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität. Das meint Überforderung mit sich selbst." Armin Nassehi: Unbehagen
"Wenn es nicht gelingt, die fast ausschließliche Konzentration auf die Sozialdimension und die alleinige Politisierung von Problemen zu überwinden, wird es auch nicht gelingen, den für die Lösung von Problemen notwendigen Komplexitätsgrad zu erreichen." Armin Nassehi: Unbehagen
"Die gesellschaftliche Moderne tritt gewissermaßen in eine Phase, in der nicht nur die Funktionslogiken auseinandertreten, sondern in der die Folgen dieses Auseinandertretens selbst zum Thema von Entscheidungsformen und -alternativen werden müssen." Armin Nassehi: Unbehagen
"Die Gesellschaftstheorie liefert also eine komplexe und systematische Interpretationsweise, um die chaotische Fülle der gesellschaftlichen Tatsachen in ihrer Gesamtheit zu begreifen." Andreas Reckwitz, in: Spätmoderne in der Krise
"Es scheint mir sinnvoll, idealtypisch zwei metatheoretische Verständnisse von Theorie zu unterscheiden: Theorie als System und Theorie als Werkzeug." Andreas Reckwitz, in: Spätmoderne in der Krise
"Soziales kann in der Moderne also nicht nicht kontingent sein." Andreas Reckwitz, in: Spätmoderne in der Krise
"Es ist nicht möglich, aus der strukturellen und institutionellen Verfassung einer sozialen Formation, die man in der Perspektive der dritten Person beschreiben und analysieren kann, ein Verständnis sozialer Bewegung und sozialer Dynamik zu gewinnen." Hartmut Rosa, in: Spätmoderne in der Krise
"Die zeitgenössische Systemtheorie kann nur immer wieder darauf verweisen, dass die moderne Gesellschaft nun einmal komplex, differenziert und multiperspektivisch sei und dass jedes Subsystem seinem eigenen Code folge." Hartmut Rosa, in: Spätmoderne in der Krise
"Eine Formationsanalyse im Sinne des Best Account … muss die Perspektive der ersten und die der dritten Person parallel einnehmen und die beiden Seiten analytisch unterscheiden, dabei aber sowohl in ihrem Eigensinn als auch in ihrem Zusammenwirken und in ihrer Verschränkung untersuchen." Hartmut Rosa, in: Spätmoderne in der Krise
"Das Prinzip der Kontingenz prägt sämtliche Lebens- und Arbeitswelten, mit unmittelbaren praktischen Konsequenzen für Organisationen und Staaten sowie für jedes einzelne Individuum." Christian Schuldt: Ausweitung der Kontingenzzone
"Was hält eine Gesellschaft, die heterogen vernetzt und damit auch zunehmend ‚exkludierend‘ ist, überhaupt noch zusammen?" Christian Schuldt: Ausweitung der Kontingenzzone
"Lerne, mit diesem Komplexitätsaufkommen umzugehen. Lerne, die vernetzte Komplexität adäquat und zukunftsweisend zu verstehen und zu kontrollieren." Christian Schuldt: Ausweitung der Kontingenzzone
"Ein systemisches Gesellschaftsverständnis ist deshalb auch die zentrale Voraussetzung für eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts in Zeiten zunehmender Spaltungstendenzen." Christian Schuldt: Ausweitung der Kontingenzzone
"Die größte mentale Herausforderung dieser offenen Zukunft besteht darin, die fortschreitende Ausweitung der Kontingenzzone, den Verlust von Planbarkeit, Orientierung und Sicherheit nicht allein als Risiko oder Bedrohung zu verstehen, sondern auch als eine historische Möglichkeit zum Entdecken und Gestalten alternativer, lebenswerterer und zukunftsfähigerer Wirklichkeiten." Christian Schuldt: Ausweitung der Kontingenzzone
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Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?. Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2021, 310 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-518-58775-1
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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